E.T.A. Hoffmann lebt in Russland weiter
Über die russische Illustration zu E.T.A. Hoffmann zu schreiben ist allein aus sprachlichen Gründen ein Wagnis oder besser gesagt: kaum möglich. Übersetzungsfehler bei den Namen der Künstler und bei den Bildtiteln müssen trotz der Hilfe von Übersetzern in Kauf genommen werden. Zudem ist es schwer, Informationen zu ihrer Biografie zu bekommen. Manchmal fehlen selbst die Vornamen und die Lebensdaten – trotz der Kontakte zu russischen Sammlern. Weil ein Überblick, der diesen Namen verdient, deswegen nicht geschrieben werden kann – das wäre die Aufgabe eines russischen Kunstwissenschaftlers[1] – sind schon etliche russische Künstler mit ihren Illustrationen zu Hoffmanns Werk zuvor erwähnt bzw. zum Vergleich herangezogen wurden. So können hier nur ein paar Beobachtungen formuliert werden, die aus dem zur Verfügung stehenden Material gewonnen wurden.
Elke Riemer-Buddecke beforscht seit vielen Jahren Hoffmanns Illustrationsgeschichte. 1976 publizierte sie das inzwischen als Standardwerk geltende Buch E.T.A. Hoffmann und seine Illustratoren (Gerstenberg Verlag). Aktuell beschäftigt sich Riemer-Buddecke mit Hoffmann-Porträts. (→ Forscherprofil)
Verehrung Hoffmanns in Russland
Schon während des 19. Jahrhunderts erreichten Hoffmanns Erzählungen in Russland geradezu Kultstatus[2] und das gilt bis heute, eigentlich sogar noch potenziert. Dichter von Rang wie Puschkin, Gogol und Dostojewski ließen sich von Hoffmann beeinflussen, Tschaikowsky schrieb sein Nussknacker-Ballet nach seinem Kindermärchen Nussknacker und Mausekönig, bis heute das beliebteste Illustrationsobjekt russischer und amerikanischer Künstler. Hunderte russischer Bilderbücher gibt es dazu, ferner eine Vielzahl von faszinierenden Schülerillustrationen, die ausschließlich diesem Werk gewidmet sind.
E.T.A. Hoffmann als in Königsberg Geborener wird von den Russen als einer der Ihren vereinnahmt. In Kaliningrad wird er fast abgöttisch verehrt. Hoffmann ist unser EIN und ALLES, so die Kunsthistorikerin und Kuratorin der Ausstellungen zu E.T.A. Hoffmann in Kaliningrad 2011, an denen 90 Künstler mit 1000 Ausstellungsstücken teilgenommen haben. Hoffmann sei nicht gestorben, er sei nach Russland gegangen. Hoffmann lebe und würde weiterleben – in Russland. Er war und bleibt eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration für jeden, der die Antwort auf die Fragen der menschlichen Existenz sucht und die Wahrheit über sich selbst erfahren will.[3]
Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde Hoffmann nach einer Phase des Vergessens im späten 19. Jahrhundert in Russland bzw. der Sowjetunion wiederentdeckt, unter anderem von den Symbolisten Balmont und Brjussow, später durch Majakowski und schließlich durch die sogenannten Serapionsbrüder von Petrograd, die in Hoffmann den Fürsprecher für eine unabhängige Kunst sahen. Die stalinistische Ästhetik versuchte zwar zusammen mit dem berühmten Philosophen und Literaturwissenschaftler Georg Lukács aus Hoffmann einen revolutionären Klassiker und Realisten zu machen, wurde aber nie wirklich warm mit ihm.[4]
So hat Gerhard Kaiser E.T.A. Hoffmanns Wirkung in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben. Das entspricht dem, was in der russischen Hoffmann-Illustration zu beobachten ist. Denn diese setzt, soweit bekannt, erst in den 1920er Jahren ein mit Arbeiten von Künstlern wie Nikolai Uljanow, Alexej Krawtschenko, Pavel Pawlinow, Nikolai Pawlowitsch Uljanoff, G. Wassilew. E.T.A. Hoffmanns Werke scheinen eine Nischenfunktion für die Flucht aus der dogmatischen sozialistischen Kultur gehabt zu haben. In dem Buch über die Russische Buchillustration, 2009 herausgegeben von Bodo Zelinski, vor allem in den Beiträgen von Baruna Steinke und Wolfgang Schrick zur Buchkunst der zwanziger Jahre und dreißiger bis siebziger Jahre, wird deutlich, dass die Künstler mittels der Buchillustration solche Nischen des freiheitlichen künstlerischen Individualismus, wie er für Hoffmann typisch ist, suchten.
In den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts konnten fünf Künstler mit Illustrationen zu Nussknacker und Mausekönig, Meister Floh, Klein Zaches genannt Zinnober und Don Juan ermittelt werden (Solokow, Fronwisin, Fiofilaktow, Rudakow und Kovarik).
Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
Illustratoren ab 1956
Alimow, Sergej
Burgunker, E.
Filippowski, Georg
Goltz, Niko
Isaew, I. W.
Jachnin, O. J.
Kostin, Andreji
Krawtschenko, Nina Alexejewna
Petrowa von Kuguschew, Tatjana
Spirin, Gennadija
Sveshnikov, Boris
Tartarinova, I.S.
Vinogradowa, Ali
Illustratoren ab 1990
Antonow, Alexander
Bagautdinow, Anwar
Gawritschkow, Michail
Gordeew, Dimitri
Goshko, Anya
Ionin, Fedor
Nikitina, Tatjana
Oleinikov, Igor
Shemjakin, Michail
Slauk, Valeri
Taranin, Alexej
Traugot, Alexander
Vinogradov, Petrovic
Ab 1956, nach Stalins Tod (1953), blühte die Hoffmann-Illustration auf, gab es namhafte Künstler, die sich seinem Werk zuwandten, teils mit großer Intensität und wiederholt. Nika Goltz hat ab 1958 bis zu ihrem Tod viele Erzählungen Hoffmanns illustriert (acht Bücher), manche wie den Goldenen Topf, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Nussknacker und Mausekönig und Klein Zaches genannt Zinnober mehrfach in immer neuen Variationen und von ungemeiner Kreativität. Tatjana Petrowa von Kuguschew und Boris Sveshnikov zeigten sich vergleichbar engagiert.
Ab den 1990er Jahren ist die Hoffmann-Illustration in Russland nahezu explodiert: 110 Künstler, darunter viele aus dem Umkreis von Kaliningrad (Königsberg), Hoffmanns Geburtsort, haben sich mit Hoffmanns Werk auseinandersetzt und inzwischen auch seine beiden Romane, die Elixiere des Teufels und vor allem die Lebensansichten des Katers Murr einbezogen. Die nebenstehenden Illustratoren gehören nach bisherigen Informationen zu den bedeutendsten russischen Buchkünstlern der Gegenwart.
Rezeption Hoffmanns im 21. Jahrhundert
Seit einigen Jahren gibt es in Moskau einen Hoffmann-Kreis, der 2009 in Moskau im Verlag VGBIL ein eigenes Buch: Der russische Hoffmann-Kreis (Übersetzung von A. Fingrut) herausgegeben hat. Die Umschlaggestaltung übernahm Michail Shemjakin (geb. 1943). Aufsätze und Illustrationen zu Hoffmann (105, ohne die Zeichnungen Shemjakins), auch von Shemjakin (100 kleine Zeichnungen), sind darin zu finden. Ein Essay über 41 Seiten behandelt die russische Hoffmann-Grafik des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Das heißt, es müsste noch deutlich mehr russische Illustrationen zu Hoffmanns Werk geben, als hier erfasst werden konnten. Leider gibt es zu diesem Buch keine Übersetzung.
Seit 2001 arbeitet Shemjakin auch an Filmen über E.T.A. Hoffmann, z.B. an einem Animationsfilm: Hoffmaniada. 2010 erschien im Verlag Asbuka Klassika eine zweibändige Ausgabe mit 1.500 farbigen Abbildungen von Arbeiten und Skulpturen Shemjakins, darunter allein 300 zu E.T.A. Hoffmann, zu Tschaikowskys Ballet, zu Hoffmanns Oper Undine und zu einzelnen Werken Hoffmanns. Shemjakin scheint inzwischen nach Frankreich emigriert zu sein und hält sich wohl nur noch selten in Russland auf.[5]
Sich illustrativ E.T.A. Hoffmanns Werk zuzuwenden ist, so scheint es, nicht nur eine Mode, sondern ein tiefes inneres Bedürfnis vieler russischer Künstler. Dies könnte im Zusammenhang gesehen werden mit einer als wenig freiheitlich empfundenen politischen und soziokulturellen Situation im eigenen Land. E.T.A. Hoffmann scheint durch seine Persönlichkeit und sein Werk eine Kraft zu sein, die kreative Kräfte freisetzt und deshalb zur Identifizierung einlädt. Aber das ist nur eine Mutmaßung.
Anmerkungen
[1] Erste Zusammenfassungen zur russischen Hoffmann-Grafik finden sich in dem Buch des Moskauer Hoffmann-Kreises von 2009, s. unter Rezeption Hoffmanns im 21. Jahrhundert.
[2] Vgl. E.T.A. Hoffmann und sein Werk im Spiegel der Grafik. Ausstellungskatalog, Bamberg 2009, S. 6 (zu Anwar Bagautdinow).
[3] Tatjana Jakob: Vstreci s. E.T.A. Gofmanom …, E.T.A. Hoffmann Jahrbuch, Bd. 21, 2013, S. 140 f..
[4] Vgl. Gerhard R. Kaiser: E.T.A. Hoffmann, Sammlung Metzler, Stuttgart 1988.
[5] All diese Informationen stammen von Alexander Fingrut.