Hoffmanns Werke sollen sowohl als intertextueller Bezug, als künstlerische Inspirationsquelle wie auch als Gegenstand der Forschung analysiert werden.[1] Der Begriff „Rezeption“ zieht deshalb die Wirkungs-, Entstehungs- und Forschungsgeschichte in Betracht und wird schon im 19. Jahrhundert verwendet.[2] Kurzum sind Hoffmanns Schriften zu dieser Zeit oft veröffentlicht und wissenschaftlich rezipiert aber auch wegen des „kranken“ Hangs seiner Figuren zu dem Wahnsinn und dem fantasievollen, grotesken Unheimlichen von Autoren wie Wolfgang von Goethe oder Walter Scott abgelehnt worden.
Dr. Ingrid Lacheny ist Dozentin (Maître de conférences) am UFR Arts, Lettres et Langues der Université de Lorraine in Metz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. deutsche Romantik, Narratologie und Fantastik. In zahlreichen Artikeln und Monographien hat sie sich mit dem Werk E.T.A. Hoffmanns beschäftigt.
Verschiedene Sichten auf Hoffmann
In Deutschland war Hoffmann um 1815 als Schriftsteller der Fantastik und der Romantik etikettiert, als auch Heinrich Heine Hoffmanns Entfernung von der puren Romantik zu preisen pflegte. Diese Tendenz nimmt aber mit den Jahren beträchtlich ab. In Frankreich, in England (Edgar Allan Poe) oder in Russland (Nikolaj Gogol, Fedor Dostojewski)[3] fanden Hoffmanns Werke eine andere Resonanz: Charles Baudelaire war beispielsweise einer der Ersten, die Hoffmanns „absolute Komik“ hervorhoben (Vom Wesen des Lachens, 1855), und Théophile Gautier, Honoré de Balzac oder Gérard de Nerval ließen sich von der Dualität und der Vielseitigkeit seiner Kunst inspirieren. (Geschichts)philosophische, erzähltheoretische, ästhetische und später psychoanalytische[4] Analysen und Interpretationen sind somit eng mit dieser künstlerischen Vielfalt verbunden (Wulf Segebrecht).[5] Hoffmann tritt als geschickter Maschinist und poetischer Seher auf, der seine (internationale) Leserschaft mit Wonne manipuliert und täuscht.
Die aktuelle Forschung betrachtet Hoffmann als Autor, als Künstler und auch als Mensch, und pflegt dabei seine Tagebücher, seine Briefe und den historischen Kontext zu analysieren, um die intertextuellen Quellen und Einflüsse in seinen Werken zu verstehen und im Stande zu sein, die Erzählungen präziser zu erläutern. Das Gesamtwerk wird aber leider nicht systematisch aufgewertet. Deshalb sind Biographien von Belang (Wittkop-Ménardeau, Gabrielle: E.T.A. Hoffmann, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1992 © 1966; Steinecke, Hartmut: Die Kunst der Fantasie. E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk. Frankfurt am Main 2004, Kremer, Detlef (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Berlin 2009).[6]
Stark rezipierte Aspekte
Das Doppelgängertum, das Unheimliche/ Dämonische, das Serapiontische Prinzip/ der Dualismus/ die Erzähltechniken, der Wahnsinn/ die Augenproblematik, das Fantastische, die Künstlerproblematik haben das Interesse der Forscher immer wieder erregt. Seit etwa vierzig Jahren sind die Aspekte des Karnevalesken, des Kunstmärchenhaften (in Russland, in Italien) oder der Narratologie hinzugekommen:
„Vor allem die gegenwärtige Hoffmann-Forschung im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert hat eine Vielstimmigkeit an Perspektiven und Methoden erreicht, die sich kaum mehr systematisieren lässt“.[7]
Die Diskursanalysen und die Untersuchungen unter dem Blickwinkel der Intermedialität gehören zu den beliebten Themen der aktuellen Hoffmann-Forschung und haben das Interesse für die Psyche, für die Naturphilosophie und für das Unbewusste jetzt übertroffen. Über die Problematik der Psychiatrie (Friedhelm Auhuber), der Medizin (Patricia Tap) und des animalischen Mesmerismus (Jürgen Barkhoff) hinaus setzt die Forschung den Akzent auf die Poetik und auf die Ästhetik durch das Motiv der Arabeske (Günter Österle, Gerhard Neumann) und des Grotesken (Gerhard Neumann, Detlef Kremer, Hartmut Steinecke).
Rezeption in anderen Künsten
Das Hoffmanneske Genre verkörpert die serpentinische, heterogene Fantastik[8] und die anamorphische Plastik: Die Künste sind miteinander verschmolzen und nehmen das Ideal des Gesamtkunstwerkes vorweg. Hoffmann war nämlich nicht nur Schriftsteller, sondern auch Karikaturist, Jurist und Musiker (Vgl. u.a. Gerhard Allroggen, Klaus-Dieter Dobat, Werner Keil), was Maler wie Paul Klee oder Komponisten wie Offenbach, Schumann oder Tschaikowsky (Der Nußknacker) beeinflusste. Hoffmann, der oft illustriert und inszeniert worden ist, stellt eine bedeutsame Inspirationsquelle für visuelle und performative Künste dar: z.B. durch die Grafik mit Steffen Faust oder auf der Bühne (Oper, Ballett und Theater) mit Rainer Lewandowski (E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 17 (2009), S. 88, S. 174-198), um nur zwei Beispiele im deutschsprachigen Raum zu erwähnen. Wir verweisen hier auf das ausführliche Verzeichnis der Produktionen des E.T.A. Hoffmann-Theaters Bamberg zu E.T.A. Hoffmann (1998-2009, E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 17 (2009), S. 196-198).
Neue Hoffmann-Ausgaben regen die Rezeption an
Die immer wieder aktualisierten und interpretierten Schriften Hoffmanns betten sich in den Rezeptionsprozess ein: Die schöpferische Kraft der Rezeption trägt dazu bei, Hoffmann als Klassiker einzuordnen. Die Veröffentlichung der sämtlichen Werke hat auch die internationale Germanistik „erleichtert“ und auch viel Material für Studierende und Doktoranden zur Verfügung gestellt (Allroggen, Gerhard (Hg.) u.a.: E.T.A. Hoffmann. Sämtliche Werke. 6 Bde. Frankfurt am Main 2001-2003).
Rezeption in Asien
Für manche Komparatisten oder Nicht-Germanisten spielen auch die Übersetzungen als einziger mittelbarer Zugang eine entscheidende Rolle. Hoffmann wird aber oft von der internationalen Rezeption karikiert oder unterschätzt und nicht systematisch ausgewertet. Min Suk Choe betont dieses Phänomen[9] in Bezug auf Korea in zwei Artikeln: Der Forscher weist darauf hin, dass komparatistische Analysen und Übersetzungen als Vorlage für Texterläuterungen dienen, was sich methodologisch als problematisch erweist. Die zum Teil fehlerhaften Übersetzungen verfälschen den Zugang zu Hoffmanns Werken. Zudem geht es oft um Übersetzungen aus zweiter Hand, d.h. aus dem Japanischen ins Koreanische. Eine echte Frage nach der Vermittlung wird also gestellt. Eine vertiefte Studie der Rezeption in Asien wäre in dieser Perspektive interessant. Wenn die Koreaner nach der Meinung von Min Suk Choe Realisten sind und der imaginären Welt gegenüber Vorurteile hegen, wie sieht es mit den Japanern oder mit den Chinesen aus?
Rezeption in Europa
In den europäischen Ländern oder in den Nachbarländern ist der Prozess etwas vereinfacht, wie Aurélie Hädrich es am Anfang des 21. Jahrhunderts betont hat[10], indem sie die Hoffmann-Rezeption in Frankreich, in England und in Russland untersucht hat. Was Frankreich anbelangt, so haben Ute Klein (2000)[11] oder Andrea Hübener (2004) genaue Studien vorgelegt. Die Beziehung zwischen Hoffmann und Italien analysierten u.a. Ronald Götting (1992)[12], Sandro M. Moraldo (2002)[13], Uwe Petry (2007)[14] oder Tiziana Corda (2012)[15]. In Spanien (Arno Gimber (1991) oder Sonia Santos Vila (2002)[16]), in den Niederlanden (Henk J. Koning (1992)[17]), in Polen[18] oder in Bulgarien (Elena Nährlich-Slateva (1998)[19] werden auch die Werke Hoffmanns und deren Wirkung im Land interpretiert.
Autor der Weltliteratur
Hoffmanns Werke besitzen ein beträchtliches „Modernitätspotential“ (Petry: 2007, S.129) in Sachen Metafiktion, Erzähltechniken und -methoden. Hoffmanns Problematiken gelten nicht als überholt oder veraltet: Haben die Ästhetik und die Genialität Hoffmanns zwar bestimmte Epochen beeinflusst (Vgl. die DDR-Literatur. Siehe Autoren wie Ingo Schulze, Anna Seghers, Franz Fühmann[20] und Christa Wolf), so gehört der deutsche Autor nun zum „Kanon der Weltliteratur“[21], wie es die interdisziplinären, multiperspektivischen Rezeptionsarbeiten mit intermedialen Aspekten deutlich hervorheben.
Anmerkungen
[1] Vgl. Literaturverzeichnis, in: Kremer, Detlef (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Berlin 2009, S. 617-656.
[2] Vgl. langjährige und detaillierte Arbeit von Andreas Olbrich seit 1999 im Hoffmann-Jahrbuch: Sekundärliteratur, literaturkritische Rezeption und Abdruck der Quellen.
[3] Vgl. Gisela Vitt-Maucher: Träumer und narratives Medium bei Hoffmann, Poe, Dostojewski und Stolper. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 1 (1992/93), S. 174-183.
[4] Vgl. Studien von Sigmund Freud, Jacques Lacan, Michel Foucault.
[5] Vgl. Segebrecht, Wulf: Hoffmann, erzählt. Sein Ich und sein Werk im Vervielfältigungsglas neuerer Prosa. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 1 (1992/93), S. 184-198.
[6] Vgl. Steinecke, Hartmut: Hoffmanns Romanwerk in europäischer Perspektive. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 1 (1992/93), S. 21-35; Ders.: E.T.A. Hoffmanns zeitgenössische Rezeption. Neue Zeugnisse. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 3 (1995), S. 70-83.
[7] Kremer, Detlef (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Berlin 2009, S. 593.
[8] Vgl. Steinecke, Hartmut (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2006.
[9] Min Suk Choe: Vermittlung europäischer Kultur in Korea am Beispiel eines deutschen Romantikers: E.T.A. Hoffmann. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 1 (1992/93), S. 209-223 und Ders.: E.T.A. Hoffmann in Korea. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 14 (2006), S. 124-141.
[10] Hädrich, Aurélie: Die Anthropologie E.T.A. Hoffmanns und ihre Rezeption in der europäischen Literatur im 19. Jahrhundert. Eine Untersuchung insbesondere für Frankreich, Russland und den englischsprachigen Raum, mit einem Ausblick auf das 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2000.
[11] Hübener, Andrea: Kreisler in Frankreich. E.T.A. Hoffmann und die französischen Romantiker (Gautier, Nerval, Balzac, Delacroix, Berlioz). Heidelberg 2004; Klein, Ute: Die Produktive Rezeption E.T.A. Hoffmanns in Frankreich. Frankfurt am Main 2000.
[12] Götting, Ronald: E.T.A. Hoffmann und Italien. Peter Lang 1992
[13] Sandro M. Moraldo (Hg.): Das Land der Sehnsucht: E.T.A. Hoffmann und Italien. Heidelberg 2002.
[14] Petry, Uwe: Romantik im Rückspiegel. Die Bezugnahme auf E.T.A. Hoffmann seitens der italienischen Neoavantgarde. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 15 (2007), S. 129-134.
[15] Corda, Tiziana: E.T.A. Hoffmann und Carlo Gozzi: der Einfluss der Commedia dell’ Arte und der Fiabe Teatrali in Hoffmanns Werk. Würzburg 2012.
[16] Santos Vila, Sonia: E.T.A. Hoffmann en sus narraciones fantasticas: Sueños, visiones y alucinaciones del Totalkünstler. Madrid 2002.
[17] Koning, Henk: Die E.T.A. Hoffmann-Rezeption in der niederländischen und flämischen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 1 (1992/93), S. 167-173.
[18] Jaroszewski, Marek: Życie i twórczość E.T.A. Hoffmanna 1776-1822 (2006)
[19] Nährlich-Slateva, Elena: Die Rezeption E.T.A. Hoffmanns in Bulgarien. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 6 (1998), S. 50-71.
[20] Vgl. Kohlhof, Sigrid: Franz Fühmann und E.T.A. Hoffmann. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 1 (1992/93), S. 199-208.
[21] Friedhelm Marx: Die Rezeption E.T.A. Hoffmanns in der Gegenwartsliteratur. Ein Streifzug durch das Werk Ingo Schulzes. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 17 (2009), S. 166-173, hier: S. 166.