Lingua franca
Themen und Motive der Schauerliteratur gehören zu einer lingua franca, d.h. sie sind international verbreitet und bekannt.
Das Genre Schauerroman
Über die Rolle englischsprachiger Literatur im Werk E.T.A. Hoffmanns nachzudenken, heißt, sich mit internationalen Übertragungs- und Vermittlungsphänomenen in der Literatur um 1800 auseinanderzusetzen. Dies zunächst ganz einfach deshalb, da Hoffmann kein Englisch sprach, und die entsprechenden Texte daher nur in deutscher Übersetzung lesen konnte. Darüber hinaus rückt für das intertextuelle Spiel mit englischsprachigen Texten in Hoffmanns Werk die Ebene der kulturellen und gesellschaftlichen Vermittlung, die jede Übersetzung auszeichnet, in gesteigertem Maße ins Zentrum, da es sich bei den für Hoffmann besonders wichtigen englischsprachigen Autoren, William Shakespeare und Laurence Sterne, um grenzübergreifende Phänomene der europäischen Literatur und Kultur handelt.
Im Rahmen der Populärliteratur ist der Schauerroman, ein für das Werk Hoffmanns so wichtiges Genre, ebenfalls keine vom Ärmelkanal säuberlich getrennte, einerseits deutsche, andererseits britische Erscheinung, sondern im Gegenteil ein literarisches Vehikel des deutsch-britischen Kulturtransfers, an dem Hoffmann sich aktiv beteiligt. Hoffmanns Verhältnis zu seinem Zeitgenossen Sir Walter Scott schließlich steht beispielhaft und ganz unmittelbar im Zeichen solcher Übertragungsphänomene, geht es hier doch nicht nur um die Rivalität zweier Schreibweisen, die auf europäischer Bühne um die Gunst des Lesepublikums werben, sondern gleichzeitig um Fragen des Verhältnisses von Literatur und Geschichte, sowie um die Verhandlung dessen, was “gesunder” Verstand und “guter” Geschmack auf dem Gebiet des literarischen Ausdrucks erlauben – eine Diskussion, die für die Rezeption von Hoffmanns Texten im späteren neunzehnten Jahrhundert und deren zukünftige Wirkung auf die internationale Literatur entscheidend werden sollte.
Insgesamt zeigt der nähere Blick auf Hoffmanns Verhältnis zur Literatur der britischen Inseln, wie zentral englische Texte in deutscher Übersetzung für die Entwicklung von Hoffmanns Poetologie und narrativer Praxis waren. Um dem “Gespensterhoffmann” die Ehre zu geben, soll im folgenden Versuch, dies zu verdeutlichen, der Fall des Schauerromans den Anfang machen.
Alexander Schlutz lehrt als Associate Professor am John Jay College und am CUNY Graduate Center in New York (USA). Er studierte Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Anglistik und Romanistik in Bonn, Tübingen und Seattle (WS/USA). Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Philosophie der Romantik sowie die Beziehung zwischen Literatur und Ökologie. (→Forscherprofil)
Hoffmann sprach kein Englisch
Dafür, dass trotz dieses sprachlichen Hindernisses Hoffmanns Rezeption der englischsprachigen Literatur ein lohnenswertes Thema darstellt, argumentierte Wulf Segebrecht bereits 1984. Segebrechts Versuch, ein fruchtbares Feld für die Hoffmann-Forschung zu erschließen, stieß seitdem jedoch auf relativ wenig Echo. Siehe Segebrecht, Wulf: E.T.A. Hoffmann and English Literature. In: Gish, Theodore G. und Sandra G. Frieden (Hg.): Deutsche Romantik and English Romanticism. Papers from the University of Houston Third Symposium on Literature and the Arts “English and German Romanticism: Cross-Currents and Controversy.” München 1984, S. 52-66. Für eine deutsche Fassung des Artikels siehe Segebrecht, Wulf: Hoffmann und die englische Literatur. In: Wulf Segebrecht. Heterogenität und Integration. Studien zu Leben, Werk und Wirkung E.T.A. Hoffmanns. Frankfurt a. M. 1996, S. 183-201.
William Shakespeare (1564–1616)
Laurence Sterne (1713–1768)
Walter Scott (1771–1832)
Matthew Gregory Lewis (1775–1818)
Themen und Motive der Schauerliteratur gehören zu einer lingua franca, d.h. sie sind international verbreitet und bekannt.
Während der englische Schauerroman (the Gothic novel) in der anglo-amerikanischen Literaturwissenschaft seit längerer Zeit beständige und intensive Aufmerksamkeit aus den verschiedensten theoretischen Perspektiven erhält, ist der deutsche Schauerroman weiterhin eher ein Stiefkind der Forschung, das als isoliertes Phänomen der 1790er Jahre erscheint und unter dem Etikett der Trivialliteratur leidet. Das ist unter anderem deshalb zu bedauern, weil der Schauerroman, ebenso wie die sich mehr oder weniger zeitgleich entwickelnde Romantik, kein nationales, sondern ein internationales Phänomen ist, und die wohlbekannten Themen und Motive der Schauerliteratur zu einer lingua franca gehören, die für ein schier unersättliches Lesepublikum auf beiden Seiten des Ärmelkanals (und des Atlantiks) das “Frösteln” produzieren, “das man bei einer lebhaft dargestellten Gespenstergeschichte empfindet und das man so gern hat,” um Theodor in Hoffmanns Das Majorat das Wort zu geben.[1]
Meist sind bereits kurz nach dem Erscheinen des englischen oder deutschen Originals gleich mehrfache Übersetzungen erhältlich, die oft ihren Status als Übersetzung verbergen und sich als Originale generieren, so dass durchaus Verwirrung darüber herrschen kann in welcher Sprache der ursprüngliche Text eigentlich abgefasst war, zumal die Originale selbst sich oft als Übersetzungen aus dem Deutschen oder Englischen präsentieren, um den nötigen “Sicherheitsabstand” zu ihrem reißerischen Inhalt zu produzieren.
Etikett der Trivialliteratur
Zwei wichtige, von Barry Murmane und Andrew Cusack herausgegebene, Sammelbände mit Beiträgen der internationalen Forschung, Populäre Erscheinungen, Der deutsche Schauerroman um 1800. München 2011 und Popular Revenants. The German Gothic and Its International Reception, 1800-2000. Rochester, NY 2012 suchen dieses Bild zu korrigieren. Grundsteine zur intensiveren wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem deutschen Schauerroman sucht auch Patrick Bridgewater’s The German Gothic Novel in Anglo-German Perspective. Amsterdam 2013 zu legen, so dass das akademische Blatt möglicherweise im Begriff ist, sich zu wenden. Zur Rehabilitierung des Schauerromans im internationalen und philosophischen Kontext siehe auch Marshall Brown The Gothic Text. Stanford 2005, zur Beziehung zwischen deutschem und französischen Schauerroman Daniel Hall French and German Gothic Fiction in the Late Eighteenth Century. Bern 2005.
Verwirrung zwischen Original und Übersetzung
Für einen näheren Blick auf diese “Übersetzungseffekte” siehe z.B. Daniel Hall, “The Gothic Tide: Schauerroman and Gothic Novel in the Late Eighteenth Century.” In: Stark, Susanne (Hg.): Cultural Cross-Currents and Affinities. Papers from the Conference held at the University of Leeds from 15 to 17 September 1997. Amsterdam 2000, S. 51-60 und Hartmut Steinecke, “Britisch-deutsche Romanlektüren im frühen neunzehnten Jahrhundert – Hoffmann und Scott zum Beispiel.” In: Ebd., S. 103-16.
Solche Grenzverwischungen hebt Hoffmann in der gerade zitierten Szene in Das Majorat ganz bewusst hervor. Ist hier Theodor von seiner Lektüre von Schillers fragmentarischem Schauerroman Der Geisterseher, bekanntlich ein immenser populärer Erfolg, so eingenommen, dass sich die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Gelesenem und Gelebtem auflösen, so geschieht dasselbe auf der Ebene der sogenannten “Nationalliteratur.”
Das Romanfragment erschien zunächst 1787-1789 als Fortsetzungsgeschichte in der Zeitschrift Thalia.
Parallelen & Anspielungen
Denn für Fans des Schauerromans wie Theodor weist sein Name unmittelbar auch auf den “Ur-text” des Genres, den ersten Schauerroman, Horace Walpole’s The Castle of Otranto von 1764 zurück, in dem der rechtmäßige Erbe von Otranto ebenfalls Theodor heißt. Für den Fall, dass jemand diese Namensverwandtschaft übersehen haben sollte, wird kurz darauf eines der Ahnenporträts im Rittersaal zu R…sitten lebendig, und beginnt mit Geisterstimme zu sprechen, um so eines der motivischen Versatzstücke der Schauerliteratur zu wiederholen, das ebenfalls in Walpoles Roman eingeführt wird.
In Hoffmanns imaginärem Rittersaal gehören Schiller und Walpole gleichermaßen in die höchst lebendige Ahnengalerie, und Hoffmann mag sich hier augenzwinkernd selbst als rechtmäßigen Erben ins Stammbuch des europäischen Schauerromans einschreiben, für dessen literarisches Weiterleben bis ins 21. Jahrhundert hinein seine Texte zentral werden sollten.
Mit dem Roman begründete Walpole
das Genre der Gothic Novel.
In diese Galerie wiedergehender Bilder gehört natürlich auch Matthew Gregory Lewis’ Sensationserfolg The Monk (1794), ein Roman, den Hoffmann möglicherweise in einer Übersetzung von Friedrich von Oertel von 1797 las (Übertragungsprobleme), und der bekannterweise zu den wichtigsten Quellen für Hoffmanns Erstlingsroman Die Elixiere des Teufels gehört, in dem zum Leben erwachende Bilder eine besonders entscheidende Rolle spielen (Interkultureller Dialog).
The Monk: Übertragungsprobleme
Für The Monk ergeben sich besondere Übertragungsprobleme, da zum Einen Lewis selbst seinen Roman ab der vierten Auflage von 1798 von den für das zeitgenössische Publikum besonders anstössigen, für pornographisch und blasphemisch erklärten, Stellen “säuberte,” zum Anderen da mehrere deutsche Übersetzungen beider Versionen, in teilweise dem Original getreuen, teilweise in höchst freien Variationen entstanden. Von Oertels vor der “Reinigung” entstandene, dem Original nahe Übersetzung ist die wahrscheinlichste Quelle für Hoffmanns Lektüre. Siehe Wolfgang Nehring. “Gothic Novel und Schauerroman. Tradition und Innovation in Hoffmanns Die Elixiere des Teufels.” In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch 1 (1992-93), S. 36-47, 38. Für eine Detailanalyse der “Übersetzungsverluste” in einer moralisch gereinigten deutschen Fassung von Lewis’ Roman, siehe Gabrielle A. Wittig Davis. Der Mönch or: A Moral Point of View. In: Deutsche Romantik and English Romanticism, 6-16.
The Monk: Interkultureller Dialog
Lewis’ Monk macht den interkulturellen Dialog zwischen deutscher und englischer Literatur im Rahmen des Schauerromans besonders deutlich. Lewis, 1792-93 zum Zwecke des Sprachstudiums in Deutschland, traf in dieser Zeit Goethe und Wieland und machte in seinem Schauerroman ein breites englisches Lesepublikum mit den Themen und Ideen des deutschen Sturm und Drangs bekannt. Zu Lewis’ vielen Quellen gehören auf deutscher Seite Goethes Faust-Fragment, Schiller’s Geisterseher, Bürger’s Lenore, und Herder’s Der Wassermann ebenso wie Lorenz Flammenberg’s Der Geisterbanner und Veit Weber’s Die Teufelsbeschwörung. Wenn Hoffmann 1814, als er mit der Arbeit an den Elixieren beginnt, den Ball wieder aufnimmt, beteiligt er sich an einem intertextuellen Spiel das keine Nationalgrenzen kennt.
The Monk: Spuren in Hoffmanns Erzählung "Rat Krespel"
Siehe Nehring. “Gothic Novel und Schauerroman,” 39. Spuren des Monk finden sich auch in Hoffmanns Erzählung “Rat Krespel,” ein weiterer intertextueller Bezug der deshalb besonders bemerkenswert ist, da Krespel zusammen mit der Figur des Einsiedlers Serapion ein poetologisches Duo darstellt, über das Hoffmann die gesammelten Erzählungen in Die Serapionsbrüder einleitet. Hätte Hoffmann Lewis’ Roman für “trivial” gehalten, wäre eine Wiederholung narrativer Stränge des Monk an derart exponierter Stelle äußerst unwahrscheinlich. Siehe William Chrisman. “Romanticism Repays Gothicism: E.T.A. Hoffmann’s ‘Councillor Krespel’ as a Recovery of Matthew G. Lewis’s ‘The Monk.’” In: Comparative Literature Studies 40/3 (2003), S. 311-28.
Hoffmann und der Schauerroman
Lewis’ und Hoffmanns Romane sind oft miteinander verglichen worden, meist um Hoffmanns literarische Überlegenheit (die schon Heinrich Heine unterstrich) oder seine größere psychologische Modernität hervorzuheben, und gleichzeitig damit zu demonstrieren, dass Hoffmann sich aus dem Genre des Schauerromans gleichsam herausschreibt, während Lewis diesem verfangen bleibt. Angesichts des Statusverlustes, den der “Gespensterhoffmann” bis ins 20. Jahrhundert hinein in der deutschen Kritik und Literaturgeschichtsschreibung erlitt, sind solche Abgrenzungsversuche verständlich.
Es ist Wolfgang Nehring aber vollkommen darin zuzustimmen, dass alle Versuche, klar zwischen Hoch- und Trivialliteratur, Romantik und Schauerroman zu unterscheiden, letztlich illusorisch sind. Nehring insistiert zu Recht darauf, dass Hoffmann das Genre des Schauerromans in den Elixieren nicht zu transzendieren sucht, sondern explizit weiterschreibt (Spuren in Hoffmanns Erzählung „Rat Krespel“).
Reflexives Schreiben & dessen Wirkung
Will man verstehen, auf welche Art sich Schauerroman und Romantik bei Hoffmann verschränken, braucht man nur die Szene in Betracht zu nehmen, in der Hoffmann Lewis’ Monk als Prätext für die Elixiere direkt thematisiert, denn diese ist ja, ebenso wie Theodors Grenzüberschreitung im Majorat, eine selbst-reflexive Szene des Lesens, in der Hoffmanns Aurelie das Buch entdeckt, dessen Charaktere ihr eigenes Leben direkt bestimmen: Im Zimmer ihres Bruders Hermogen sieht Aurelie ein “fremdes Buch auf dem Tische liegen,” schlägt es auf, und identifiziert es als “ein aus dem Englischen übersetzter Roman: Der Mönch!” Aurelie beginnt zu Lesen und hat sofort die dunkle Ahnung, dass dieses Buch für sie ganz besondere Bedeutung hat.
Aurelie ahnt hier den Zitatcharakter ihrer eigenen Geschichte; und die “dunkle Macht”, von der in den Elixieren sowie in anderen Texten Hoffmanns (und natürlich im Schauerroman allgemein) so viel die Rede ist, ist hier die literarische Sprache und Tradition selbst, in der Motive, Metaphern, Figuren und Narrative vorgegeben sind, die Hoffmanns Charaktere zwanghaft wiederholen müssen. Die Versuche, diesem Schicksal zu entgehen, bleiben aller Selbstreflexion zum Trotz vergeblich, wie Monika Schmitz-Emans anhand von Hoffmanns Geschichte Die Räuber entwickelt, in der sich die Charaktere als Figuren aus Schillers für den Schauerroman ebenfalls besonders wichtiger Tragödie gleichen Titels erkennen, über diese Selbsterkenntnis dem Nachspielen ihrer Rollen aber nicht entrinnen können. So schreibt Hoffmann, während er mit den Motiven der Schauerliteratur spielt, gleichzeitig eine Metapoetik des Schauerromans, die auf die Bedingungen der Möglichkeit der Literatur selbst reflektiert, eine Form der literarischen Selbstreflexion, die Hoffmann von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck übernimmt und in seinen ironischen Erzählungen mit Lust inszeniert. Dabei zwischen “Hohem” und “Niedrigem,” dem Kanonischen und Skandalösen, Fremdem und Eigenem nicht klar zu unterscheiden, ist romantisches Programm.
Metaliterarisches Erzählen und Selbstreflexion
Siehe Monika Schmitz-Emans. “Wiederholung der Wiederholung. E.T.A. Hoffmanns Die Räuber (1820/21) als metaliterarische Erzählung im Kontext der Schauerliteratur.” In: Populäre Erscheinungen, S. 311-25. Zur metaliterarischen Selbstreflexivität von Hoffmanns Charakteren siehe auch Martin Klebes. “That Specter in My Name: Writing and its Mirror Effects in Hoffmann and Poe.” In: Mathäus, Alexander (Hg.): The Self as Muse. Narcissism and Creativity in the German Imagination 1750-1850. Lewisburg, PA 2011, S. 195-216. Zum Unheimlichen der literarischen Sprache bei Hoffmann, siehe Neil Hertz. “Freud and the Sandman.” In: The End of the Line. Essays on Psychoanalysis and the Sublime. New York 1985, S. 97-121.
Friedrich Schiller: Die Räuber
Friedrich Schlegel
Ludwig Tieck
Shakespeare als „Verwandter“ der Deutschen
Bedarf es weiterhin einiger Ausgrabungsarbeiten, den internationalen Schauerroman als Kontext für die deutsche Romantik hervortreten zu lassen, so sind solche Bemühungen unnötig, wo es um das Werk William Shakespeares geht, dessen Bedeutung für die deutsche Literatur und Kultur um 1800 nicht in Frage stehen kann. Aus der Perspektive der Jenaer Frühromantiker und vor allem in der Feder August Wilhelm Schlegels kann das rechte Verständnis Shakespeares geradezu zum Prüfstein des deutschen Charakters werden. “[M]an darf kühnlich behaupten,” schreibt Schlegel 1796 in seinem programmatischen Essay Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters, “dass er nächst den Engländern keinem Volke so eigentümlich angehört wie den Deutschen, weil er von keinem im Original und in der Kopie so viel gelesen, so tief studiert, so warm geliebt und so einsichtsvoll bewundert wird.”
Shakespeare-Rezeption in Deutschland
Für einen ersten Einstieg in dieses umfangreiche Thema, siehe z.B. die Beiträge zur deutschen Shakespeare-Rezeption in Bauer, Roger (Hg.) Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik. Berlin 1988.
August Wilhelm Schlegel
Schlegel, August Wilhelm. Kritische Schriften und Briefe I. Sprache und Poetik. Edgar Lohner (Hg.). Stuttgart 1962, 99. “Nein, er ist uns nicht fremd:” zieht Schlegel wenige Zeilen später die Bilanz, “wir brauchen keinen Schritt aus unserm Charakter herauszugehn, um ihn ‘ganz unser’ nennen zu dürfen.” August Wilhelm Schlegels romantisches Übersetzungsprojekt von Shakespeare’s Dramen, unter der Aufsicht Ludwig Tieck’s 1833 abgeschlossen, sollte sich als autoritativerText letztlich durchsetzen und Shakespeare neben Goethe und Schiller zum deutschen Klassiker werden lassen. Angesichts der (nicht nur über Shakespeare) heiß geführten Debatte zwischen den Frühromantikern in Jena und den “Klassikern” Goethe und Schiller in Weimar, ist diese Entwicklung der Literaturgeschichte von ihrer ganz eigenen Ironie. Siehe hierzu beispielsweise Werner Habicht. “Romanticism, Antiromanticism, and the German Shakespeare Tradition.” In: Tetsuo Kishi, Roger Pringle and Stanley Wells (Hg.): Shakespeare and Cultural Traditions. The Selected Procedings of the International Shakespeare Association World Congress, Tokyo, 1991. Newark, NJ 1994, S. 243-52.
Hoffmanns Shakespeare-Rezeption
Nimmt man den vierbeinigen Bildungsphilister Murr und dessen unreflektierte Einverleibung literarischer Zitate, oder die Klagen Hoffmanns fiktiver Theaterdirektoren über den Geschmack des Theaterpublikums sowie das Literaturverständnis von Schauspielern und Regisseuren zum Indikator, so wird Hoffmann seine Zweifel darüber gehabt haben, wie tief, warm und einsichtsvoll Shakespeare vom deutschen Publikum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts tatsächlich rezipiert wurde. Dem ungeachtet kann an Hoffmanns eigener Verehrung für Shakespeare und seiner ebenso intensiven wie begeisterten Auseinandersetzung mit dessen Dramen in deutscher – zumeist Schlegels – Übersetzung jedoch kein Zweifel bestehen.
Von frühen Briefen an seinen Freund Theodor Hippel bis zum intertextuellen Spiel mit Shakespeares Dramen in den Lebens-Ansichten des Katers Murr[2], von den poetologischen Überlegungen in Nachrichten von den Neuesten Schicksalen des Hundes Berganza zu deren komplexerer Ausführung in Seltsame Leiden eines Theaterdirektors ist Shakespeare aus Hoffmanns schriftstellerischer Theorie und Praxis nicht wegzudenken. So zitiert in Seltsame Leiden beispielsweise der “Graue” in Schlegels Übersetzung den um die Rolle des Löwen bittenden Weber Zettel (Bottom) aus Shakespeares Sommernachtstraum, um einen besonders selbstsüchtigen Bassisten zu karikieren, dessen Arroganz ihm das Leben schwer macht. Kurz darauf ruft er aus: “Heiliger Shakespear! Kanntest du denn meinen Bassisten, als du den herrlichen Zettel schufst der ein Denkzettel ist für alle tolle Faselei arroganter Komödianten!”[3]
Wird der “heilige” Shakespeare, der es ihm erlaubt, seine Leiden mit Humor zumindest zu lindern, dem Grauen in August Wilhelm Schlegels deutscher Übersetzung zugänglich, so ruft seine bewundernd rhetorische Frage Schlegels berühmte Wiener Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur von 1808 ins Gedächtnis. Hier hatte Schlegel in der 26. Vorlesung die von Shakespeare beispielhaft verkörperte “auszeichnende Eigenschaft des im Charakteristischen großen dramatischen Dichters” zu eben jener erklärt, über die der Graue sich erstaunt, und die es ermöglicht, Zettel für einen Bassisten in der deutschen Theaterprovinz sprechen zu lassen: “Es ist die Fähigkeit, sich so vollkommen in alle Arten zu sein, auch die fremdesten, zu versetzen, daß ihr Besitzer dadurch in den Stand gesetzt wird, als Bevollmächtigter der ganzen Menschheit, ohne besondere Instruktionen für den einzelnen Fall, im Namen eines jeden zu handeln und zu reden.”[4]
Ist das Shakespeare-Verständnis, das Hoffmann 1819 in Seltsame Leiden entwickelt, ohne Zweifel von Schlegel beeinflusst, so ist die Ironie, die hier über den Übersetzungsprozess des Zitates unter der Hand das Reden und Handeln “der ganzen Menschheit” in die “tolle Faselei arroganter Komödianten” verwandelt, ganz die Hoffmanns.
Gemeinsame Ansichten
Parallelen zu Schlegels Bemerkungen über Shakespeare lassen sich sowohl in Seltsame Leiden als auch schon im Berganza an vielen Stellen finden. So entwickelt beispielsweise der “Braune”, der Gesprächspartner des Grauen in den Seltsamen Leiden, eine Kritik an der zeitgenössischen Bearbeitungspraxis von Shakespeares Stücken, die auf einem Verständnis von Shakespeares Dramen als organische Einheiten basiert. Er greift damit auf das wichtigste ästhetische Formprinzip zurück, mit dem Schlegel in seinen Wiener Vorlesungen der Kritik des achtzehnten Jahrhunderts an der “Formlosigkeit” Shakespeares begegnet und die Unantastbarkeit eines jeden seiner Stücke als jeweils vollendetes Ganzes begründet (Kritik im Sinne Schlegels). Beschreibt der Braune Shakespeare-Bearbeitungen auf den deutschen Bühnen des frühen neunzehnten Jahrhunderts als “unverständige Verstümmelungen, die sich auf keine Weise rechtfertigen lassen,”[5] so verteidigt er hier seinen “herrlichen Shakespeare” ebenso “heftig”[6] und teils mit denselben Worten wie Schlegel, der 1808 anhand ganz derselben organischen Prämissen seinen Hörern aufzeigt, wieso man an Shakespeares Stücken “nichts hinwegnehmen, nichts hinzufügen, nichts anders ordnen kann, ohne das vollendete Werk zu verstümmeln und zu entstellen.”[7]
Kritik im Sinne Schlegels
Hoffmanns Brauner präsentiert, ganz im Sinne Schlegels, eine explizite Kritik an Goethes Weimarer Romeo und Julia-Inszenierung von 1812, für die Goethe sowohl Schlegels Übersetzung überarbeitete, als auch in die Struktur des Stückes eingriff, was dem Braunen “wie eine abscheulige [sic] Verhöhnung unserer Theaterbretter” erscheint. Hoffmann, Seltsame Leiden, S. 460. Eine ähnlich entrüstete Kritik an Goethes Bearbeitung wenige Monate nach der Weimarer Inszenierung findet sich bereits in einem Brief Hoffmanns an Eduard Hitzig vom 15.7. 1812.
Über solche Parallelen der organischen Ästhetik hinaus dient Shakespeares Werk Hoffmann, ebenso wie vor ihm Schlegel, als Folie für die Entwicklung der eigenen, spezifisch romantischen Poetologie. In beiden Fällen steht Shakespeare in unmittelbarer Verbindung mit Pedro Calderón de la Barca, zwei “innig verwandte Geister, die sich oft sogar in ähnlichen Bildern aussprechen,” wie es Hoffmanns “Ich” im Dialog mit dem literarischen Bullenbeisser Berganza formuliert.[8] Schlegel charakterisiert diese Verbindung Shakespeares und Calderóns in seinen Wiener Vorlesungen explizit als den “Geist der romantischen Poesie, dramatisch ausgesprochen.”[9] Weder Tragödien noch Komödien, sind die Stücke Shakespeares und Calderóns, die sich der Regelästhetik des achtzehnten Jahrhunderts nicht fügen wollen, deswegen nicht fehlerhaft, sondern ganz im Gegenteil solche Gegensätze produktiv umfassende “romantische Schauspiele.”[10] Die romantische Poesie, die sich in ihnen ausspricht, “gefällt sich” in Schlegels Worten “in unauflöslichen Mischungen” und “verschmilzt” alle scheinbaren Gegensätze “auf das innigste miteinander.” In diesem Prozess, so Schlegel, greift die romantische Poesie tiefer als jede klassische Ordnung und “ist der Ausdruck des geheimen Zuges zu dem immerfort nach neuen und wundervollen Geburten ringenden Chaos, welches unter der geordneten Schöpfung, ja in ihrem Schoße sich verbirgt.”[11]
Was Schlegel das Chaos, ist Hoffmann der Humor. In einer Formulierung die auch an August Wilhelms Bruder Friedrich erinnert, die Theorien der Brüder Schlegel jedoch ins spezifisch Hoffmaneske wendet, nennt Hoffmanns Brauner den romantischen, jeder Ordnung und der Gattungstrennung von Tragödie und Komödie vorausliegenden Zustand “die Ironie … die eben die menschliche Natur in ihrem innersten Wesen bedingt und aus der mit dem tiefstem Ernst, der Scherz, der Witz, die Schalkheit herausstrahlen,” oder kurz, das “wahrhaftig Komische,”[12] den “eigentlichen Humor.”[13]
Ebenso wie August Wilhelm Schlegel, finden auch Hoffmanns Theaterdirektoren die romantische Poesie, die dem “geheimen Zug” dieses Zustandes Ausdruck gibt, exemplarisch im Werk Shakespeares verwirklicht. “Ich nannte Shakespear,” entgegnet der Graue dem Braunen, “und jetzt geht es mir recht lebendig auf, daß es ja eben der Humor, wie Sie den Begriff davon feststellen, allein ist, der seine Gestalten belebt.” “Ja wohl!” stimmt ihm der Braune zu “– kein Dichter hat jemals die menschliche Natur so in ihrer Tiefe erkannt, und darzustellen gewußt, als Shakespeare … Als laute Verkündiger des eigentlichen Humors, der das Komische und Tragische selbst ist, hat er seine Narren aufgestellt.”[14]
Dass Hoffmann hier auch sein eigenes Credo schreibt und Shakespeares Narren zu Vorbildern seiner eigenen tragikomischen Figuren macht – eine Identifizierung mit Shakespeares Charakteren, die für Hoffmann lange zurückreicht –, mag ein früher Brief an Hippel vom 25.11.1795 verdeutlichen, in dem Hoffmann von einem Schreibprojekt unter dem Pseudonym “Ewald Trinkulo” berichtet. “Du wirst wissen,” schreibt Hoffmann an Hippel, “daß in Shakespears Sturm der Hofnarr des Königs Trinkulo heißt, und das war mein Ahnherr – ”[15]. Unter der Narrenkappe Shakespeares weiß sich Hoffmann so in all’ seinen Texten einer europäischen, kultur- und sprach-übergreifenden Tradition der komischen Literatur verpflichtet, mit deren Hilfe man auch die heftigsten literarischen Stürme noch bestehen kann.
Schlegels Chaos
Schlegel verdankt diese poetologischen Überlegungen zweifellos seinem Bruder Friedrich, in dessen Ästhetik das “absolute[s] Chaos” zur zentralen Figur wird. Siehe Bianca Theisen “χα Absolute Chaos: The Early Romantic Poetics of Complex Form.” In: Studies in Romanticism 42/3 (2003), S. 301-23.
Der Humor
Der Humor ist bekanntlich schon an sich sozusagen eine englische Nationalspezialität und das Wort Humor die eingedeutschte Version des Englischen humour, ein Wort, das nicht nur Witz und Komik, sondern auch exzentrische Laune und, in Anlehnung an die medizinische Humoraltheorie, grundlegende Charakterstrukturen bezeichnen kann. Definitionen sind hier, der Sache ganz angemessen, ein schlüpfrige Angelegenheit. Siehe z.B. Vigus, James: Introduction. In: Vieweg, Klaus, James Vigus und Kathleen M. Wheeler (Hg.): Shandean Humour in English and German Literature and Philosophy. London 2013, S. 1-18.
Einen shakespearschen Narren zum alter ego machte sich vor Hoffmann bereits Laurence Sterne, dessen Pfarrer Yorick seinen Namen dem verblichenen Hofnarren aus der Totengräberszene eingangs des fünften Aktes von Shakespeares Hamlet verdankt. Wohl kaum eine Szene in Shakespeares Werk verdeutlicht die Gleichzeitigkeit des Tragischen und Komischen, die Hoffmanns „eigentlichen Humor” ausmacht, so plastisch wie diese, in der über Shakespeares Sprache der Tod noch im Grab selbst zum Witzwort wird. Die literarische Verwandtschaftsbeziehung, die solch intertextuelles Spiel mit Shakespeare herstellt, mag zum Zeichen dienen, dass die von Hoffmann hochgeschätzten Texte Sternes – Tristram Shandy und Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien (A Sentimental Journey Through France and Italy) –, die Hoffmann in der Übersetzung von Johann Joachim Christoph Bode las, sich in seiner von der Vermittlung lebenden narrativen Praxis wohl noch tiefer widerspiegeln als die Shakespeares selbst. Da Hoffmann im Briefwechsel mit seinem Freund Hippel gerne den Namen Eugenius annimmt, und damit zum Ausdruck höchster Verbundenheit die Identität von Yoricks Busenfreund wählt,[16] ist die Ahnherrenschaft Trinkulos möglicherweise sogar eine bewusste Parallele zu Sternes Pfarrer von trauriger Gestalt, für den Tristram Shandy dem Leser ebenfalls eine „wahrscheinlich” direkte Ahnenreihe zu Shakespeares dänischem Hofnarren vorschlägt. Gibt man solch digressiven Spekulationen Raum, kann man im intertextuellen Dialog zwischen Hoffmann und Sterne den Narren Trinkulo, der die beiden zum Scheitern verurteilten Usurpatoren Caliban und Stefano in Shakespeares Sturm begleitet, nicht nur mit dem Totenschädel in Hamlets Hand, sondern auch mit Sternes sterbendem Pfarrer die Rollen tauschen sehen. Dieser wiederum zitiert in Tristram Shandy mit seinen letzten Worten Cervantes’ Sancho Panza, und es entsteht so ein sich endlos widerspiegelndes Bild aus Zitaten, das dem Tod ein Schnippchen schlägt und emblematisch für Hoffmanns Humorbegriff einstehen mag. Das wahrhaft Komische, für Hoffmann wie für Sterne, ist stets Zitat, und wer nicht liest, hat nichts zu lachen.
Ahnenreihe zu Shakespeares dänischem Hofnarren
Um diese Ahnenreihe zu „belegen” muss Tristram, im ironischen Spiel mit der Materialität eines jeden Textes, das Hoffmann im Kater Murr mit Vergnügen weitertreibt, einige Unwahrscheinlichkeiten der historischen Überlieferung aus dem Weg räumen. Siehe Sterne, Laurence. Tristram Shandy. Howard Anderson. New York, 1980, S. 18.
Steven Paul Scher bestand bereits in den 1970er Jahren darauf, dass es weit verfehlt wäre, Hoffmann schlicht zu einem weiteren Imitator des Sterne’schen Humors zu machen, die nach der Veröffentlichung und Bode’schen Übersetzung der beiden europäischen Romanerfolge Sternes im Zuge der darauffolgenden „Sternemania” wie Pilze aus dem Boden schossen. Noch wichtiger ist es Scher, klarzustellen, dass man Hoffmann ebenso Unrecht tut, wenn man seine Sterne-Rezeption von seiner Lektüre der Texte der beiden „deutschen Shandyaner“, Jean Paul Richter und Theodor Gottlieb von Hippel, und deren Varianten des Sterne’schen Humors abhängig macht.[17] Die Originalität von Hoffmanns Schreibweise „in Sternes Manier” mag hier eine Vignette aus den Lebens-Ansichten des Katers Murr erweisen.
Die deutschen Shandyaner
Über die Rolle des shandyschen Humors bei Jean Paul und Hippel, siehe Vieweg, Klaus: „Literary Castlings and Backwards Flights to Heaven. Sterne’s Über-Humour in the work of Jean Paul Richter and Theodor Gottlieb von Hippel.” In: Vieweg, Klaus, James Vigus und Kathleen M. Wheeler (Hg.): Shandean Humour in English and German Literature and Philosophy. London 2013, S. 62-77. Dass sich in diesem Sammelband kein Beitrag zu Hoffmann findet, ist bedauerlich und möglicherweise ein Zeichen dafür, dass trotz der inzwischen stattgefundenen Wendung des literarischen Blattes zu Hoffmanns Gunsten seine narrative Umsetzung des Sterne’schen Humors weiterhin im Schatten Jean Pauls und Hippels steht.
Ein Unbelesener, der aufgrund mangelnder Lektüre nicht nur nicht mitlachen kann, sondern darüber zum Gegenstand des Lachens anderer wird, ist Hoffmanns jeglicher Selbstironie unfähiger Fürst Irenäus. Ihm wird zu Eingang des ersten Makulaturblatts, über das der Leser der Murrschen Lebens-Ansichten unversehens in den Kreislerroman gerät, von Meister Abraham ein verdecktes Zitat präsentiert, das ihm helfen könnte, die Erinnerung an das vom Unwetter „in wilde[] Verwirrung” gestürzte fürstliche Fest mit Humor zu nehmen.[18] Die von Meister Abraham hier erzählte Geschichte des Notars, der beim Überqueren des Pont Neuf im Sturmwind seinen Hut verliert, und von der Abraham behauptet „Ähnliches” stehe so auch „im Rabelais,”[19] findet sich nicht bei Rabelais, sondern im Kapitel „Das Fragment. Paris” in Sternes Yoricks Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien, wo Yorick sie aus dem „alte[n] Französisch, aus Rabelais Zeiten” entziffert.[20] Lutz Hermann Görgens weist in einem Artikel von 1985 darauf hin, dass es bei dieser intertextuellen Brückenüberquerung um weit mehr als ein rein inhaltliches Zitat geht, da Sternes Yorick die fragmentarische Geschichte des Notars ebenfalls auf einem per Zufall in den Erzählstrang hineingeratenen Makulaturblatt entdeckt. Der intertextuelle Bezug macht somit klar, dass Hoffmann über narrative Inhalte hinaus ein Erzählverfahren zitiert, und verdeckt darauf hinweist, dass „[d]ie Bauform des Murr Romans” als Ganze ein Sterne Zitat ist, und die Anspielung auf Tristram Shandy im Titel des Fragment gebliebenen Romans in dessen Erzählstruktur ihr Komplement findet.[21] Sternes Vorbild legitimiert so, wie Görgens anmerkt, das noch radikalere narrative Experiment des Murr-Kreisler Romans.
Die Quelle von Meister Abrahams Geschichte
Auf die tatsächliche Quelle für Meister Abrahams Geschichte wies bereits Georg Ellinger in seiner Hoffmann-Ausgabe von 1912 hin. Siehe Wolfgang Krohns Stellenkommentar in Hoffmann, E.T.A.: Die Elixiere des Teufels. Lebens-Ansichten des Katers Murr. Nachwort Walter Müller-Seidel, Anmerkungen Wolfgang Krohn. München, 1984, S. 700.
Erweitert man den Kontext der Notargeschichte bei Sterne nur noch ein klein wenig mehr als Görgens es tut, tritt zudem noch ein weiterer zentraler Punkt hervor: Sternes Yorick fungiert als idealer Leser, den sich Hoffmann in den ersten Zeilen des desorientierenden Makulaturblatts gleichsam herbeizitiert. Denn Yorick, der zunächst im Begriff ist, das Makulaturblatt aus dem Fenster zu werfen, ist von den ersten fragmentarischen Zeilen des unbekannten Textes so gebannt („festgezaubert” wäre das entsprechende Hoffmannsche Wort), dass er mit Unterbrechungen den ganzen Tag damit verbringt, die hinter materiellen (die „gothischen Buchstaben” sind „durch Schimmel und durch die Länge der Zeit … bleich und unleserlich geworden”[22]), strukturellen (die Geschichte ist ein Fragment) und sprachlichen Hindernissen (Yorick entschließt sich, den Text zur Überprüfung des Verständnisses ins Englische zu übersetzen) verborgene Geschichte zu entziffern. Die Schwierigkeit des Unterfangens steht dabei der Leselust nicht im Wege, sondern verstärkt sie nur: „[D]ie Schwierigkeit, es zu verstehn,” teilt Yorick dem Leser mit, „entzündete nur meine Begierde noch mehr.”[23] Schreibt Murr seine Kater-Memoiren für ein konventionelles Publikum und lineare Lesegewohnheiten, braucht Murrs Herausgeber Hoffmann Leser wie Yorick, deren Begierde weiter zu lesen gerade durch die Enttäuschung und Blockierung narrativer Gewohnheiten und die Notwendigkeit der eigenen Detektivarbeit geweckt wird. Wer Sterne kennt, so möchte man sagen, weiß, wie Hoffmann gelesen werden will.
Keine Geduld mit Hoffmanns experimenteller Schreibweise und seiner nicht-linearen, ironisch gebrochenen Erzählpraxis hatte bekanntlich Hoffmanns Freund und späterer Biograph Eduard Hitzig. In einer oft zitierten Passage in seiner Hoffmann-Biographie erinnert sich Hitzig, Hoffmann anlässlich der kapriziösen Exzesse der Prinzessin Brambilla gegen die hier betretenen „Abwege … des Nebelns und Schwebelns mit leeren Schatten, auf einem Schauplatz ohne Boden und ohne Hintergrund,” auf die er sich „schon oft, aber noch nie so entschieden” verloren habe, mit Nachdruck gewarnt und ihm als Antidot „etwas von Walter Scott” zur Lektüre empfohlen zu haben, der „bei dem Publikum jetzt mit Recht anfange, das höchste Glück zu machen … unmaßgeblich den Astrologen.”[24] Hoffmanns ebenso bekannte Antwort, die Hitzig in Aus Hoffmanns Leben und Nachlaß mit abdruckt, folgt bereits am nächsten Morgen. Hoffmann lobt Scotts Der Astrolog (Guy Mannering) als „[e]in ganz treffliches – treffliches Buch, in der größten Einfachheit reges Leben und kräftige Wahrtheit”, das er „nächstens lesen werde, da [er es] in diesem Augenblick – verschlinge!”[25] Solch’ hohen Lobes ungeachtet, weist Hoffmann die Möglichkeit, sich Scotts Schreibweise und Erzählstil anzueignen jedoch weit von sich: „Aber! – fern von mir liegt dieser Geist und ich würde sehr übel thun eine Ruhe erkünsteln zu wollen, die mir wenigstens zur Zeit noch durchaus gar nicht gegeben ist.” Um ihn selbst und sein unruhigeres Gemüt zu verstehen, empfiehlt Hoffmann Hitzig als Gegenmodell den Kater Murr, dessen zweiter Band gerade in Arbeit war: „Was ich jetzt bin und seyn kann,” erklärt Hoffmann, „wird pro primo der Kater … zeigen.”[26] Hitzig, der mit Hoffmanns Giglio Fava in Prinzessin Brambilla das ironische Sich-selbst-auf-den-Kopf-Schauen nicht lernen konnte, kann eine solche, Ruhe und Nüchternheit zurückweisende, „Selbstanschauung” nur „merkwürdig” vorkommen.[27]
Der Astrologe
Mit dem “Astrologen” empfiehlt Hitzig die 1817 erschienene deutsche Übersetzung von Walter Scotts Roman Guy Mannering or The Astrologer (1815).
Wie schon Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke bemerken, kommt Hoffmann auf Scotts Roman im vierten Band der Serapionsbrüder noch einmal ausführlicher zurück.[28] Im Anschluss an die von Sylvester vorgetragene Erzählung „Der Zusammenhang der Dinge”, die die Leserin über die Binnengeschichte Euchars in den Kontext des spanischen Befreiungskrieges verwickelt, kommen die Freunde auf Fragen des historischen Romans, und damit auch auf Scott zu sprechen. Ottmar lobt hier, wie Hoffmann selbst in seinem Brief an Hitzig, die Lebendigkeit von Scotts Figuren und nennt ihn „eine herrliche Erscheinung in der englischen Literatur.” Bezeichnenderweise fehle Scott jedoch seiner Meinung nach „das Brilliantfeuer des tiefen Humors der aus Sterne’s und Swifts Werken hervorblitzt.”[29] Wird diese Einschränkung hier auch lediglich im Nachsatz angeführt, untergräbt sie dennoch im Handumdrehen das eben erst ausgesprochene Lob, fehlt doch Scott somit aus Ottmars Sicht gerade die Zutat, die für Hoffmann die Essenz des literarischen Schaffens ausmacht. Trotz aller Kunst der Charakterentwicklung, so das unausgesprochene Urteil, kann Scott Autoren wie Shakespeare und Sterne, und damit schließlich auch Hoffmann selbst, das Wasser nicht reichen.
Scott muss daher, wenn man den Dialog der Serapionsbrüder noch ein wenig weiter verfolgt, in Sylvesters Entgegnung auf Ottmars und Vinzenz’ Kommentare einem anderen „englische[n] Dichter” und Publikumsidol der europäischen Literatur weichen, der nur selten mit Hoffmann in Verbindung gebracht wird, und auf dessen Seite sich nun Sylvester schlägt: „Sehr Merkwürdig … ist es doch, daß, irre ich mich nicht, mit Walter Scott beinahe zu gleicher Zeit ein englischer Dichter auftrat, der in ganz anderer Tendenz das Große, Herrliche leistet. Es ist Lord Byron den ich meine.” „Vorherrschend soll” bei Byron, dem Ottmar noch fälschlicherweise die Autorschaft der von Byrons Freund William Polidori verfassten Geschichte The Vampyre zuschreibt (fehlerhafte Zuschreibung), „sein Hang zum Düstern, ja Grauenhaften und Entsetzlichen sein.”[30] Byron wird von Sylvester so gerade für den Schauerroman und die Literatur des Übernatürlichen vereinnahmt, die Scotts historischer Roman explizit obsolet machen sollte, und der Diskussion um die Rolle historischer Fakten in der Erzählpraxis folgt eine Disputation über die ästhetische Funktion des Grauenhaften, die Hoffmanns ohne Titel präsentierte Vampyrismusgeschichte einleitet. Sucht Lothar im Folgenden den Vampirglauben aufgrund seiner Widerwärtigkeit für den guten literarischen Geschmack außer Frage zu stellen, so entgegnet ihm der offensichtlich Hoffmanns Position vertretende Cyprian, dass damit der Tauglichkeit des Stoffes für die literarische Behandlung kein Abbruch getan sei: „[D]emungeachtet kann aus dieser Idee ein Stoff hervorgehen, der von einem phantasiereichen Dichter, dem poetischer Takt nicht fehlt, behandelt, die tiefen Schauer eines geheimnisvollen Grauens erregt, das in unserer eigenen Brust wohnt, und berührt von den elektrischen Schlägen einer dunklen Geisterwelt den Sinn erschüttert, ohne ihn zu verstören.”[31] Theodor schliesslich weist drauf hin, dass es einer solchen „Apologie des Grauenhaften” gar nicht bedarf, da ja hinlänglich bekannt sei „wie wunderbar die größten Dichter vermöge jener Hebel das menschliche Gemüt in seinem tiefsten Innern zu bewegen wußten.”[32] Als Beispiel dienen Theodor zum Einen Shakespeare, zum Anderen Ludwig Tieck und insbesondere Tieck’s Märchen aus dem Phantasus „Der Liebeszauber.” Theodor entwickelt hier Argumente die im Ansatz bereits von Tiecks Manfred zur Verteidigung des Grauens in der Poesie im Rahmengespräch von Tiecks Phantasus angeführt werden. Das eigentlich das menschliche Herz zerreißende Grauenhafte begegnet uns im täglichen Leben, nicht in der Literatur, wo es stets nur in sicherer ästhetischer Distanz auftreten kann:
Fehlerhafte Zuschreibung
Ottmars fehlerhafte Zuschreibung hat ihre Wurzeln in der Erstveröffentlichung der Geschichte, die 1819 im New Monthly Magazine als “A Tale by Lord Byron” publiziert wurde. Siehe den Stellenkommentar von Wulf Segebrecht S. 1650-51.
Ja wohl ist das Entsetzliche, was sich in der alltäglichen Welt begibt, eigentlich dasjenige, was die Brust mit unverwindlichen Qualen foltert, zerreißt. Ja wohl gebärt die Grausamkeit der Menschen das Elend, was große und kleine Tyrannen schonungslos mit dem teuflischen Hohn der Hölle schaffen, die echten Gespenstergeschichten. Und wie schön sagt nun der Dichter: In dergleichen märchenhaften Erfindungen aber kann ja dieses Elend der Welt nur wie von muntern Farben gebrochen hineinspielen, und ich dachte, auch ein nicht starkes Auge müßte es auf diese Weise ertragen.[33]
Das Grauenhafte und Entsetzliche, und damit auch das Übernatürliche und Unheimliche, sind in Hoffmanns poetologischem Gespräch so gleich dreifach abgesichert: als ästhetischer „Hebel”, der in der Leserin zentrale Aspekte der menschlichen Psyche und emotionaler Erfahrung wachruft, die aus dem bürgerlichen Alltag nur scheinbar verschwunden sind; als ästhetisierte Version eines in Wirklichkeit nur allzu alltäglichen und in diesem Kontext wahrhaft unerträglichen Geschehens, das im Medium der Erzählung aushaltbar wird und somit zur Sprache und zur bewussten Auseinandersetzung gebracht werden kann; und schließlich durch die Präzedenzfälle einer nicht bürgerlich zensierten Literaturgeschichte.
In seiner 1827 für die Erstlingsnummer des Foreign Quarterly verfassten Besprechung von Hoffmanns Werk, „On the Supernatural in Fictitious Composition; and particularly on the Works of Ernest Theodore William Hoffmann,” nimmt Sir Walter Scott, wie Hartmut Steinecke anmerkt, drei Bücher in den Blick: Hitzig’s Biographie, die Nachtstücke, und die Die Serapionsbrüder.[34] Mit letzterem Band hatte Scott somit Hoffmanns Verteidigung des nicht rational Erklärbaren Grauens in der Literatur unmittelbar vor Augen als er den Text aufsetzte, der wie kein anderer die internationale Rezeption Hoffmanns im neunzehnten Jahrhundert beeinflussen sollte (Wirkungsgeschichte der Rezension Scotts). Wie genau Scott die oben diskutierten Passagen, in denen es ja ganz direkt um seine eigene Schreibweise geht, gelesen hatte, zeigt sich daran, dass er eingangs seiner Besprechung Hoffmann beinahe wörtlich zu zitieren scheint: „[D]as Übernatürliche in der fiktionalen Komposition erfordert es,” so Scott, „mit einem beachtlichen Feingefühl behandelt zu werden, da die Kritik beginnt, aufmerksamer zu werden. Das Interesse, das es hervorruft ist in der Tat eine machtvolle Feder; eine jedoch, die von grober Benutzung und wiederholtem Druck besonders leicht erschöpft wird.”[35] Hoffmann hätte ihm hier vollkommen zugestimmt, weist doch Cyprian ausdrücklich darauf hin, dass dem „phantasiereiche[n] Dichter” der „poetische Takt” nicht fehlen darf, will er den „Hebel” benutzen, der „das menschliche Gemüt in seinem tiefsten Innern zu bewegen” vermag. „[G]robe[…] Benutzung und wiederholte[r] Druck” sind für Hoffmann ebenso wie für Scott ästhetisches Tabu soll der Text den gesuchten Effekt produzieren. Als Instanz der „wachsamen Kritik” spricht Scott nun Hoffmann im Folgenden genau die Fähigkeit ab, die sein deutscher Rivale um die von Hitzig beschworene Publikumsgunst vom erfolgreichen Dichter selber fordert. Hoffmann wird Scott dabei zum Paradebeispiel für eine Schreibweise, die „der Hang der deutschen zum Geheimnisvollen” produziert, und die „vielleicht in einem anderen Land oder einer anderen Sprache kaum ihren Weg gemacht haben könnte”: das Fantastische.[36] „Dies mag man die fantastische Schreibweise nennen, – in der einer irregulären Phantasie die wildeste und ungebundenste Lizenz gegeben wird, und in der alle Arten der Kombination, wie lächerlich oder wie schockierend sie auch sein mögen, ohne Skrupel versucht und ausgeführt werden.”[37] Scott zieht also in seiner Rezension genau die Landesgrenzen wieder ein, die, wie im ersten Teil gezeigt, im Rahmen des Schauerromans und „deutsch-britischer Romanlektüren,” um mit Hartmut Steinecke zu sprechen, rein illusorisch sind (komplexes Übersetzungsspiel). Der „Hang zum Geheimnisvollen” ist bei weitem keine deutsche Spezialität, so sehr Scott auch darauf bestehen mag.
Wirkungsgeschichte der Rezension Scotts
Die Wirkungsgeschichte von Scotts Rezension, die in Deutschland – unter Goethes Mithilfe – Hoffmanns Ansehen nachwirkend schädigte, in Frankreich und Russland aber ironischerweise für Hoffmanns literarischen Ruhm mitverantwortlich war, braucht hier nicht noch einmal erzählt werden. Für die detaillierteste Darstellung siehe Steinecke, „Britisch-deutsche Romanlektüren“, 106-115. Vgl. auch Segebrecht, „Hoffmann and English Literature“ und Sage, Victor: „Scott, Hoffmann, and the Persistence of the Gothic.” In: Cusack, Andrew und Barry Murmane (Hg.): Popular Revenants. The German Gothic and Its International Reception, 1800-2000. Rochester, NY 2012, 76-86.
Komplexes Übersetzungsspiel
Scott selber wurde, nach Ausbruch der „Scottomanie“ in Deutschland Gegenstand des wohl komplexesten Übersetzungsspiels im Rahmen des literarischen „Austausches“ über den Ärmelkanal hinweg, Willibald Alexis’ dreibändige Pseudoübersetzung Walladmor, Frei nach dem Englischen des Walter Scott, der von Thomas De Quincey ins Englische „rückübersetzt“ wurde. Siehe hierzu De Groote, Brecht und Tom Toremans: „From Alexis to Scott and De Quincey: Walladmor and the Irony of Pseudotranslation.“ In: Essays in Romanticism 21/2 (2014), S. 107-23. Vgl. auch Steinecke, „Britisch-deutsche Romanlektüren“, 111.
Wie man aus den anthropologischen Schriften der Zeit um 1800 weiß, ist eine ungezügelte Phantasie nicht nur eine Gefahr für den gesunden Verstand des von ihr getriebenen Individuums, sondern auch für all’ diejenigen, die mit ihm oder ihr in Kontakt treten. Mit Hitzigs Biographie an der Hand, pathologisiert Scott daher im Folgenden zum Schutz der Leserschaft sowohl Hoffmann selbst, als auch den Großteil seiner literarischen Produktion. Exemplarisch für Hoffmanns Gesamtwerk steht hier am Schluss der Besprechung Der Sandmann ein, und Scotts oft zitiertes Fazit zu diesem Text dient als Warnung für die „Ansteckungsgefahr” die dem Lesepublikum von solch’ „ungesunder” Lektüre droht. Ein aufgeklärter Kritiker wird für solche „fieberhaften Träume” keine Geduld aufbringen:
„Es ist unmöglich, Erzählungen solcher Art der Kritik zu unterwerfen. Sie sind nicht die Visionen eines poetischen Geistes, sie haben sogar kaum die scheinbare Authenzität die die Halluzinationen des Wahnsinns dem Patienten vorgaukeln, sie sind die fieberhaften Träume eines delirierenden Patienten, denen wir uns, wenn sie auch manchmal durch ihre Eigenartigkeit anregen, oder durch ihre Kuriosität überraschen, niemals disponiert fühlen, mehr als momentane Aufmerksamkeit zu schenken.“[38]
Der „poetische Geist,” den Cyprian fordert, wird Hoffmann explizit abgesprochen, und ebenso, wie aus Hoffmanns Sicht Scotts Charakterführung durchaus zu bewundern ist, ihm die wahre Inspiration des „tiefen Humors” aber fehlt, bleiben für Scott die gelungenen Figuren Hoffmanns – wie zum Beispiel der Justiziarius V. in Das Majorat, aus dem Scott lange Passagen zitiert – am Ende nur Zeichen dessen, was sein deutscher Kollege hätte leisten können, wäre ihm größere Selbstkontrolle vergönnt gewesen. Die strukturellen Parallelen sind unübersehbar. Scott geht es jedoch nicht nur um Hoffmann allein. Vielmehr steht, wie Victor Sage herausstellt, die Besprechung im Foreign Quarterly im Kontext eines ausgedehntem Versuches Scotts, über die öffentliche Funktion seiner Rezensionen ein Manifest für die von ihm entwickelte Form des historischen Romans als moderne Schreibweise für ein post-napoleonisches Europa zu entwickeln, und im gleichen Atemzug konkurrierende Erzählformen, die sich des Übernatürlichen und Fantastischen als literarischem Mittel bedienen, in die Rumpelkammer der Literaturgeschichte zu verbannen.[39]
Die Tatsache dass Hoffmann im Zuge dieser Kampagne schärfer angegriffen wird als andere dem Übernatürlichen in aufgeklärten Zeiten weiterhin verhaftete AutorInnen die Scott unter die Lupe nimmt, hängt höchstwahrscheinlich damit zusammen, dass Hoffmann seinerseits die Konventionen des historischen Romans besonders explizit attackiert, und es sich hier also sozusagen um eine Sache der literarischen Ehre handelt. Wie Victor Sage zurecht anmerkt, dürfte sich Scott bei der Lektüre der Nachtstücke und insbesondere des einleitenden Gesprächs zu “Das Öde Haus” besonders schmerzhaft getroffen gefühlt haben.[40] Für „abgeschmackt und widerlich” erklärt Lelio da die „sogenannten historischen Romane, worin der Verfasser, in seinem müßigen Gehirn bei ärmlichen Feuer ausgebrütete Kindereien den Taten der ewigen, im Universum waltenden Macht beizugesellen sich unterfängt.”[41] Auch wenn unklar ist, ob Hoffmann hier möglicherweise Scotts Waverley im Sinn hat, die verbalen Pfeile werden ihre Wirkung nicht verfehlt haben.
Über literarische Fehden hinaus jedoch geht es hier um grundsätzliche Fragen der Erfassbarkeit, Erkennbarkeit, und Aufklärbarkeit geschichtlicher Prozesse und deren Verhältnis zu literarischer Produktion. Zu glauben, man könne den literarischen Lenker der Geschichte spielen, den historischen Faden unproblematisch aufgreifen und in mimetischer Reproduktion schlicht „wie geschehen” linear abspulen ist aus Lelios Sicht eine aus Mangel an Einbildungskraft geborene Form menschlicher Hybris, die nur bedenkliche Folgen haben kann. Über die rationale Kontrolle hausgemachter Narrative historischen Entwicklungen eine klar verständliche Form zuzuschreiben, die deren Steuerbarkeit und Vorhersagbarkeit suggeriert, wird hier zur „Kinderei”, die den Gefahren des Feuers das hinter den selbstgeschaffenen Kulissen brennt nicht gefeit ist.
Somit ist es kein Kompliment, wenn Vinzenz in den Serapionsbrüdern im Gespräch mit Ottmar von Scotts Astrologen behauptet der Roman sei „in seinem methodischen Fortschreiten einem Knäuel zu vergleichen der ruhig abgewickelt wird und dessen festgesponnener Faden niemals reißt.”[42] Nicht nur steht die dazu nötige Ruhe, wie wir aus dem Brief an Hitzig wissen, Hoffmann in eigener „Selbstanschauung” nicht zur Verfügung, ein derart kontrolliertes Abspulen der Erzählung widerspricht auch Hoffmanns Geschichtsverständnis. Aus dieser, aufgeklärten Erzählstrukturen nicht assimilierbarer Sicht ist die Geschichte eine eher unruhige Angelegenheit, die den tatsächlich historischen Roman zum Schauerroman macht und dessen sprunghafte, nicht-lineare Formen erfordert, über die aufgrund von selbstreferenziellen und selbstreflexiven Strukturen die Erzählung dem Erzähler außer Kontrolle gerät, und Unerwartetes und Unerklärliches in den Erzählraum eintreten können.
Dazu gehört auch ganz explizit das Grauenhafte, wie das Verhältnis von „Der Zusammenhang der Dinge” und der Vampyrismusgeschichte verdeutlicht, die sich in den Serapionsbrüdern über die Diskussion des Scottschen Romans hinweg spiegeln. Denn bevor noch Cyprian und Theodor eine Apologie des Grauenhaften in der Literatur präsentieren, lässt Sylvester Euchar in der von ihm erzählten Binnengeschichte in „Der Zusammenhang der Dinge” bereits sein Publikum warnen, dass es im Folgenden mit Grauenhaftem und Entsetzlichem zu rechnen habe. Das Grauen in Euchars Erzählung aber nimmt Theodors Einsicht vorweg, dass „das Entsetzliche, was … die Brust mit unverwindlichen Qualen foltert, zerreißt” sich „in der alltäglichen Welt begibt” und „die Grausamkeit der Menschen das Elend” und „die echten Gespenstergeschichten” gebiert.[43] Dies Grauen ist das Grauen der Geschichte selbst, und das Entsetzliche die brutalen Belagerungen und Guerillakämpfe des spanischen Befreiungskrieges, die der nächtlichen Menschenfresserei der Vampyrismusgeschichte in Blutigkeit in nichts nachstehen. Was schockiert ist am Ende eine Frage der Konvention, und Vampire werden da besonders nötig, wo der Krieg längst zum Alltag geworden ist. Es nimmt daher nicht wunder, dass wir vom Vampirismusexperten Lothar später hören, dass „sich damals das Militair ganz ungemein mit dem Vampyrismus” beschäftigte.[44] Übernatürliche Erklärungen der Leichenfledderei sind am Ende leichter verdaulich, ebenso wie die Vampyrismusgeschichte selbst sich des Übernatürlichen bedient, um die Tabuthemen der Frauen- und Kindesmisshandlung mitteilbar zu machen, denen ansonsten der „gute Geschmack” nicht Rechnung tragen kann. Lineare erzählerische Auflösungen solch’ traumatischer Erfahrungen kann es dabei in beiden Fällen nicht geben – der Faden ist unwiederbringlich gerissen, und dies in der Form der Erzählung zu ignorieren hieße, der Erfahrung der Opfer erneut Unrecht zu tun. So bleibt dem Erzähler schließlich nur der Fiebertraum einer unruhigen Phantasie um das „geheimnisvolle[] Grauen[] [zu] erreg[en], das in unserer eigenen Brust wohnt, und berührt von den elektrischen Schlägen einer dunklen Geisterwelt den Sinn erschüttert, ohne ihn zu verstören.”[45]
Es waren Hoffmanns Erzählformen die letztlich auch die Schreibweisen der Literatur des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts nachträglich prägen sollten, da mit dem blutigen Sturm der napoleonischen Kriege Prozesse der modernen Geschichte in den Gang kamen, die sich auch mit dem festgesponnensten Faden nicht mehr in Ruhe abwickeln lassen, und den Erzähler zwingen, stets unmittelbar am Rande des Abgrunds zu schreiben. Man mag wie Hitzig mit der Möglichkeit eines „ruhigeren“ und dem Modell Scottschem Erzählens zugänglicheren Hoffmann spielen, doch für solche frommen Wünsche hatte Hoffmann den literarischen Finger zu nahe am Puls der Zeit.
Die Geschichte des glücklosen Notars, die ihren intertextuellen Weg ins erste Makulaturblatt des Kreisler-Romans findet, ist bei Sterne nach der sturmverwehten Brückenüberquerung noch nicht zu Ende. Der klagende Schreiber, unbehaust und barhäuptig mit dem Schicksal hadernd, wird per Zufall just in diesem Moment ans Sterbebett eines verarmten Edelmanns gerufen, der, so nimmt der Notar an, seinen letzten Willen aufsetzen möchte. Der Edelmann aber erklärt, er „habe nichts zu vermachen, welches die Vermächtnißkosten werth wäre, ausgenommen [s]eine eigene Geschichte”, und beteuert, er „könnte nicht ruhig sterben, ohne sie der Welt als ein Vermächtniß zu hinterlassen.”[46] Statt Bezahlung vermacht er dem Notar den aus diesem literarischen Nachlass eventuell entstehenden Profit. Die Geschichte verspricht in der Selbstanzeige des Sterbenden Vieles, das auf breite Leserschaft tatsächlich hoffen ließe: „Es ist eine so besondere Geschichte, dass sie alle Menschenkinder lesen müssen … Es ist eine Geschichte, … welche jedes Gefühl der Natur erregen wird … den Menschlichen wird sie durchbohren, und das Herz der Grausamkeit selbst wird sie mit Mitleid erfüllen“, versichert der Edelmann. Mit solch’ einer empfindsamen Erzählung ließe sich am Ende womöglich der Lauf der Geschichte selbst noch verändern. Doch ebenso wie die Zäsur des Todes jede Autobiographie unmöglich macht, bringt Sternes Notar die Feder zwar mehrmals zum „Dintenfaß“, aber nie zum Pergament, und das selbstreferentielle Fragment im Fragment bricht ab bevor die versprochene Geschichte auch nur beginnen kann. Wenn Yorick seinen Diener La Fleur schließlich mit dem Makulaturblatt in der Hand fragt „wo … denn das Übrige“ sei, bleibt als Antwort nur ein Lachen, das um „die Ironie“ weiß „die eben die menschliche Natur in ihrem innersten Wesen bedingt.“ „Das ist zu arg – das ist zu arg“, möchte man da mit Hoffmanns Kreisler ausrufen und „eine rasende Lache aufschl[agen], dass die Wände dröhn[]en.“[47]
[1] Hoffmann, E.T.A.: Das Majorat. In: Sämtliche Werke in Sechs Bänden 3. Nachtstücke Klein Zaches Prinzessin Brambilla Werke 1816-1820. Hrsg. von Hartmut Steinecke. Frankfurt a. M. 1985, S. 207.
[2] Siehe hierzu Ritchie Robertson. “Shakespearean Comedy and Romantic Psychology in Hoffmann’s ‘Kater Murr.’” Studies in Romanticism 24/2 (1985), S. 201-22. Zu Hoffmanns Verarbeitung von Shakespeare Komödien in Prinzessin Brambilla, siehe Hough-Lewis Dunn. “The Circle of Love in Hoffmann und Shakespeare.” Studies in Romanticism 11/2 (1972), S. 113-37.
[3] Hoffmann, E.T.A. Seltsame Leiden eines Theaterdirektors. In: Sämtliche Werke 3, 417.
[4] Schlegel, August Wilhelm. Kritische Schriften und Briefe VI. Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur Zweiter Teil. Edgar Lohner (Hg.). Stuttgart 1967, 129.
[5] Hoffmann, Seltsame Leiden, 461.
[6] Ebd.
[7] Schlegel, Vorlesungen Zweiter Teil, 129.
[8] Hoffmann, E.T.A. Nachrichten von den Neuesten Schicksalen des Hundes Berganza. In: Sämtliche Werke in Sechs Bänden 2.1. Fantasiestücke in Callot’s Manier Werke 1814. Hartmut Steinecke (Hg.) Frankfurt a. M. 1993, 165.
[9] Ebd., 113.
[10] Ebd., 112.
[11] Ebd., 111-12.
[12] Hoffmann, Seltsame Leiden, 452.
[13] Ebd., 453.
[14] Hoffmann, Seltsame Leiden, 452.
[15] Hoffmann, E.T.A. E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel. Erster Band. Königsberg bis Leipzig 1794-1814. Friedrich Schnapp (Hg.). München, 1967, 71.
[16] Siehe z.B. Hoffmanns Briefwechsel I, S. 107 (3.10.1796) und S. 165 (Frühjahr 1803).
[17] Siehe Scher, Steven Paul: „Hoffmann and Sterne: Unmediated Parallels in Narrative Method.” Comparative Literature 28/4 (1976), S. 309-25. oder in deutscher Fassung „‚Kater Murr’ und ‚Tristram Shandy’ Erzähltechnische Affinitäten bei Hoffmann und Sterne.” Zeitschrift für deutsche Philologie 95 (Sonderheft) (1976), S. 24-42.
[18] Hoffmann, E.T.A.: Sämtliche Werke in Sechs Bänden 5. Lebens-Ansichten des Katers Murr Werke 1820-21. Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Frankfurt a. M. 1992,, S. 25.
[19] Ebd., S. 24.
[20] Sterne, Laurence: Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien, nebst einer Fortsetzung von Freundeshand. Johann Joachim Christoph Bode (Übers.). Frankfurt am Main 2008, S. 154.
[21] Görgens, Lutz Herrmann: „„Der Hut Flog Mir Vom Kopfe’ Ein Motiv aus E.T.A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr.” In: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann Gesellschaft 31 (1985), S. 53-58, 54.
[22] Yoricks empfindsame Reise, S. 154.
[23] Ebd.
[24] Schnapp, Friedrich: E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten. München 1974, S.561.
[25] Ebd., S. 562. Für den vollen Text von Hoffmanns Brief vom 8. 1. 1821 siehe E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel II, S.288-89.
[26] E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen, S. 562.
[27] Ebd., S. 561.
[28] Siehe Segebrecht, “Hoffmann and English Literature”, S. 58-59 und Steinecke, “Britisch-deutsche Romanlektüren”, S.107-08.
[29] Hoffmann, E.T.A.: Sämtliche Werke in Sechs Bänden 4. Die Serapionsbrüder. Wulf Segebrecht. Frankfurt a. M. 2001, S. 1114.
[30] Ebd., S. 1115.
[31] Ebd., S. 1117.
[32] Ebd., S. 1118.
[33] Ebd.
[34] Siehe Steinecke, “Deutsch-Britische Romanlektüren”, S. 106.
[35] “[T]he supernatural in fictitious composition requires to be managed with considerable delicacy, as criticism begins to be more on the alert. The interest which it excites is indeed a powerful spring; but it is one which is peculiarly subject to be exhausted by coarse handling and repeated pressure.” Scott, Walter: “On the Supernatural in Fictitious Composition; and particularly on the Works of Ernest Theodore William Hoffmann.” In: Sir Walter Scott On Novelists and Fiction. Ioan Williams (Hg.). New York 1968 , S. 314. Alle Übersetzungen aus Scotts Rezension sind meine Eigenen.
[36] “the attachment of the Germans to the mysterious has invented another species of composition, which, perhaps, could hardly have made its way in any other country or language.” Scott, “On the Supernatural in Fictitious Composition”, S. 325. Für die ungewollte Nachwirkung von Scotts Diskurs über das Fantastische, siehe Sage, „Scott, Hoffmann, and the Persistence of the Gothic.”
[37] “This may be called the fantastic mode of writing, – in which the most wild and unbounded license is given to an irregular fancy, and all species of combination, however ludicrous, or however shocking, are attempted and executed without scruple.” Ebd.
[38] “It is impossible to subject tales of this nature to criticism. They are not the visions of a poetical mind, they have scarcely even the seeming authenticity which the hallucinations of lunacy convey to the patient, they are the feverish dreams of a light-headed patient, to which, though they may sometimes excite by their peculiarity, or surprise by their oddity, we never feel disposed to yield more than momentary attention.” Scott, Walter: “On the Supernatural in Fictitious Composition; and particularly on the Works of Ernest Theodore William Hoffmann.” In: Sir Walter Scott On Novelists and Fiction. Ioan Williams (Hg.). New York 1968, S. 352.
[39] Siehe Sage, “Scott, Hoffmann, and the Persistence of the Gothic”, S. 77. Vgl. hierzu auch Steinecke, “Deutsch-Britische Romanlektüren”, S. 105
[40] Siehe Sage, “Scott, Hoffmann, and the Persistence of the Gothic”, S. 78.
[41] Hoffmann, Nachtstücke, S. 163.
[42] Hoffmann, Serapionsbrüder, S. 1114.
[43] Ebd., S. 1118.
[44] Ebd. S. 1117.
[45] Ebd.
[46] Sterne, Yoricks empfindsame Reise, S. 158.
[47] Hoffmann, Lebens-Ansichten des Katers Murr, S. 30.
Quellen
Weiterführende Literatur