Prinzessin Brambilla
Ein Geschenk zu seinem 44. Geburtstag inspirierte Hoffmann zur Niederschrift seines als besonders verwirrend bekannten Romans Prinzessin Brambilla.
Callots Kupferstiche zur Commedia dell’arte
Am 24.1.1820 bekam er von seinem Freund Johann Ferdinand Koreff die Balli di sfessania, ein Heftchen mit 24 Kupferstichen des von ihm bereits seit langem verehrten lothringischen Graphikers Jacques Callot (1592-1635). Darin werden Figuren der italienischen commedia dell’arte jeweils zu zweit in einem exaltierten Tanz einander gegenübergestellt. Es handelt sich bei Callot um eine serienmäßige Darstellung verschiedener Ausprägungen von vor allem zwei Typen der commedia dell’arte: der Dienerfigur und des capitano (des aufschneiderischen Soldaten). Hoffmann ließ acht Abbildungen davon nachstechen, eliminierte dabei aber die obszönen Figuren mit erigiertem Phallus sowie die Eigennamen. Er macht sie zur Basis seines acht Kapitel umfassenden Romans, der noch im gleichen Jahr (doch mit der Jahreszahl 1821) erschien, indem er Callots Serie unverbundener Gestalten in eine kontinuierliche zusammenhängende Handlung umwandelt. Callots Darstellungen werden in Prinzessin Brambilla verzeitlicht, vom Sozial-Funktionalen ins Psychische verlagert und in einem Happy End synthetisiert.[1]Der Untertitel Ein Capriccio nach Jakob Callot knüpft an Hoffmanns erste Erzählsammlung Fantasiestücke in Callots Manier an und signalisiert sowohl durch die Gattungsbezeichnung „Capriccio“ als auch den Namen des Künstlers, dass die LeserInnen einen sprühend-phantastischen Text erwarten dürfen, der keinen festen Regeln folgt. Charakteristische Stilprinzipien sind vielmehr Ironie, Antithesen, doppelte Perspektive, Selbstreferentialität, Selbstreflexion, vielfältige Spiegelungen, Durchbrechung der Fiktionsebene, Scherz und gleichzeitig philosophischer Ernst. Der gewöhnliche Alltag wird hier mit verschiedenen weiteren Handlungsebenen, nämlich Märchen, Karneval, Mythos/Allegorie, Theater und Traum verquickt.[2]
Ricarda Schmidt ist Professorin für Germanistik an der Universität Exeter und hat zu E.T.A. Hoffmann, Kleist und Literatur des 20. Jahrhunderts gearbeitet. 2010-14 hat sie ein vom Arts and Humanities Research Council gefördertes Forschungsprojekt zu „Heinrich von Kleist, Erziehung und Gewalt“ geleitet. Ihr nächstes Projekt wird sich mit dem Traum in der Literatur von 1750-1820 beschäftigen. (→ Forscherprofil)
Philosophische und literarische Diskurse
Gleichzeitig ist dieser scheinbar so exzentrische Text tief in den pädagogischen, philosophischen, literarischen und theatralischen Diskursen seiner Zeit verwurzelt. Obwohl die Handlung zur Zeit des Karnevals in Rom angesiedelt ist und sich nur über 18 Tage sowie eine kurze Coda ein Jahr später erstreckt, ist das Capriccio dennoch als ein phantastisch verzerrtes komisches Gegenstück zu Goethes Wilhelm Meister zu lesen, nämlich als romantischer Bildungsroman des Helden Giglio.[3] Hinter der scheinbar chaotischen Handlung wird die ordnende Hand des Scharlatans Celionati sichtbar, dessen Versuch, eine andere Art des Sehens zu lehren, allegorisch mit dem Verkauf übergroßer Brillen signalisiert wird. Celionati sorgt dafür, dass der mittellose eitle Schauspieler Giglio mit Hilfe von Karnevalsmaskierungen einerseits seinen Traum vom besseren Leben verfolgt und andererseits gleichzeitig lernt, worauf es dabei denn eigentlich ankommt, nämlich ein selbstkritisches und humorvolles Bewusstsein von der notwendigen Balance zwischen Ideal und Wirklichkeit zu entwickeln.[4] Giglio probiert durch das Anlegen der Kostüme von commedia dell’arte-Figuren verschiedene Aspekte seines Selbst aus, wird so sein eigener Doppelgänger. Die durch Callot angeregte, aber in Hoffmanns literarischer Umsetzung durch die Komödien der Frühromantik[5] entscheidend veränderte commedia dell’arte– Kostümierung fungiert als groteske Externalisierung von psychischen Prozessen. Durch komisch-phantastische Bestrafungen wird Giglio auf seine eigenen Schwächen gestoßen und überwindet diese schließlich, indem er die Fähigkeit entwickelt, sie im Medium des Komischen zu reflektieren.
Künstlerische Selbstreflexion
Das zentrale Motiv der Notwendigkeit von Reflexion wird im Mythos vom Urdarbrunnen, den Celionati den deutschen Künstlern in Rom erzählt, vertieft. Der Mythos knüpft an das triadische Geschichtsbild um 1800[6] an: Nach dem Verlust der Einheit mit der Natur bedarf es der künstlerischen Selbstreflexion, um diese Einheit neu herzustellen. Bei Hoffmann jedoch ist der Wiedergewinn dieser Einheit explizit an die Selbstdistanz geknüpft, die dem Komischen innewohnt. Ein befreiendes Lachen erfolgt, als die Bewohner von Urdargarten sich selbst verkehrt herum im Urdarbrunnen gespiegelt sehen, also eine andere, weniger ernste Perspektive zu sich selbst einnehmen. Der Spiegelfunktion des Urdarbrunnens im Mythos entspricht das Theater auf der Gegenwartsebene der Handlung. Der theatralische Handlungsstrang des Textes bezieht sich auf den historischen Theaterstreit zwischen Pietro Chiari und Carlo Gozzi oder verallgemeinert gesagt, den Gegensatz zwischen schlechter Tragödie und guter Komödie. Vom schlechten tragischen Schauspieler, in dessen Affektationen eine Parodie des Goetheschen Schauspielstils in Weimar zu erkennen ist, [7]entwickelt Giglio sich zum heiteren commedia dell’arte-Schauspieler. Als komische Figur herrscht er über die Aufmerksamkeit der Zuschauer, und seine humorvolle Selbstdistanz befähigt ihn, den Zuschauern sowohl Vergnügen zu bereiten als auch Erkenntnis zu gewähren. Die Überwindung psychischer Zerrissenheit und die Imagination von Perfektibilität sowie eine Balance zwischen komischer Degradierung und idealistischer Transzendenz werden als Möglichkeit der Kunst gestaltet.
Anmerkungen
[1] Zum Callot-Bezug des Romans vgl. Manheimer, Schaukal, Dieterle, Bomhoff, Ricarda Schmidt.
[2] Zu den verschiedenen Handlungsebenen und ihrer Verknüpfung vgl. Strohschneider-Kohrs, Zimmermann, Nehring.
[3] Zum komischen Erzählen dieses Romans vgl. Sdun, Ringel, Scheffel.
[4] Zum versöhnlichen Telos des Textes als Synthese von Ideal und Realität vgl. Starobinski, Cramer, Saße, Wellbury, Ricarda Schmidt, Brown. Als Rehabilitation von Körper und Materie liest ihn Liebrand. Vgl. dagegen die poststrukturalistische Position, wonach die Schlusssynthese durch Ironie unterhöhlt sei bei Momberger, Kremer, Jürgens, Olaf Schmidt. Die zunächst verwirrende Oberfläche des Textes wird von poststrukturalistischen Interpreten verdinglicht als Telos des Textes. In der Verweigerung von Sinn sehen sie das bahnbrechend Neue von Hoffmanns Text, das ihn aus der Romantik heraushebe.
[5] Zur Bedeutung der Frühromantik für die Darstellung der commedia dell’artein diesem Roman vgl. Ricarda Schmidt und Scherer.
[6] Zum triadischen Geschichtsbild bei Hoffmann vgl. Zimmermann.
[7] Vgl. Eilert zu Hoffmanns Parodierung des affektierten Goetheschen Schauspielerstils in Weimar.
Literatur
- Bomhoff, Katrin: Bildende Kunst und Dichtung. Die Selbstinterpretation E.T.A. Hoffmanns in der Kunst Jacques Callots und Salvator Rosas. Freiburg i.Br. 1999.
- Brown, Hilda Meldrum: E.T.A. Hoffmann and the Serapiontic Principle. Rochester NY 2006.
- Cramer, Thomas: Das Groteske bei E.T.A. Hoffmann. München 1966.
- Dieterle, Bernhard: Erzählte Bilder. Zum narrativen Umgang mit Bildern. Marburg 1988.
- Eilert, Heide: Theater in der Erzählkunst. Eine Studie zum Werk E.T.A. Hoffmanns. Tübingen 1977.
- Jürgens, Christian: Das Theater der Bilder. Ästhetische Modelle und literarische Konzepte in den Texten E.T.A. Hoffmanns. Heidelberg 2003.
- Kremer, Detlef: E.T.A. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Berlin 1999.
- Liebrand, Claudia: Aporie des Kunstmythos. Die Texte E.T.A. Hoffmanns. Freiburg i.Br. 1996.
- Manheimer, Victor: Die balli von Jacques Callot. Ein Essay. Potsdam 1921.
- Momberger, Manfred: Sonne und Punsch. Die Dissemination des romantischen Kunstbegriffs bei E.T.A. Hoffmann. München 1986.
- Nehring, Wolfgang: Die Versöhnung von Phantasie und Realität durch den Humor: Hoffmanns Capriccio Prinzessin Brambilla. In: Ders. (Hg.): Spätromantiker. Eichendorff und E.T.A. Hoffmann. Göttingen 1997, S. 176-187.
- Ringel, Stefan: Von eitlen Schauspielern, adligen Marktschreiern und strickenden Prinzessinnen. Komisches Erzählen am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns „Prinzessin Brambilla“. Sankt Augustin 2003.
- Saße, Günter: Die Karnevalisierung der Wirklichkeit. Vom „chronischen Dualismus“ zur „Duplizität des irdischen Seins“ in Hoffmanns Prinzessin Brambilla. In: Hoffmann-Jb. 9 (2001), S. 55-69.
- Schaukal, Richard von: Jacques Callot und E.T.A. Hoffmann. In: GRM 11 (1923), S. 156-166.
- Scheffel, Michael: Die Geschichte eines Abenteuers oder das Abenteuer einer Geschichte? Poetische Autoreflexivität am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Text + Kritik. Sonderband. München 1992, 1S. 12-124.
- Scherer, Stefan: Prinzessin Brambilla. In: Detlef Kremer (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Berlin 2009, S. 237-256.
- Schmidt, Olaf: „Callots fantastisch karikierte Blätter“. Intermediale Inszenierungen und romantische Kunsttheorie im Werk E.T.A Hoffmanns. Berlin 2003.
- Schmidt, Ricarda: Wenn mehrere Künste im Spiel sind. Intermedialität bei E.T.A. Hoffmann. Göttingen 2006.
- Sdun, Winfried: E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla. Analyse und Interpretation einer erzählten Komödie. Freiburg i.Br. 1961.
- Starobinski, Jean: Ironie et Melancolie (II): La Princesse Brambilla de E.T.A. Hoffmann. In: Critique 228 (1966), S. 438-457.
- Strohschneider-Kohrs, Ingrid: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung [1960]. Tübingen 21977.
- Wellbery, David: Rites de passage: Zur Struktur des Erzählprozesses in E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla. In: Gerhard Neumann (Hg.): „Hoffmaneske Geschichte“. Zu einer Literarturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Würzburg 2005, S. 317-335.
- Zimmermann, Hans Dieter: „Der junge Mann leidet an chronischem Dualismus“. Zu E.T.A. Hoffmanns Capriccio Prinzessin Brambilla. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Text + Kritik. Sonderband. München 1992, S. 97-111.
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