Intrafiktionaler Narrator
Wenn die erzählende Person selbst Teil der erzählten Geschichte ist, kann sie als intrafiktionaler Narrator beschrieben werden.
Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, 1955, entstand Eugen Yorks Verfilmung von E.T.A. Hoffmanns vielleicht berühmtester Erzählung Das Fräulein von Scuderi. Das von der DEFA als der staatlichen Filmgesellschaft der DDR initiierte Projekt trägt in moderatem Ausmaß überraschend ‚gesamtdeutsche‘ Züge.
Verfilmungen romantischer Literatur waren, um es vorsichtig zu formulieren, von Haus aus kein Projekt, das einem Staat, der sich am Vorbild der Sowjetunion orientierte, besonders am Herzen hätte liegen können. Die Romantik, die sich im weltliterarischen Vergleich gerade im deutschen Sprachraum – nicht zuletzt als Antwort auf die Revolution im benachbarten Frankreich – markant ausgeprägt hatte, galt der Linken zumal nach der traumatischen Erfahrung des Nationalsozialismus schlicht als „reaktionär“. Literaturtheoretisch kritisierte man im Gefolge von marxistischen Wissenschaftlern wie Georg Lukács (1885–1971) an der Bewegung, dass sie sich nicht entschieden zum Realismus bekannte. An der Oberfläche schien dieses Verdikt auch auf einen Autor wie Hoffmann zuzutreffen, dessen literarische Welt den Eindruck machte, großenteils aus Wiedergängern, Revenants, doppelgängerischen Trugbildern, Fremdlingen anderer, märchenhafter Welten sowie Ereignissen jenseits des diesseitigen raumzeitlichen Kontinuums zu bestehen. Ausgerechnet Lukács aber hatte nun von seiner harschen Verurteilung der Spätromantik unter dem Leitbegriff des Realismus E.T.A. Hoffmann ausgenommen. [1]
Als 1958 eine sechsbändige Werkausgabe des Autors im (Ost-)Berliner Aufbau-Verlag mit einem aspektreichen und überaus positiv gehaltenen Vorwort von Hans Mayer (1907–2001) erschien, spielte der Begriff denn auch eine beherrschende Rolle. Die Wirklichkeitsauffassung Hoffmanns unterscheide sich, so Mayer, deutlich von derjenigen anderer Romantiker, überhaupt sei dieser Mann in seiner künstlerischen Gesamtgestalt als Dichter, Maler und Komponist in keinem Bereich der romantischen Bewegung widerstands- und bruchlos zuzuordnen.[2]
Prof. Dr. Günter Dammann (1941-2021) hat Germanistik und Romanistik studiert, war Literaturwissenschaftler und lehrte lange Jahre an der Universität Hamburg Neuere deutsche Literatur. Er war seit 2006 emeritiert und seine Forschungsschwerpunkte waren das 17. und 18. Jh. sowie der Unterhaltungsroman (→Forscherprofil).
Steht das DEFA-Projekt chronologisch mitten in solchen Auseinandersetzungen um die Haltung der ostdeutschen Kulturpolitik zum Erbe der Romantik, dann ist es zugleich noch Teil einer zweiten Konstellation ganz anderer Art. Seit 1953 setzte ein „Neuer Kurs“ von Einheitspartei und Regierung der DDR vorübergehend wieder stärker auf die Einheit Deutschlands. In diesem Rahmen bekam die DEFA freie Hand für Kooperationen mit westlichen Partnern. In der Bundesrepublik indessen begann man gerade, sich im Vorfeld der sog. Hallstein-Doktrin gegen alle Avancen zu sperren, mit denen ein Bonner Alleinvertretungsanspruch für das gesamte deutsche Volk unterlaufen werden konnten. Der westdeutsche Gesprächspartner der DEFA verfiel daraufhin auf den Gedanken, eine Firma mit Sitz in Stockholm zu gründen, die derartige Koproduktionen formal als solche der DEFA mit Schweden auswies. Als zweites dieser Projekte, die naturgemäß auch für den nicht-sozialistischen Markt konzipiert waren und auf ein breiteres Publikumsinteresse setzten, wurde mit dem Fräulein von Scuderi ein immer noch hochattraktives Werk der deutschen Literaturgeschichte ins Auge gefasst, das zudem als ein Beispiel für den „Realisten“ E.T.A. Hoffmann auch im literaturdogmatischen Herrschaftsbereich eines Georg Lukács wohlgelitten durchgehen konnte.
Literaturempfehlung
Dieser Text ist im Rahmen des Cinefests 2017 entstanden und liegt zusätzlich in einer umfassenderen Variante vor. Das Cinefest 2017 fand vom 18.-26.11.2017 in Hamburg unter dem Titel Zwischen Revolution und Restauration. Kultur und Politik 1789-1848 im Spiegel des Films statt. Veranstalter des jährlichen Filmfestivals sind CineGraph und das Bundesarchiv.
Günter Dammann: Die DEFA und die Romantik. ‚Das Fräulein von Scuderi‘ im Spiegel seiner Kon- und Prototexte. In: Gegenwart historisch gesehen. Kultur und Politik 1789–1848 filmisch reflektiert. Red. von Swenja Schiemann u. Erika Wottrich. München 2018 (Ein CineGraph Buch), S. 110–130.
Regie: Eugen York
Drehbuch: Joachim Barckhausen, Alexander Graf Stenbock-Fermor
Kamera: Eugen Klagemann
Schnitt: Hilde Tegener
Musik: Walter Sieber
Die gesamtdeutsche Orientierung wurde zunächst einmal durch die Verpflichtung des in Hamburg lebenden Eugen York (1912–1991) für die Filmregie unterstrichen, eines Mannes mit UFA-Vergangenheit und in Westdeutschland durch Morituri (1947/48) seriös ausgewiesen. Das Drehbuch schrieben die West-Berliner Autoren Joachim Barckhausen (1906–1978) und Alexander Graf Stenbock-Fermor (1902-1972), ersterer in seiner Karriere vor 1945 nicht durch linke Positionen aufgefallen, letzterer ein Angehöriger des baltischen Hochadels mit einer bemerkenswerten zeitgeschichtlichen Biographie einschließlich einer Konversion zur marxistischen Linken anfangs der 20er Jahre. Beide Autoren waren schon 1946 durch die DEFA zusammengebracht worden und hatten mehrere gemeinsame Skripte verfasst, darunter auch jenes für die Verfilmung von Honoré de Balzacs (1799–1850) Le Père Goriot (Karriere in Paris, 1951/52). Für die Titelrolle in Das Fräulein von Scuderi engagierte man – ein weiteres Mal demonstrativ gesamtdeutsch – neben mehreren anderen in der Bundesrepublik lebenden Schauspielern und Schauspielerinnen eine der ehemals größten Diven der deutschen Filmgeschichte, die im holsteinischen Ratzeburg wohnende und von der bundesrepublikanischen Branche vollständig vernachlässigte Henny Porten (1890–1960).
Henny Porten: Fräulein von Scuderi
Willy A. Kleinau: Cardillac
Anne Vernon: Madelon
Roland Alexandre: Olivier
Angelika Hauff: St. Croix
Richard Häußler: Miossens
Mathieu Ahlersmeyer: Louis XIV.
Alexander Engel: La Regnie
Hans-Peter Thielen: Degrais
Johannes Arpe: Louvois
Der im Winter/Frühjahr 1955 unter relativ großer Resonanz der Presse zwischen Elbe und Oder im DEFA-Studio zu Babelsberg abgedrehte Film wurde am 27. Juli des Jahres in Ost-Berlin uraufgeführt, Anfang August auf dem Filmfestival Locarno präsentiert und am 24. November 1955 in Wiesbaden schließlich auch für die Bundesrepublik gestartet. Er gilt als die werkgetreueste Version unter den insgesamt drei noch erhaltenen Aufbereitungen (von deren ursprünglich fünf)[3] dieser hoffmannschen Novelle für ein Kinopublikum. Das schließt erhebliche Eingriffe der Drehbuchautoren in die narratologisch komplexe Struktur der „Erzählung aus dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten“ (Hoffmanns Untertitel) nicht aus, die in ihrer literarischen Besonderheit wohl nur auf wenig publikumsattraktive avantgardistische Weise im filmischen Medium nachzubilden gewesen wäre. Aber modifiziert wird auch die bei Hoffmann entworfene rechtliche Problemkonstellation; sie verliert ihre raffiniert widerständigen Züge und erscheint in einfacheren, leichter nachzuvollziehenden Konturen.
Verfilmungen des Fräuleins von Scuderi
Das Fräulein von Scuderi im Taschenbuch für das Jahr 1820 (erschienen bereits Ende 1819) setzt ein mit dem Vortrag eines anonymen Erzählers – ein knappes Jahr nach dem Erstdruck wird er in dritten Band von Hoffmanns vierbändigem Erzählzyklus Die Serapions-Brüder (1820) mit Sylvester identifiziert werden –, der von einer Giftaffäre und einer anschließenden Juwelenraub-Serie im Paris Ludwigs XIV. sowie dem höchst ominösen und beunruhigenden Versuch einer nächtlichen Visite bei der Poetin Magdaleine von Scuderi berichtet. Schon bald kommt der Juwelier René Cardillac in den Blick, der als bester Goldschmied seiner Zeit gilt und auf dessen Arbeiten es die mittlerweile gefürchtete Bande von Raubmördern besonders abgesehen hat. Auch glaubt sich das Fräulein von Scuderi infolge einiger kleiner Ereignisse in die Welt des Verbrechens verstrickt und wird dies alsbald tatsächlich, als Cardillac unversehens ermordet aufgefunden und sein Geselle Olivier Brusson sogleich als Täter verhaftet wird.
Von nun an geht die Rolle des Narrators für teils längere Zeit auf intrafiktionale Personen über. Zum Haupterzähler des letzten Teils avanciert Olivier Brusson, der dem Fräulein im Vertrauen enthüllt, dass sämtliche im Zusammenhang mit Juwelen begangenen Verbrechen und Morde niemand anders als Cardillac zum Urheber hätten, wie dieser denn auch durch sein letztes präsumtives, aber misstrauisch gewordenes Opfer in einem Akt der Notwehr getötet worden sei.
In Brussons Erzähldiskurs wiederum eingelagert ist eine autobiographische Legitimation des Juweliers, mit welcher der Goldschmied seine Untaten aus der pränatalen Disposition begründet, das von ihm hergestellte Geschmeide nicht in fremden Händen wissen zu können. Brusson, über eine Reihe von scheinbar unanfechtbaren und erdrückenden Indizien von der Polizei als Mörder seines Lehrherrn identifiziert, sieht sich zum Schweigen verurteilt, weil er als Verlobter von Cardillacs Tochter Madelon die Braut vor dem schrecklichen Wissen bewahren will, einen vielfachen Mörder zum Vater zu haben. Es gelingt dem Fräulein von Scuderi, die ihrerseits in Olivier Brusson mittlerweile den Sohn ihrer früheren Pflegetochter erkannt hat, den König dazu zu bewegen, den Prozess gegen den jungen Mann niederzuschlagen. Hoffmanns Ludwigs XIV. tut dies tatsächlich wohl, weil der ganze Fall sich zu einer auch politisch heiklen Affäre auswachsen könnte, wenn der bei Hofe angesehene Cardillac als Massenmörder gerichtsnotorisch würde. Brusson indessen, am gewaltsamen Tod seines Lehrherrn gewiss unschuldig, wäre von Rechts wegen schuldig als schweigender Mitwisser eines immer wieder zum Mord schreitenden Verbrechers und darum nach den Gesetzen der Zeit gleichfalls mit dem Tode zu bestrafen gewesen.[5]
Wenn die erzählende Person selbst Teil der erzählten Geschichte ist, kann sie als intrafiktionaler Narrator beschrieben werden.
Die Eingriffe, die nun das Drehbuch von Barckhausen und Stenbock-Fermor in die erzählerische Struktur vornimmt, zielen einerseits darauf, die Verschachtelung der Redeebenen und die z.T. damit verbundene Umkehrung der Zeitabläufe zu normalisieren. Die Ereignisse werden nacheinander so gezeigt, wie sie sich zutragen; einen langen Bericht Olivier Brussons vor dem Fräulein von Scuderi, wie die Novelle ihn kannte, gibt es zwar auch, aber er wird dem Zuschauer nicht als Szene vorgeführt, denn dieser (der Zuschauer) hat die dem Fräulein zu erzählenden Fakten längst mit eigenen Augen, als sie sich zutrugen, gesehen. Weitgehend fehlt die für den Erzählgang der Novelle typische Stimmung aus Unheimlichkeit und Verrätselung; so weiß man bereits nach 30 Minuten, dass die Raubüberfälle, welche die nächtlichen Pariser Straßen unsicher machen, auf das Konto René Cardillacs gehen.
Otto Ludwig
Ludwig wurde am 12. Februar 1813 in Thüringen geboren. Er studierte unter anderem bei Felix Mendelssohn Bartholdy und wendete sich später aber mehr und mehr der Literatur zu. Sein Stil ist als „poetischer Realismus“ bekannt geworden. Ludwig kam früh in Kontakt mit den Werken E.T.A. Hoffmanns, die er Zeit seines Lebens schätzte und selbst bearbeitete. Er starb am 25. Februar 1865 in Dresden.
Die Eingriffe verfolgen andererseits das Ziel, das Auftreten des fiktionalen Personals auf der Bühne der Leser- bzw. Zuschauerwahrnehmung möglichst ausgewogen zu gestalten. Das war bei Hoffmann z. B. im Falle des Grafen Miossens nicht der Fall, der erst wenige Seiten vor Ende der Erzählung ins Spiel kam und sofort mitentscheidend für die Lösung des Handlungsknotens wurde. Im Film hingegen lernen wir ihn früh kennen als denjenigen, der zum Nachfolger bei der Geliebten eines durch Cardillac umgebrachten Kavaliers wird und als solcher regelmäßig präsent ist. Vergleichbares gilt für die Haushälterin des Goldschmieds, die bei Hoffmann sogar nur die Aufwärterin eines Mieters in Cardillacs Haus ist und erst und nur benötigt wird, als es gilt, Olivier Brusson nach des Meisters Tod durch eine wichtige Aussage zu belasten. Mit vielen dieser Eingriffe, die ästhetisch auf eine Poetik der geschlossenen Form zielen, folgen die Filmautoren dabei einem Autor der an Hoffmann anschließenden Generation, dem Vertreter des Poetischen Realismus Otto Ludwig (1813–1865), der in seinem Schauspiel Das Fräulein von Scuderi (1846/47) bereits die komplexe Narration von Hoffmanns Original dramaturgisch aufzulösen versucht hatte.
Ausführliche Informationen zu Otto Ludwig hält die Deutsche Biographie bereit.
An Ludwig orientieren sich Barckhausen und Stenbock-Fermor auch in ihrer Motivation von Cardillacs Verbrechen sowie in der rechtlichen Konstruktion des Falles Brusson.
Hoffmann hatte in seiner Erzählung das wahnhafte Handeln des Goldschmieds aus dem Kern eines sehr alten Motivs des Volksglaubens an die Wirkung eines ‚Versehens der Schwangeren‘ auf das noch ungeborene Kind im Uterus der Mutter hergeleitet. Die germanistische und vor allem die kulturwissenschaftliche Forschung zum Fräulein von Scuderi haben eine Reihe von Belegen für die Modernisierung des Motivs in der zeitgenössischen Medizin beibringen können; deren Erklärungswert bleibt freilich begrenzt, nicht zuletzt weil unter dem Aspekt des Redekriteriums (Fräulein von Scuderi hört Brussons Erzählung dessen, was er wiederum von Cardillac gehört hat) die Verlässlichkeit der Information problematisch wird.
Der Film streicht nun an dieser Stelle radikal die – motivgeschichtlich wie narratologisch – hohe Komplexität der literarischen Vorlage durch. Zum einen vernehmen wir als Zuschauer mit eigenen Ohren Cardillacs Erzählung, die er seinem Gesellen im Beisein seiner eigenen noch lebenden und im Dachgeschoss dahinvegetierenden, dementen Mutter vorträgt. Zum anderen klingt die Geschichte selbst doch deutlich anders: René, der spätere Goldschmied, hat bereits das Alter von vier Jahren erreicht, als sich der Fall ereignet, den Hoffmanns Novelle von der gerade erst schwangeren Mutter berichtet. Der Grundherr, zu dem die Familie Cardillac im Verhältnis der Leibeigenschaft steht, verführt mit einer von Renés Vater, einem Goldschmied, für ihn angefertigten Diamantkette die Mutter. Als der Herr später vor den Augen des Vaters die Kette als „Pfand“ zurückfordert und die Liebesnacht jetzt mit Münzgeld bezahlen will, kommt es zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung, in welcher der Adlige seinen unbewaffneten Untertan kurzerhand ermordet. Der kleine René hat die Szene beobachtet und erleidet das Trauma seines Lebens; in jedem der Kunden, die bei ihm später Schmuck bestellen, sieht er den Verführer seiner Mutter, den es immer wieder zu töten gelte.
Solcher sozialkritisch zugeschärften Variante des Motivs hat, wie gesagt, Otto Ludwig vorgearbeitet, der sich allerdings noch nicht entschließen konnte, das Kind zu einem bereits geborenen zu machen und damit die Kausalität ganz in den Bereich der Rationalität zu heben.
Von der Motivation seiner Verbrechen her wird der Cardillac des Films zu einer durchsichtigeren Gestalt, als es derjenige Hoffmanns war, er ist daher dem Zuschauer auch näher und verständlicher. Diese Tendenz in der Anlage der Figur verstärkt sich noch erheblich durch die Darstellung, die der bravouröse Willy A. Kleinau von ihr gibt. Aufbrausend und potentiell gefährlich, zeigt sich Kleinaus Cardillac aber auch als sorgender Sohn und liebender Vater. Besonders eindringlich wirkt er in den Phasen der Gewissensqualen, in denen – durchaus überraschend für einen Film der DEFA – das Trostangebot des Christentums ein gewisses Gewicht erhält.[4] Religiöse Motive fanden sich auch in der Novelle Hoffmanns, blieben dort aber beiläufig und recht unkonturiert. Eugen Yorks Film gibt seinem Cardillac wenigstens phasenweise eine deutlichere christliche Orientierung.
Die für Das Fräulein von Scuderi entscheidende rechtliche Konstruktion der Causa Brusson war von ausgesuchter Delikatesse. Verhaftet unter dem Vorwurf, seinen nach allgemeiner Ansicht in jeder Hinsicht ehrbaren Meister René Cardillac getötet zu haben, ist der Geselle eindeutig das Opfer eines Justizirrtums. In Hinsicht des gewaltsamen Todes des Goldschmieds unschuldig, ist der junge Mann schuldig allerdings in einem Punkt, dessentwegen ihn nun überhaupt niemand anklagt. Er hat gewusst, dass sein Meister, der Vater seiner präsumtiven Braut, ein Serienmörder war, und hat diese Tatsache nicht zur Anzeige gebracht, obschon von Gesetzes wegen dazu verpflichtet, weil absehbar neue Morde drohten. Hoffmann arbeitet die Konstellation in aller Schärfe heraus, indem er die ausdrückliche Information gibt, zwischen der Entlarvung des Goldschmieds durch Olivier Brusson und dem Tod Cardillacs seien mehrere Monate vergangen. So ist mehr als wahrscheinlich, dass der junge Mann durch sein Schweigen mitverantwortlich für den Tod noch des einen oder anderen neueren Käufers von Schmuck wird. Hoffmann lässt denn auch den über jedes persönliche Interesse erhabenen Advokaten Pierre Arnaud d’Andilly gegen Ende der Erzählung sagen, dass über Brusson, selbst wenn seine von der Justiz behauptete Schuld am Tod des Goldschmieds gerichtsfest widerlegt werden könne, doch wegen seiner Mitwisserschaft in der causa der Juwelenmorde unweigerlich das Todesurteil ausgesprochen werden müsse. Es ist dies die einzig gültige rechtliche Bewertung des gesamten Falles, auch wenn eine große Mehrzahl von Äußerungen germanistischer Provenienz vor allem früherer Jahre dies anders sehen zu müssen meinte.[5]
Hier nun greift der Film entscheidend ein, indem er – ein weiteres Mal dem Vorbild Otto Ludwigs folgend – die erzählte Zeit der Novelle drastisch verkürzt. Er legt außerdem Wert darauf, uns zu zeigen, dass der Geselle den Meister permanent kontrolliert und so jedenfalls subjektiv sicher ist, es werde zu keinem weiteren Mordfall kommen. Die Entscheidung des jungen Mannes, den Schwiegervater in spe nicht den Gerichten anzuzeigen, wirkt für den Zuschauer des Films erheblich weniger kriminell, als sie das trotz der Verkürzung der Delinquenz auf vielleicht zwei oder drei Tage objektiv in der Rechtswirklichkeit ihrer Zeit wohl immer noch war. Tatsächlich ist der einzige Angriff, der noch erfolgt, derjenige auf den Grafen Miossens; dieser hat sich indessen auf die Gefahr eingestellt, ist also vorbereitet und tötet, statt ermordet zu werden, seinerseits den Goldschmied in Notwehr. Mithin darf man jetzt, statt Brusson in der einen Sache für unschuldig, in der anderen hingegen für schuldig zu halten, wohl mit gewissem Recht von seiner weitgehenden Unschuld sprechen.
Das hat Auswirkungen auf das Bild der Instanzen des Rechts, wie sie sich im Film präsentieren. Sie erscheinen, da sie offensichtlich falsch handeln, erheblich negativer als in Hoffmanns Novelle. Sowohl ein frühes Gespräch unter vier Augen zwischen dem Minister Louvois und seinem obersten Strafverfolger La Regnie als auch eine spätere Szene, in der La Regnie seinen Capitain Degrais ermuntert, Olivier Brusson bei der ersten sich bietenden Gelegenheit vorsorglich festzunehmen, zeugen von einer Skrupellosigkeit der Strafverfolgung, die sich in Hoffmanns originaler Erzählung so nicht findet.
Das Fräulein von Scuderi verliert in dem Film, der ihren Namen trägt, die ihr in der Vorlage zukommende wesentliche erzählstrukturelle Bedeutung, gleich eingangs in einer nächtlichen Szene schauerlichen Zuschnitts als potentielle verfolgte Unschuld der Katalysator für Spannung im Lektüreprozess zu sein. Stattdessen wird sie – auch dies in Abweichung von Hoffmann – konsequent als Hofpoetin dargestellt. Wir sehen sie vornehmlich als Theaterautorin und Opernregisseurin. Dass ihre Kunst dabei eine Kunst zum höheren Ruhm Ludwigs XIV. sein will, steht für den Film im Dienst der Geschichte, die er erzählt. Das Wohlwollen, das Fräulein von Scuderi sich durch ihre auf den Hof ausgerichtete künstlerische Arbeit erworben hat, sichert ihr ein geneigtes Ohr beim König, als sie sich anschickt, in einer spontan beanspruchten Audienz für die Entlassung Brussons aus der Haft und die Niederschlagung des ganzen Verfahrens zu werben, damit eine öffentliche Bloßstellung Cardillacs als eines Massenmörders vermieden werde.
Henny Porten
Die 1890 geborene Henny Porten war eine der ersten großen deutschsprachigen Filmschauspielerinnen und Star des Stummfilms. Nachdem sie während der NS-Zeit aufgrund der Ehe mit ihrem jüdischen Mann nur noch wenige Filmrollen erhielt, konnte sie auch nach Kriegsende nicht mehr Fuß fassen. Ein ausführliches Porträt inkl. Filmografie bietet filmportal.de.
Einen Freispruch erster Klasse und ein wirkliches Happy-End hat das Fräulein allerdings nicht zustande gebracht. Der König ordnet an, Brusson müsse mit seiner Braut, der Tochter des Goldschmieds, Paris am nächsten Morgen verlassen, damit „Gras über diese Geschichte wachsen“ könne. Für das in der Tat unbestreitbare Unbehagen, dass man es während der gesamten Filmhandlung mit auf verschiedene Weise zweifelhaften Vorgängen zu tun habe, findet der Film eine einprägsame Allegorisierung: Er loziert seine Erzählung von der ersten bis zur letzten Episode auf von Schnee überzogenen Schauplätzen. Wenn im Schlussbild das abreisende Paar in die winterlich dunkle Landschaft hinausfährt, darf man sich durch den Kopf gehen lassen, wie der Alltag zwischen Eheleuten aussehen mag, deren Sinnhorizont durch eine derart gigantische Lebenslüge wie dem Verschweigen der Taten des Vaters vor der Tochter niemals ein gemeinsamer wird werden können.
Nicht wenig wirkt sich die unheldische Ausgestaltung der Rolle des Fräuleins von Scuderi nun allerdings auf den Eindruck aus, den Henny Porten in dem Film macht, dessen Star sie doch ist. Sie ist immer souverän präsent, strahlt aber keinen Glanz aus. Damit verkörpert sie andererseits in gewisser Hinsicht das stilistische Profil von Yorks Arbeit. Der Film orientiert sich deutlich am Modell des klassischen UFA-Films oder auch der Hollywood-Produktionen aus gleicher Zeit. Eine Szenographie, die so gut wie ausschließlich auf Studiobauten setzt, ein folglich immer geschlossen, manchmal eng wirkender Raum, ferner große Sorgfalt und Qualität in Ausstattung und Kostümen sowie nicht zuletzt eine klare episodische Gliederung der Narration durch Schwarzblenden sind lauter Zeichen, dass hier ein auf kulturpolitische Repräsentativität zielendes Projekt der Verfilmung eines Klassikers der deutschen Literatur angestrebt wurde.
Die Aufnahme des im Erstaufführungskino ‚Babylon‘ gestarteten Films in der Presse war zwiespältig, aber im Tenor positiv. Zwiespältig musste Das Fräulein von Scuderi durch die Filmkritik der frühen DDR notwendig aufgenommen werden, weil das Werk eines Romantikers zugrunde lag, selbst wenn mehrfach anerkannt wurde, dass es sich bei Hoffmann um einen vergleichsweise scharfen Kritiker der Gesellschaft seiner Zeit handle. In dieser Hinsicht hatte im Übrigen der Pressedienst der DEFA vorgearbeitet, der in Hoffmanns Erzählung die Scuderi als einsame Lichtfigur über dem Sumpf des Pariser Lebens und Sprecherin des Autors erkennen wollte. Deutlich bestimmen Kategorien des Sozialistischen Realismus dieses Verständnis der Novelle und dann die Rezensionen des Films. Als Pendant des positiven Helden, der selbstverständlich auch weiblich sein kann, ist der negative Antagonist erforderlich; da der im vorliegenden Falle nur René Cardillac heißen kann, stößt die Entscheidung der Drehbuchautoren, aus dem Goldschmied ein bemitleidenswertes Opfer der feudalen Grundherrschaft zu machen, auf einhellig kompromisslose Kritik. Mit großer Befriedigung registriert man indessen, damit die Medienresonanz während des Beginns der Dreharbeiten erneut aufgreifend, dass der mit einer schwedischen Filmgesellschaft koproduzierte und mit Schauspielern aus beiden Teilen Deutschlands, aus Frankreich und Schweden besetzte Film eine gelungene Produktion der staatseigenen DEFA geworden sei. – In der Bundesrepublik hat das Werk kaum Rezensenten gefunden. In Schweden, dem Sitz der koproduzierenden Firma A. B. Pandora Film, wurde Das Fräulein von Scuderi erst gar nicht im Kino gezeigt.
[1] Siehe Georg Lukács: Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur. Berlin [Ost] 1953, S. 57.
[2] Hans Mayer: Die Wirklichkeit E.T.A. Hoffmanns. Ein Versuch. In: E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke. 6 Bde. Berlin [Ost] 1958, Bd. 1, S. V–LV, bes. S. XLII–XLVIII.
[3] Siehe hierzu Klaus Kanzog: Reflexe der Werke E.T.A. Hoffmanns im Film. In: E.-T.-A.-Hoffmann-Jahrbuch 17 (2009) S. 155f.
[4] Siehe die Szene, die den Goldschmied in der Dachkammer seines Hauses am Tisch neben seiner Mutter zeigt, den Kopf gesenkt und in die Hand gestützt (58’50’’–60’2’’).
[5] Nicht selten drückt sich das darin aus, dass die Tatsache von Brussons Mitwisserschaft stillschweigend übergangen wird. Geschieht dies nicht, räumt man also ausdrücklich ein, Olivier treffe „zwar die Schuld der Mitwisserschaft an einigen Morden“, dann wird dieser Fleck auf seinem Bild sogleich halb wieder ausgewischt mit der vagen Formel, der junge Mann habe „mehrfach versucht, deren Ausführung zu verhindern“; grundsätzlicher noch aber kommt es vielen Vertretern der Literaturinterpretation darauf an, „Rechtsfindung und Rechtsprechung“ eher im Lichte einer „auf Intuition und Mitgefühl aufbauenden Menschlichkeit“ zu sehen statt ihre Regeln der „Rationalität“ anzuvertrauen (Zitate aus dem einschlägigen Arbeitsbuch zum Autor Brigitte Feldges u. Ulrich Stadler: E.T.A. Hoffmann. Epoche – Werk – Wirkung. München 1986, S. 161f.)