Literaturempfehlung
Für eine sehr genaue Analyse vieler Werke Dostojewskis auf Hoffmann-Elemente und Bezüge wird empfohlen:
Passage, Charles Edward: Dostoevski the Adapter. A Study in Dostoevski’s Use of the Tales of Hoffmann. Chapel Hill 1954.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Seminars „E.T.A. Hoffmann und Europa“, das das Team E.T.A. Hoffmann Portal im Sommersemester 2019 am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin angeboten hat. Insgesamt 16 Studierende hatten sich in diesem Seminar einerseits mit Autoren aus dem europäischen Ausland beschäftigt, die E.T.A. Hoffmanns Werk beeinflusst haben, und andererseits mit Zeitgenossen und späteren Autoren, die sich von E.T.A. Hoffmann inspirieren ließen. Die besten Arbeiten, die zum Teil von den Studierenden selbst webgerecht aufbereitet wurden, konnten im Portal veröffentlicht werden.
Fleur-Nicole Riskin, geb. 1998, studiert seit Oktober 2017 Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Anglistik an der Freien Universität Berlin. Sie ist bilingual (Deutsch und Russisch) aufgewachsen, interessiert sich sehr für verschiedene Sprachen und liest besonders gern literarische Werke, die sich mit Phantastischem beschäftigen. Außerdem schreibt sie selbst gern ab und zu Gedichte und Prosatexte. (→ Forscherinnenprofil)
11. November 1821: Fjodor Michailowitsch Dostojewski wird in Moskau geboren. Er wächst in einem sehr religiös orientierten Haushalt auf und studiert später militärische Ingenieurtechnik und russische und französische Literatur in St. Petersburg.
1840er: Beginn mit dem Schreiben und Herausbringen einer Reihe von kleineren Prosaerzählungen.
1849: Er wird als Mitglied der regierungskritischen Gruppe der Petraschewzen verhaftet und zu Straflager und Militärdienst verurteilt.
1859: Dostojewski schafft es, nach St. Petersburg zurückzukehren. Danach veröffentlicht er seine kürzeren Werke in Zeitschriften wie Wremja und Epocha, die er auch mitbegründet hatte.
1860er: Entstehung seiner sechs großen Romane (Schuld und Sühne, Der Spieler, Der Idiot, Die Dämonen, Der Jüngling, Die Brüder Karamsow) und weitere Prosa- und nichtfiktionale Texte.
9. Februar 1881: Fjodor Dostojewski stirbt an Lungenblutungen in St. Petersburg, nachdem er jahrelang an Epilepsie und eine Zeit lang an Spielsucht gelitten hatte.
„Das Werk Fjodor M. Dostojewskis (1821-81) zählt zu den überzeugendsten Leistungen kreativer Aneignung Hoffmannscher Erzählkunst. Seine frühen Erzählungen, aber auch seine späteren berühmten Romane verdanken dem deutschen Vorbild einen wesentlichen Teil ihrer Motive und Einstellungen zu Traum und Wirklichkeit, Persönlichkeit und Freiheit.“[1]
Frühe Hoffmann-Rezeption in Russland
Übernehmen und Weiterführen von Elementen
Da Hoffmanns Werk in Russland in den 1820er Jahren – kurz nach Hoffmanns Tod – besonders stark rezipiert und viel übersetzt wurde, kann man sagen, dass Dostojewski direkt in die erste große Welle der Hoffmann-Rezeption in Russland hineingeboren wurde. So zeigt sich sein persönliches Interesse an Hoffmanns Werken schon in jungen Jahren: In einem Brief vom 9. August 1838 an seinen Bruder Michail schreibt der damals siebzehnjährige Dostojewski, dass er bereits alles von Hoffmann auf Russisch und auf Deutsch gelesen habe, darunter das Original von Lebens-Ansichten des Katers Murr.[2] Und wie auch schon andere russische Schriftsteller, die Hoffmann gelesen hatten, vor ihm adaptierte Dostojewski einiges aus dessen Werken in seine eigenen.
Für sein eigenes Schreiben eignete sich Dostojewski aber nicht alle Aspekte von Hoffmanns Schreibstil und Thematiken an – was in der Hoffmann-Rezeption durch russische Schriftsteller durchaus die Norm war.[3] Stattdessen wurde nur das herausgegriffen, was den jeweiligen Autor besonders interessierte, was seinen eigenen Ideen und Denkweisen entsprach; in Dostojewskis Fall handelte es sich dabei anfangs um Elemente der Mystik und der dunklen Phantastik, später vor allem um Hoffmanns Arbeit zur menschlichen Psyche und deren Beschreibungen, darunter besonders Motive des Wahnsinns und des psychisch zerrissenen Menschen. Dieser Übergang deutet bereits die Entwicklung von Dostojewskis Werk weg vom Phantastischen und hin zum (psychologischen) Realismus und somit weg von Hoffmanns phantastischer Ästhetik an. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass es sich bei Dostojewski um den wohl herausragendsten russischen Adapter Hoffmannscher Erzählkunst handelt. Und im Folgenden soll an einigen ausgewählten Beispielen dargestellt werden, warum dies so ist.
Motive dunkler Phantastik
Ein deutlicher Einbezug Hoffmanns in Dostojewskis Werk zeigt sich im Umgang Dostojewskis mit Motiven der dunklen Phantastik: In vielen Werken, die Phantastisches enthalten, baut er wie Hoffmann die phantastischen Elemente in alltägliche Situationen ein und erzeugt dadurch eine unsicher erscheinende Welt – eine Wirklichkeit mit einer möglichen phantastischen Dimension dahinter. Zu den besagten Motiven gehören zum Beispiel das Eindringen von Teufel oder Dämonen in den Alltag durch Verzauberungen, dunkle Verbrechen und unlösbare Geheimnisse. Dabei tauchen neben Dämonen vor allem die Motive des Doppelgängers und des Wahnsinns immer wieder auf. All diese Motive sind jedoch im Gegensatz zu ihrem Einsatz in Hoffmanns Werken deutlich negativer konnotiert.[4]
Das zeigt sich bereits 1846 in einer der ersten Erzählungen Dostojewskis, die den Titel Dvojnik (Der Doppelgänger) trägt. Sie erzählt die Geschichte eines Beamten, der durch einen Doppelgänger erst seine Positionen und schließlich auch seinen Verstand verliert und in die Psychiatrie eingewiesen wird, während sein Doppelgänger berufliche und private Aufstiege genießt. Diese Nutzung der Motive des Doppelgängers, der Persönlichkeitsspaltung und des Wahnsinns weist deutliche Parallelen zu Hoffmanns Die Elixiere des Teufels, Lebens-Ansichten des Katers Murr und Der Sandmann auf. Die Elixiere des Teufels scheint eine besonders starke und vielseitige Inspiration für Dvojnik und andere Werke Dostojewskis gewesen zu sein.
„[T]he astonishing thing is the transformation of the material in Dostoevski’s hands. Die Elixiere des Teufels is an admirable work but of the second order of greatness. It is of silver; Dostoevski turns it into gold. Both the process and the result set Dostoevski apart, – and far above –, all preceding Russian Hoffmannists. He was the only one of them who had the insight and the genius to dominate so large a model and to conceive so vast a plan of transformation.“[5]
Motiv der Psyche
Außerdem lassen diese Motive bereits Dostojewskis starkes Interesse an der menschlichen Psyche zutage treten; die psychologische Schilderung überwiegt gegenüber der eigentlichen Handlung, wodurch die Erzählung trotz der phantastischen Elemente näher am Psychologischen als am Magischen ist.[6]
Rezeption Nikolai Gogols
Auch weitere Werke Dostojewskis arbeiten mit ähnlichen Motiven und sind in erster Linie mit denselben und weiteren Werken Hoffmanns vergleichbar. So zum Beispiel die Novelle Hozaijka (Die Wirtin) von 1847 und der Roman Njetotschka Neswanowa von 1849, deren Inhalt und Figurengestaltung geprägt sind von Hypnotisierung, zwielichtiger dunkler Magie, Wahnsinn und Doppelgängern. Darüber hinaus erinnern diese Werke nicht nur an Hoffmann, sondern auch an den russischen Schriftsteller Nikolai Gogol, der Hoffmann ebenfalls stark rezipiert und in sein Schreiben integriert hat. In diesem Kontext ist das Herausragende an den Werken Dostojewskis, dass er nicht einfach von Hoffmann oder Gogol kopiert hat, sondern die übernommenen Motive, Themen, etc. auf seine ganz eigene Weise aufgegriffen und verwertet oder umgewertet hat.
„[Dostoevskij’s adaptations from Hoffmann and Gogol] are ingenious in the extreme, utterly removed from any sphere governed by the word plagiarism, and the creations of a genius who understood that a source work was only a point of departure and that all merit lay in the development of the matter. The evidence forces the conclusion that [Dostoevskij] operated with awareness and astounding skill on the basis of a formula: Hoffmann-plus-Gogol’-plus-Dostoevskij, with shifting proportions but with a tendency to favour Hoffmann over Gogol’.”[7]
Transformationsprozess
In seinen späteren, großen Romanen lässt sich die Anwendung dieses Prinzip immer noch nachverfolgen, wobei das am meisten verwendete Werk Hoffmanns hier Die Elixiere des Teufels zu sein scheint. So ist zum Beispiel der Protagonist von Prestuplenniye i nakazanije (Schuld und Sühne, in der Neuübersetzung von Swetlana Geier Verbrechen und Strafe), Rodion Romanowitsch Raskolnikow, hin und her gerissen zwischen Gut und Böse. Ein ähnlicher Vorgang, aber in unterschiedlichen Weisen und Abstufungen ereignet sich auch im letzten Roman Dostojewskis, Bratja Karamasowy (Die Brüder Karomasow). Einerseits überwiegt somit der psychologisch-realistische Schreibstil Dostojewskis in seinen großen Romanen deutlich stärker als in den früheren Texten – Phantastik und Magie haben nun vollständig dem Realismus und der Analyse der menschlichen Psyche Platz gemacht. Andererseits weist gerade dies auf die besondere Arbeitsweise Dostojewskis mit Hoffmanns Werken hin: Er verwertet nicht einfach Elemente aus Hoffmanns Werken wieder, sondern nutzt sie als Quellpunkt und entwickelt von dort aus seine eigene Schreibweise, um seine eigenen Ansichten auszudrücken. Somit kann mit recht behauptet werden: „Everything about Dostoevskij’s Hoffmanizing work is extraordinary.”[8]
Für eine sehr genaue Analyse vieler Werke Dostojewskis auf Hoffmann-Elemente und Bezüge wird empfohlen:
Passage, Charles Edward: Dostoevski the Adapter. A Study in Dostoevski’s Use of the Tales of Hoffmann. Chapel Hill 1954.
[1] Hädrich, Aurélie: Die Anthropologie E. T. A. Hoffmanns und ihre Rezeption in der europäischen Literatur im 19. Jahrhundert. Eine Untersuchung insbesondere für Frankreich, Rußland und den englischsprachigen Raum mit einem Ausblick auf das 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2001 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1802). S. 47.
[2] Vgl. Dostojewski. Briefe. Erster Band. Aus dem Russischen von Waltraud Schroeder, Wolfram Schroeder und Andreas Pham. Ausgewählt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ralf Schröder. Frankfurt am Main 1990. S. 7.
[3] Vgl. Маймин, Э [Maijmin, E.].: „Гофман в Россие“ [„Gofman w Rossie“], in: Вопросы Литературы [Woprosy Literatury] 22 (1978). H. 5. S. 285-290. Hier: S. 286.
[4] Vgl. Hädrich: Die Anthropologie E. T. A. Hoffmanns und ihre Rezeption in der europäischen Literatur im 19. Jahrhundert, S. 46.
[5] Passage, Charles Edward: Dostoevski the Adapter. A Study in Dostoevski’s Use of the Tales of Hoffmann. Chapel Hill 1954. S. 175.
[6] Vgl. Passage, Charles Edward: The Russian Hoffmannists. Mouton 1963. S. 200.
[7] Passage: The Russian Hoffmannists, S. 212.
[8] ebenda, S. 238.