Seriösere Zeichnungen
Hoffmann fertigte auch einige seriöse Zeichnungen für Freunde und Bekannte an. Größerer Bekanntheit erfreuen sich zwei Gouachen aus der Bamberger Zeit. Es handelt sich zum einen um ein Bild der Familie Kunz, zum anderen um ein Selbstbildnis mit Dr. Marcus.
Volkmar Rummel studierte 2004-2010 die Fächer Deutsch und Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Nach dem 1.Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien promovierte er in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft über Erzählungen von E.T.A. Hoffmann, Jean Paul und Adalbert von Chamisso (→ Forscherprofil).
Bild der Familie Kunz
Erstaunlicherweise existiert keine einzige Zeichnung von Hoffmanns Frau.
Näher besprochen werden soll hier das Familienbild, das „vor August 1812“ datiert wird. Es stammt aus Hoffmanns Bamberger Zeit und verewigt Hoffmanns Verleger Carl Friedrich Kunz im Kreise seiner Familie.[1] Die Gouache entstand über einen längeren Zeitraum und zeichnet sich durch ein hohes Maß an Inszenierung der abgebildeten Personen aus – wäre es ein Foto, würde man das Ergebnis „gestellt“ nennen.
Die Räumlichkeit, die Ausstattungsgegenstände und die „Personenkonstellation“ sind hier von Interesse. Zu sehen ist die Wohnstube des Weinhändlers und Verlegers Kunz in Bamberg, der zusammen mit Hoffmann eine Leihbibliothek aufbaute. Fast die Hälfte des Hintergrunds nimmt ein dunkler Vorhang ein, den einige Interpreten theatral in seiner Wirkung empfinden.[2] Auch die Untersicht der Figurengruppe entspricht einer damals üblichen Bühnen-Ansicht. Hoffmann, der sich spätestens für seine Ausstatter-Tätigkeit am Bamberger Theater mit perspektivischem Zeichnen und räumlicher Illusionsbildung auseinandergesetzt haben muss, unterlaufen scheinbar gravierende Fehler. Die Fluchtpunkte von der Fensterlaibung und des Musters vom Bodenbelag liegen leicht auseinander. Dies führt zu einer Art Illusionsdurchbrechung wie die oft irritierende Verteilung des Lichtes.[3] Verschiedene Lichtquellen sorgen für „Spotlight“ auf den Personen und Gegenstände, die hervorgehoben werden sollen.[4] Ausgehend von den Schatten in der Fensteröffnung erkennt man, dass man eigentlich ins natürliche Gegenlicht blicken würde. Beim Fotografieren ohne Blitz wären unter solchen Bedingungen die Gesichter „schwarz“. Hoffmann scheint hier ganz gezielt eine unwirkliche Situation erschaffen zu wollen und auf „Bühnenlicht“ zu setzen. Insofern sind Ponerts Überlegungen zu der Landschaft jenseits des Fensters müßig.[5] Er vermutet, dass hier die Altenburg angedeutet sein könnte.
Unten rechts in der Ecke liegt ein aufgeschlagenes Buch, dem die Funktion einer Künstlersignatur zukommt. Es handelt sich um ein nicht realisiertes Buchprojekt (Lichte Stunden eines wahnsinnigen Musikers) von E.T.A. Hoffmann. Hier ist es vollendet und gedruckt mit Autorenbild zu sehen.[6]
Neben dem Buch lehnt eine Jagdflinte an der Wand, da der Hausherr gerne zur Jagd ging. Der Wein auf dem Tisch – und die Druckerfahnen unter dem Arm weisen auf seine beiden Berufe, Weinhändler und Verleger hin. Kunz stellt eindeutig das Zentrum der Komposition dar.[7]
Von links nach rechts sind folgende Personen dargestellt: Tochter Emilie Kunz (5 Jahre), Carl Friedrich Kunz (27 Jahre), Wilhelmine Kunz (25 Jahre) und Carl Friedrich Kunz Schwägerin Louise Beller (29 Jahre).[8] Ähnlich wie das fiktive Buch, verweist die heute noch erhaltene Tischdecke auf eine nicht dargestellte Person: die Schwiegermutter als Urheberin der Handarbeit.[9]
Alle Blicke sind auf den Kopf des Auftraggebers ausgerichtet, so dass auch die Aufmerksamkeit des Betrachters auf ihn gelenkt wird. Frau und Tochter haben über die Hände mit ihm Körper-Kontakt. Die unverheiratete Schwägerin, deutlich kleiner, sitzt rechts im Abseits. Die hochgewachsene Frau Kunz steht schräg hinter ihrem sitzenden Mann und ist damit ihm „übergeordnet“. Ihre Schwester würdigt sie keines Blickes. Man könnte viele Mutmaßungen anstellen, wer hier offiziell und inoffiziell das Sagen hat, wie es um die Harmonie in der Familie steht, etc. Einige Jahre nach Hoffmanns Bamberger Zeit trennten sich die Eheleute. Hoffmann soll nach seiner Julia-Affäre für Frau Kunz geschwärmt haben.[10] Das schon durch die Ausleuchtung unheimlich wirkende Bild steckt voller Spannungen. Die sorgfältige, geometrische Anordnung der Figuren reibt sich an der Polyperspektivität;[11] die relativ lebensecht wirkenden Gesichter an den misslungenen Händen, die an Handschuhe erinnern.
Selbstbildnis mit Dr. Marcus
Eine zweite Gouache aus der Bamberger Zeit schuf Hoffmann für seinen Freund Dr. Marcus.[12] Der fortschrittliche Arzt gewährte ihm Einblicke in die moderne Medizin und das von ihm betreute Irrenhaus St. Getreu,[13] was sich in Hoffmanns literarischem Werk deutlich niederschlägt.
Auf dem Bild sind Dr. Marcus in seiner bürgerlichen Ausgehkleidung und Hoffmann in einem antikisierenden Gewand zu sehen. Die Frage ist, wer führt wen – der Arzt den Dichter oder umgekehrt? Seit Maassen hält sich hartnäckig eine Mutmaßung, das Motiv spiele auf Dantes Göttliche Komödie an.[14] Auf den Punkt gebracht, besagt die Interpretation folgendes: Hoffmann führt als Vergil Dr. Marcus alias Dante – in Richtung Unterwelt, durch die Hölle zum Himmel. Erst aus der Berliner Zeit existiert ein Beweis, dass Hoffmann Dantes Werk irgendwann zu einem früheren Zeitpunkt gelesen hat. Die Interpretation ist damit nicht völlig unmöglich. Dass Hoffmann mit dem Wahnsinn kokettierte, Wahnsinnige sich öfters für andere Personen halten und Dr. Marcus dies aus therapeutischen Gründen zum Schein akzeptierte, ist bekannt.[15] Daher stellt sich Hoffmann möglicherweise als „Patient“ von Dr. Marcus dar. Den Rezensenten und Förderer des Bamberger Theaters als Teil eines Rollenspiels darzustellen, ist kein abwegiger Gedanke. Wie auch im Kunz‘schen Familienbild wird durch die Lichtführung eine Bühnen-Atmosphäre geschaffen.
Hier gelingt einem Romantiker die Poetisierung des Alltags, indem er die Welt als Bühne auffasst – den Topos des Welttheaters aufgreift, dessen sich übrigens schon Calderón de la Barca bediente. Auch den gezeichneten Theaterbrand in Berlin könnte man vor dem Kontext sehen. Kommen wir auf die Interpretation des Bildnisses für Dr. Marcus zurück: sie bleibt trotz aller Plausibilität in weiten Teilen reine Spekulation.
Federzeichnung von Hoffmann
Zuletzt seien noch ganz kurz ein paar detailreiche Federzeichnungen von Hoffmann erwähnt, mit denen er z.B. sich selbst, Chamisso und das Ehepaar Hitzig bedachte.[16] Die Qualität ist unterschiedlich, was den Detailreichtum anbelangt. In den beiden ersten Fällen könnte man meinen, dass jedes Haar auf den Köpfen einzeln gezeichnet wurde. In der Reproduktion wirkt Chamisso leicht idealisiert. Das Doppelporträt der Hitzigs ist zu klein, um viele Einzelheiten wiedergeben zu können. Grundsätzlich scheint sich Hoffmann um erkennbare, lebensechte Gesichter bemüht zu haben. An den Kindern des Freundes Hitzig hatte er solchen Narren gefressen, dass er zwei Märchen für sie verfasste und den kleinen Fritz sogar bildlich festhielt.[17] Auf einem Stuhl posiert er mit Säbel, Soldatenfigur und Blechtrommel. Kinder halbwegs glaubhaft zu zeichnen ist schwierig – und ihm doch erstaunlich gut gelungen. Nicht zu Unrecht war er von seinen Fähigkeiten als Porträtmaler überzeugt. Bekannte Personen brachte Hoffmann übrigens nicht nur als Brustbilder, sondern auch als Sitzende zu Papier. So hielt er den Schriftsteller Zacharias Werner oder Herrn und Frau Kunz einzeln fest.[18]
Anmerkungen
[1] Dazu vgl. Ponert 2012 (Text), 204ff.
[2] Vgl. Langer 1980, 203.
[3] Vgl. dieselbe, 204.
[4] Vgl. ebd.
[5] Vgl. Ponert 2012 (Text), 204ff.
[6] Vgl. ebd.
[7] Vgl. ebd.
[8] Berechnet nach ebd.
[9] Vgl. Schemmel 2013, 100f.
[10] Vgl. Langer 1980, 200.
[11] Zum Spiel mit den Perspektiven des Betrachters im Zusammenhang mit Zeichnungen vgl. Latifi, Kaltërina und Mattuschek, Oliver: Dall Occa. Concertspielen. Eine Zeichnung von E.T.A. Hoffman aus der Sammlung Stefan Zweig. Bamberg, Salzburg 2015.
[12] Vgl. Ponert 2012 (Text), 156ff.
[13] Vgl. Grünbeck, Wolfgang: Der Bamberger Arzt Dr. Adalbert Friedrich Markus. Erlangen, Nürnberg 1971.
[14] Vgl. Hoffmann, E.T.A: E.T.A. Hoffmanns Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe mit Einleitungen, Anmerkungen und Lesarten von Carl Georg von Maassen. Band 6. Carl Georg von Maassen (Hg.). München, Leipzig 1912, 403.
[15] Vgl. Grünbeck 1971.
[16] Vgl. Ponert 2012 (Text), 129f. und 276ff.
[17] Vgl. ders., 244.
[18] Vgl. ders., 112ff. und 164f.