Hoffmann war in Russland ein stark rezipierter Autor. Unter den deutschen Romantikern hatte er in Russland mit Abstand die größte Popularität.
- Rezeption in Russland
- Die erste Rezeption Hoffmanns – Übersetzungen und Auflagen
- Vom aufkeimenden Enthusiasmus zur Kritik des Realismus
- Stationen der Rezeption: Nikolai Gogol
- Stationen der Rezeption: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
- Transformation der Hoffmann’schen Motivik
- Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert: Hoffmann als Theatertheoretiker
- Die russischen Serapionsbrüder gegen den sozialistischen Realismus
- Hoffmann in der Sowjetunion
Rezeption in Russland
Erste Rezeption erfolgte direkt nach dem Tod Hoffmanns, Übersetzungen gab es schnell und in für russische Verhältnisse ungewöhnlich breiter Auswahl des Gesamtwerks.
Nach der ersten Übersetzungswelle (1822-1828) begann die erste Kritik einer realistischeren Kunstauffassung, die bald in Russland überhand gewann – Hoffmann wurde zum weltfremden Phantasten.
Sowohl bei Nikolai Gogol als auch bei Fjodor Dostojewski zeigt sich Hoffmann als Inspiration, wurde im Zuge der Adaption jedoch stark umgedeutet und in einen christlich-orthodoxen Realismus eingebettet.
Anfang des 20. Jahrhunderts begann die zweite enthusiastische Aufnahme des Werkes Hoffmanns – in diesem Zuge wurde Hoffmann besonders als Theatertheoretiker geschätzt und sollte das russische Theater „erneuern“.
Die russischen „Serapionsbrüder“ schlossen sich unter dem Schutzpatron E.T.A. Hoffmann zusammen (ab 1921), um ein fantasievolles und anti-utilitaristisches Schreiben umzusetzen. Damit standen sie diametral dem „sozialistischen Realismus“ entgegen.
Seit den 1960er Jahren lässt sich eine vermehrte Wiederentdeckung Hoffmanns in Literatur und Literaturwissenschaft verbuchen.
n aller Kürze
Die wichtigsten Fakten zur Hoffmann-Rezeption in Russland
E.T.A. Hoffmann hinterließ nicht alleine in Deutschland deutliche Spuren in der Literatur, sondern ebenso in der anglo-amerikanischen, französischen und vor allem der russischen Literatur. Dabei entschied bei der Rezeption stets das Epochenprofil der Romantik, inwieweit Hoffmann adaptiert, rezipiert und diskutiert wurde. So zeigte sich in Russland ein anderes Bild als beispielsweise in Frankreich und England, in denen sich bereits eine autonome Kunstproduktion herauskristallisiert hatte, während in Russland eine vormoderne Literaturpraxis herrschte. Die Kunst stand im Dienste einer gesellschaftlichen Formung, wurde instrumentalisiert, was dem Phantastischen und Unheimlichen, das so prägend für Hoffmanns Werk ist, nur einen sehr beschränkten Spielraum zubilligte.[1]
Andrej Schulz studiert seit 2013 Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und ist Mitglied der E.T.A. Hoffmann Gesellschaft. In seiner Freizeit schreibt er selbst gerne Erzählungen im Stile Hoffmanns. (→ Forscherprofil)
Motive statt Erzählhaltung
Hoffmann nahm in diesem Kontext eine besondere Stellung ein. Denn trotz dieser Einschränkungen hatte Hoffmann in Russland von allen deutschen Romantikern die größte Popularität. Er hatte Einfluss auf Alexander Puschkin, Iwan Turgenjew, Fjodor Dostojewski, Michail Bulgakow und ganz besonders Nikolai Gogol.[2] Dabei konzentrierten sich die russischen Literaten, anders als die französischen oder englischen, zumeist nur auf die Hoffmann’schen Motive, und ließen Hoffmanns Spiel mit Erzählhaltungen außen vor. Der Erzähler blieb ein klassisch auktorialer, typisch für die russische Erzählweise der Zeit nahm er eine ordnende und kommentierende Perspektive ein, die keine erkenntnistheoretischen Zweifel an der Grenze zwischen Phantastik und empirisch überprüfbarer Wirklichkeit zuließ.[3]
Überblick: Aufstieg und Ende durch Zensur
Nachdem Hoffmann teilweise in England und Deutschland negativ bewertet worden war, was unter anderem an Walter Scotts polemisch-kritisierenden Essay »On the Supernatural in Fictitious Composition« lag, in der Hoffmann als von Drogen- und Alkoholexzessen zerrütteter Autor dargestellt wurde; so wurde er jedoch in Russland und Frankreich weiterhin enthusiastisch rezipiert. Nach der Ausbreitung des Realismus ab Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch ging die Rezeption in Russland stark zurück. Erst im frühen 20. Jahrhundert gab es eine Renaissance, was sich in Theaterinszenierungen und den Petrograder Serapionsbrüdern niederschlug. Diese Rezeptionswelle währte nicht lange, war dafür umso intensiver. Ein Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution wurde Hoffmann dann zwar weiter verlegt und neu herausgegeben, aber der allgemeine Blickwinkel auf sein Werk veränderte sich zum Negativen. Durch die Proklamation des Sozialistischen Realismus der Stalinära verschwand Hoffmann aus der Öffentlichkeit – in der Forschung zeigte sich wenig bis kaum Behandlung des Dichters.
Die erste Rezeption Hoffmanns – Übersetzungen und Auflagen
Die erste Bekanntschaft in Russland fand direkt nach dem Tod Hoffmanns, in den Zwanzigern des 19. Jahrhunderts statt. In den russischen Zeitschriften »Sohn des Vaterlandes« und »Nachrichten aus Europa« erschienen Übersetzungen von drei Erzählungen Hoffmanns. Am bekanntesten wurde Hoffmann durch den „Moskauer Telegraph“, in dem seine Werke stark propagiert worden waren.[4] Bemerkenswert ist dabei, dass bereits in seinem Todesjahr 1822 die erste russische Übersetzung erschien (»Das Fräulein von Scuderi«; ein Jahr später dann »Doge und Dogaresse«) und sich großer Beliebtheit erfreute. Nach Wolfgang Kayser lässt sich sagen, dass neben der Tatsache, dass Hoffmann lange im Ausland zu einem der größten deutschen Erzähler zählte, er in Russland in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts sogar zu einem der meistgelesenen Schriftstellern in ganz Russland avanciert war.[5] Mit dieser Hinwendung zur deutschen Literatur bildete Hoffmann einen der Hauptpfeiler gegen den zunehmenden französischen Einfluss in Russland.
Hoffmann als Ausnahme der russischen Übersetzungstradition
Wichtig anzumerken ist, dass, typisch für die russische Rezeption europäischer Literaturen, keine Kenntnis über das Gesamtwerk Hoffmanns bestand, sondern nur einzelner Werke. Es wurden bestimmte Werke herausgepickt, weil diese besonders zusagten, der Rest links liegen gelassen. Im Falle Hoffmanns waren dies ausgesprochen viele Erzählungen, gerade im Vergleich zu Goethe und Schiller war die Anzahl der verfügbaren Übersetzungen immens – und was ebenso heraussticht: die Texte wurden zumeist direkt aus dem Deutschen übersetzt, im Gegensatz zur gängigen Übersetzungspraxis, bei der die französischen Übersetzungen deutscher Texte herangezogen worden waren.[6] Ab dieser Glanzzeit galt Hoffmann in Russland regelrecht als Chiffre. Sein Name alleine reichte aus, die ganze Hoffmann‘sche Atmosphäre vor den Augen des Lesers entstehen zu lassen – ein Zeichen phantastisch erweiterter Wirklichkeit, das bis hin zur Literatur der russischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts reichte (als Beispiele siehe: W.W. Majakowskis »Wirbelsäulenflöte«; B.A. Pilnjaks »Geschichte vom nicht ausgelöschten Mond«, worin sich der Name Hoffmann wie selbstverständlich benutzt finden lässt).[7]
Vom aufkeimenden Enthusiasmus zur Kritik des Realismus
In der intensivsten Phase der Hoffmann-Rezeption, die in den 1820er Jahren begann, erschien fast jährlich eine neue Übersetzung eines seiner Werke. Gegen Ende der 1840er Jahre, mit Texten Nikolai Gogols, Vladimir Fjodorowitsch Odoevskijs und Fjodor Michailowitsch Dostojewskis, endete dann die erste große Rezeptionswelle. Durch realistische Tendenzen in der russischen Literatur folgte der Niedergang.[8]
Die erste Übersetzungsphase ging somit von 1822 bis 1828, wobei alle Werke in Moskau veröffentlicht worden waren, das zur damaligen Zeit eine Art »Germanisierendes Zentrum« gegenüber dem frankophilen Raum Sankt Petersburgs darstellte. Darüber hinaus wurden auch einige Artikel übersetzt, die Hoffmann als Person thematisierten.[9] Gegen Ende der dreißiger Jahre erreichte das Interesse seinen Höhepunkt und verschwand dann allmählich. So wurde das Phantastische der deutschen und französischen Romantik, und Hoffmann im Speziellen, gegen Mitte des 19. Jahrhunderts abgelöst von einem Realismus, der stark gesellschaftskritisch und didaktisch angelegt war, primär ausgerichtet auf soziale und politische Ziele. Dabei reichte das Spektrum von allmählicher Gleichgültigkeit gegenüber Hoffmann bis zur extremen Ablehnung.[10]
Literatur
Ingham, Norman W.: E.T.A. Hoffmann’s Reception in Russia. Würzburg. 1974.
Passage, Charles E.: The Russian Hoffmannists. The Hague 1962.
Kritik an Fantastik und Kunstautonomie
Bereits 1834 zeigten sich erste Einwände bei dem biografisch angelegten Text »Hoffmann« (russ.: »Gofman«) von Alexander Iwanowitsch Herzen; ihren Höhepunkt erlangte die Kritik in den späten 1840er beim Literaturkritiker Wissarion Grigorjewitsch Belinski. Während Herzen fehlendes politisches Engagement Hoffmanns bemängelte, schloss sich Belinski an die polemische Kritik Walter Scotts an: Hoffmann und sein Werk seien gekennzeichnet durch die Prädikate »wahnsinnig« und »krank«.[11] Belinski war in seiner Ästhetik der »natürlichen Schule« verhaftet – eine gesellschaftlich-kritische Funktion war hier notwendige Bedingung. Dass jedoch auch das Phantastische, und Hoffmann im Speziellen, diese Kritik anführen kann, entgegnete Belinski prinzipiell, dass seine Forderungen nur in einer »mimetisch und aufklärerisch-politisch operationalisierbaren Ästhetik«[12] gegeben seien. Literarischer Realismus wird somit zum dogmatischen Axiom erhoben.
Realistische Überformung des Hoffmann‘schen Motivkanons
Deutlich wird diese Tendenz auch in einigen Adaptionen: So zum Beispiel bei Antonij Pogorelskij, der in seiner Erzählung »Die verhängnisvollen Auswirkungen ungezügelter Phantasie« (russ.: »Pogubnye posledstvija neobuzdannogo voobraženija«, 1828) eine Olimpia-Episode des »Sandmann« aufgreift, diese aber in einer aufklärerisch-moralisierenden Art umfunktionalisiert.[13] Ein anderes Rezeptionsbeispiel dieser Zeit stellt Vladimir Odoevskij dar, der häufig als »Hoffmann II« bzw. »russischer Hoffmann« bezeichnet wird.[14] Odoevskij rekurriert auf Hoffmanns Phantastik, verbindet sie aber stärker mit gesellschaftstheoretischen bzw. -kritischen Reflexionen. Beispielsweise thematisiert er in seiner Erzählung aus der Sammlung »Bunte Märchen« (russ.: »Pestrye skazki«, 1833) die Verwandlung in einen Automaten, unterfüttert dies jedoch als kulturphilosophische, russisch-nationalistische Allegorie.[15] In seinem Hauptwerk »Russische Nächte« (russ.: »russki nochi«) wiederum gliederte Odoevskij die Erzählung »Beethovens letztes Quartett« (russ.: »Poslednyi kvartet Betchovena«) ein, in dem das Motiv vom Wahnsinn des Künstlers dargestellt wird, ein bei Hoffmann häufig aufgegriffenes Sujet. Auch scheint Odoevskij sein Interesse an Beethoven durch Hoffmann gewonnen zu haben.[16] Darüber hinaus besitzt die Rahmenhandlung zu den »Russischen Nächten« starke Parallelen zu Hoffmanns »Serapions-Brüdern«. Odoevskij selbst jedoch verneinte einen Einfluss Hoffmanns, es sei, so sagte er, nur ein zufälliger »Zusammenfall der Formen«.[17]
Dahingehend offenbart sich eine sehr heterogene Rezeptions-Geschichte. Es kann keinesfalls von einer rein enthusiastischen Aufnahme zu dieser Zeit gesprochen werden; Hoffmann wurde eher in den realistischen Stil der russischen Erzähltechnik integriert, was sich darin zeigt, dass häufig lediglich die realistischen Elemente Hoffmanns übernommen worden waren.
Stationen der Rezeption: Nikolai Gogol
In Nikolai Gogols Werk zeigen sich wohl die deutlichsten Spuren des Hoffmann’schen Einflusses. Während in seinem Frühwerk das Übersinnliche in den Mythen- und Märchenwelten seiner ukrainischen Heimat verwurzelt ist, zeigt sich ab den »Petersburger Novellen« (russ.: »Peterburgskie povesti«, 1835-1842) die Phantastik in einer modern-urbanen Gegenwart: ein Geflecht aus motivischen und narrativen Hoffmann-Bezügen lässt sich erkennen.[18]
»Das Portrait« (russ.: »Portret«, 1835) ähnelt dabei dem Vorbild der »Elixiere des Teufels« (mit dem Motiv der verlebendigten dämonischen Macht) und in »Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen« (russ.: »Zapiski sumasšedšego«, 1835) spielt das bei Hoffmann präsente Motiv der geistigen Umnachtung eine Rolle. Ein großer Unterschied offenbart sich jedoch: Gogol übernimmt das Motiv des Wahnsinnigen, dabei jedoch wiederfährt dem Wahnsinn keine positive Auslegung/Deutung. Der Wahnsinn wird als der Gesellschaft abträglich, negativ konnotiert – nicht als mögliche schöpferische Erkenntnis (was bei Hoffmann, bis auf im »Sandmann«, stets der Fall ist).
Die angesprochene Umfunktionalisierung und Instrumentalisierung zeigt sich somit auch bei Gogol. Besonders in »Der Mantel« (russ.: »šinel«, 1842) und »Die Nase« (russ.: »Nos«, 1836) zeigen sich gesellschaftskritische und kulturspezifische Subtexte; das Groteske dient hier als Fundamentalkritik an der Verdinglichung und Mechanisierung des Lebens unter den gegebenen sozialen und politischen Umständen.[19] Ein weiterer Unterschied, der auf eine typisch russisch-didaktische Schreibagenda hinweist, ist der Umstand, dass das Phantastische als religiös grundiert erscheint.
Literatur
Peters, Jochen-Ulrich: Die Entthronung des romantischen Künstlers. Gogols Dialog mit E.T.A. Hoffmann. In: Dialogizität. Hg. von R. Lachmann. München 1982, S.155-167.
Gorlin, Michael: N.V. Gogol und E.T.A. Hoffmann. Leipzig 1933.
Stationen der Rezeption: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Vielleicht wirkte Hoffmann sogar von Gogol verdeckt durch die gesamte nachfolgende russische Literatur. Fjodor Dostojewski schrieb jedenfalls: »Wir alle kommen von Gogols ›Mantel‹ her.«[20] Und ähnlich wie bei Gogol zeigt sich auch im Frühwerk Dostojewskis der Einfluss Hoffmanns, was Kulminations- und Endpunkt der Hoffmann Rezeption im 19. Jahrhundert darstellt. An seinen Bruder schrieb Dostojewski, dass er als Siebzehnjähriger bereits den ganzen Hoffmann gelesen habe, jedoch nicht in deutscher Sprache, sondern in der bevorzugten französischen Übersetzung.
Motive Hoffmanns zeigen sich an der phantastisch-unheimlich wirkenden Atmosphäre Dostojewskis Petersburg-Darstellungen, in der Erzählung »Die Wirtin« (russ.: »Chozjajka«, 1847) zeigt sich eine Nähe zu Hoffmanns »Magnetiseur« durch das Motiv der hypnotischen Machtausübung, und in der Erzählung »Der Doppelgänger« (russ.: »Dvojnik«, 1846) ist das Motiv des Doppelgängers explizit vertreten. Gerade beim »Doppelgänger« jedoch zeigt sich erneut eine starke Funktionalisierung: Schuld an der Aufspaltung des Protagonisten ist die pathogene Umwelt und unmenschliche Sozialverhältnisse.[21]
Im Verlauf seines Schaffens zeichnet sich bei Dostojewski jedoch ein immer stärkerer Realismus ab, der den Einfluss Hoffmanns verdrängt. Einige Beispiele sind hier die moralisch-allegorische Umfunktionierung des Doppelgängermotivs in den späten Romanen »Böse Geister« bzw. »Dämonen« (russ.: »Besy«, 1871-1872) und den »Brüder Karamasow« (russ.: »Brat’ja Karamazovy«, 1878-1880). Die Bewusstseinsspaltung ist hier nicht phantastisch (kein hereinbrechendes feindliches Prinzip), sondern psychologisch-realistisch verankert als Gewissenskonflikte der Verbrecher, und somit moralisiert (es zeigt sich eine christlich-religiöse Polarität von Gut und Böse).[22] Wie Gogol also wendet sich Dostojewski endgültig vom ästhetischen Idealismus Hoffmanns ab, hin zu einem christlichen Idealismus. In diesem Kontext weist der Glaube, nicht die Kunst, den Weg zum Absoluten.[23]
Literatur
Botnikova, Alla B.: Die ästhetische Verarbeitung künstlerischer Prinzipien E.T.A. Hoffmanns im frühen Schaffen Dostojewskijs. In: Parallelen und Kontraste. Studien zu literarischen Wechselbeziehungen in Europa zwischen 1750 und 1850. Hg. von H.D. Dahnke. Berlin, Weimar 1983, S.336-361.
Gerigk, Horst-Jürgen: Zerebrale Spiele. Von E.T.A. Hoffmann über Puschkin, Gogol und Dostojewskij zu Belyjs „Petersburg“. In: Peter Thiergen (Hg.): Scholae et symposium. Festschrift für Hans Rothe zum 75. Geburtstag. Köln u.a. 2003, 27-36.
Transformation der Hoffmann’schen Motivik
Allgemein lässt sich somit eine Veränderung der Motive Hoffmanns konstatieren, die in der Adaption stattfindet. In der russischen Literatur wird Hoffmanns Ideal des künstlerischen Wertes religiös überformt. Die Dichotomie künstlerische Schönheit vs. Philistertum, wird zur christlichen Antithese Gut vs. Böse. Ebenso findet sich der Hoffmann’sche Dualismus der zwei Welten (der wirklichen Welt und der idealen Welt der Phantasie) umgewandelt in reale Welt als böser Schein und ideale Welt als Ideal der religiösen Gläubigkeit. Auch dem Wahnsinns-Motiv widerfährt eine starke Umkehrung. In der russischen Literatur lässt sich durchweg aufzeigen, dass der Wahnsinn nie schöpferisch, sondern immer negativ konnotiert erscheint – ebenso negativ wie die Figur des Zauberers, der ausschließlich als böse Figur in Erscheinung tritt, anders als im Werk Hoffmanns, in dem der Zauberer auch als wegweisend und gut erscheinen kann.[24]
Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert: Hoffmann als Theatertheoretiker
Trotz der Abnahme des Interesses in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch realistische Tendenzen, erschien überraschenderweise 1873/74 eine Gesamtausgabe Hoffmanns, die jedoch nicht über den vierten Band hinauskam; sie war ursprünglich auf zwölf Bände konzipiert, es erschienen aber nur die vier Bände, in denen »die Serapions-brüder« enthalten waren. Zu dieser Gesamtausgabe gab es nur einige wenige, negative Rezensionen.[25] Die zweite Gesamtausgabe dagegen, von 1896 bis 1899 in acht Bänden erschienen, wies schon auf das wiederaufflammende Interesse für Hoffmann zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hin.[26] Diese Wiederkehr der Hoffmannrezeption begründet und zeigt sich nicht zuletzt im aufstrebenden Russischen Symbolismus, bei den Serapionsbrüdern von Petrograd, in Andrej Belyjs Roman »Petersburg« (1913), sowie in den Hoffmannbearbeitungen im Theater durch Vsevolod Mejerchold. Damit lässt sich eine bemerkenswerte Hoffmann-Renaissance zu Beginn des 20. Jahrhunderts konstatieren, durch die Hoffmann nachhaltig das kulturelle Leben Russlands beeinflusste.[27]
Literatur
Cheauré, Elisabeth: E.T.A: Hoffmann. Inszenierungen seiner Werke auf russischen Bühnen. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag. 1979.
Die zweite große Rezeptionswelle
Bereits in der Ballett-Inszenierung des »Nußknackers« (1892), mit der Musik Tschaikowskis, lässt sich ein neuaufkeimendes Interesse verbuchen. Ebenso war 1880 eine Neuübersetzung des »goldnen Topfs« erschienen und 1893/94 die »Lebensansichten des Katers Murr« in zwei verschiedenen Übersetzungen. Von 1896 bis 1899 dann die erwähnte zweite Gesamtausgabe in acht Bänden. 1914 erschien die erste Monographie über Hoffmann von S.S. Ignatov.[28]
Der theatralische Hoffmann und die Erneuerung des russischen Theaters
Ganz besonders aber zeigte sich das Interesse beim »theatralischen« Hoffmann. Hoffmann rückte als Theatertheoretiker in den Mittelpunkt: 1894 erschienen Hoffmanns »Seltsamen Leiden eines Theaterdirektors« in russischer Neuübersetzung, wodurch Hoffmann im Verlauf als Gallionsfigur zur Erneuerung des russischen Theaters diente, vor allem bei M.I. Pisarev und V.E. Mejerchold. Der Höhepunkt war dabei das Petrograder Journal »Die Liebe zu den drei Orangen« (russ.: »Ljubov‘ k trem apel‘sinam«), das 1914 bis 1916 erschien, und welches sich ausführlich den Problemen des Theaters widmete. Herausgeber und Redakteur war Mejerchold, der sich erhoffte, über Gozzi und Hoffmann eine Erneuerung des russischen Theaters zu erreichen. In dem Journal erschienen unter anderem die Aufsätze Knjažnins »Hoffmaniana« I, II, III, IV: eine pathetische und enthusiastische Verherrlichung Hoffmanns.[29]
Im Zuge dieser Rezeption wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts »Die Brautwahl« im Moskauer Komissarževskaja-Theater (1915); »Signor Formica« (1922) im Moskauer Kammertheater und »Nußknacker und Mausekönig« (1922) im Moskauer Kindertheater inszeniert.[30] Die bei weitem wichtigste und erfolgreichste Inszenierung war »Prinzessin Brambilla« im Moskauer Kammertheater (1920) mit der Regie von A. Ja. Tairov und dem Text nach Hoffmann von Krasovskij und Antokolskij, die am 05. November 1922 ihre hundertste Aufführung erreicht hatte. Dieser Erfolg mag auch der Neuübersetzung der »Prinzessin Brambilla« im Jahr 1915 geschuldet sein.[31]
Die russischen Serapionsbrüder gegen den sozialistischen Realismus
Als Höhepunkt der Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert kann jedoch die Petrograder Autorengruppe »Die Serapionsbrüder« (Serapionovy brat‘ja) betrachtet werden, die sich ab dem 1. Februar 1921 einmal die Woche, ab 1924 jedoch nur noch unregelmäßig traf.[32] Mit ausgeprägter Neigung zur Phantastik und gegen eine langweilige, der revolutionären Euphorie nicht angemessenen Alltagsdarstellung stemmten sie sich gegen jede mimetische und operative Literaturtheorie und -praxis.
Die Mitglieder der Serapionsbrüder waren: Michail Slonimski, Jelisaweta Polonskaja, Nikolai Nikitin, Wsewolod Iwanow, Michail Sostschenko, Lew Lunc, Nikolai Tichonow, Konstantin Fedin, Ilja Grusdjew und Weniamin Kawerin.[33] Und der Schriftsteller Maxim Gorki war einer der treibenden Kräfte zur Vereinigung unter dem Schutzpatron E.T.A. Hoffmann bzw. Serapion.[34] Zwar gehörte Gorki selbst nicht zu der Gruppierung, weil er einer realistischen Schreibweise verhaftet war, unterstützte sie jedoch, mit der Hoffnung, sie würden mit zu einer Erneuerung der russischen Literatur beitragen, indem sie aufmerksam machen auf den Menschen, das Individuum, statt nur auf den historischen Prozess.[35]
Literatur
Greber, Erika: Ein Palimpsest über das Palimpsest: Die russischen Serapionsbrüder, Veniamin Kaverin und die ›Nachahmung‹ E.T.A. Hoffmanns. In: Poetica 21 (1989), S.98-163.
Kasper, Karlheinz (Hg.): Die Serapionsbrüder von Petrograd. Junge Kunst im revolutionären Rußland. Berlin: Verlag der Nation. 1987.
Eine heterogene Gruppierung mit gleichem Anspruch auf Kunstfreiheit
Bereits einige Jahr nach Hoffmanns Tod im Jahr 1822 folgte ein russischer Freundschaftsbund im Geiste der Serapionsbrüder. Hundert Jahr nach Erscheinen des vierten und letzten Bandes der gleichnamigen „Serapions-Brüder“ (1821) Hoffmanns, lebte dieser wieder auf, zwar nur kurzzeitig, dafür umso intensiver, als Blüte der Hoffmannrezeption in Russland. Dabei existierten die Brüder als eine äußerst heterogene Gruppe, weder Form noch Ästhetik einten die Mitglieder, sondern Freundschaft. Jewgeni Samjatin, einer der Lehrer der Brüder, schrieb in einem Aufsatz dazu, sie seien gar keine Brüder, die Serapionsbrüder seien nur erfunden.[36] Sie alle hatten ein individuelles Schaffensprogramm. Trotz der Unterschiede einte sie jedoch, gegen eine utilitaristische Literatur zu sein: Sie wollten Kunst nicht als Zweckfunktion begreifen, die zu allem auch noch dem Staat untergeordnet sei und richteten sich somit früh gegen eine Gleichschaltung der Literatur, die Jahre später in Form des Sozialistischen Realismus der Stalinära Überhand nehmen wird. Damit stellten sie sich zwangsläufig gegen andere literarische Gruppierungen der Zeit nach der russischen Revolution, z.B. gegen »Oktjabr« und »Lef« – was nicht selten in aggressiven Anfeindungen und Kritiken endete. Jeder hatte den Anspruch, die der revolutionären Epoche angemessene neue Kunst zu schaffen.
Während der stalinistischen Ära gerieten die Serapionsbrüder jedoch aufgrund ihrer Kunstautonomie zunehmend in Schwierigkeiten. Höhepunkt fand dies in der Ždanov-Rede 1946, worin die Mitglieder streng gemaßregelt worden waren.[37] Ihnen wurde vorgeworfen, sich nicht am Aufbau des Staates zu beteiligen, und somit Staatsfeinde zu sein. Die Serapionsbrüder selbst jedoch sahen sich stets dem revolutionären Zeitgeist verpflichtet.
Nicht bloßes Epigonentum – eine Inspiration über Hoffmann hinaus
Angemerkt werden muss auch, dass die russischen Serapionsbrüder nicht einer Huldigung und einem Epigonentum Hoffmanns frönten, sondern als eigenständige literarische Gruppierung betrachtet werden müssen. Die Einflüsse Hoffmanns sind nicht von der Hand zu weisen, doch bei allen Brüdern war eine Tendenz zur literarischen Eigenständigkeit gegeben; auch beeinflusst durch reale Lehrer wie Maxim Gorki (als finanzieller Unterstützer und Verteidiger gegen die teils maßlose Kritik anderer Gruppierungen), Viktor Schklowski (als Lehrer eines formalen Handwerks der Schreibkunst, mit besonderem Einfluss auf Lunc und Kawerin) und Jewgeni Samjatin (der eine Überwindung des langweiligen Alltagsrealismus und phantasieloser Lebensbeschreibungen anstrebte).[38]
Hoffmann in der Sowjetunion
Im Stalinismus wurde Hoffmann wieder explizit unter dem Krankheits-Topos herabgewürdigt, eine Rezeption und Auseinandersetzung war somit nur im literarischen Untergrund möglich. Das offizielle Interesse konzentrierte sich darauf, die sozialkritischen Komponenten Hoffmanns und insbesondere die Rezeptionsgeschichte des 19. Jahrhunderts herauszustreichen.[39] Neue Editionen wurden während der Zeit nicht unternommen.
Als eine wichtige Inspiration kann Hoffmann für den Schriftsteller Michail Bulgakow angesehen werden, insbesondere in seinem zwischen 1928 und 1940 entstandenen Roman »Der Meister und Margarita« (russ.: »Master i Margarita«), der erst 1974 vollständig veröffentlich wurde, sind im phantastisch-grotesken Sujet Anklänge an Hoffmann zu finden.[40]
Literaturwissenschaftliches Interesse ab 1962
Nach Meinung des Literaturwissenschaftlers Sergej Turaev sei ab der Veröffentlichung der »Ausgewählten Werke in drei Bänden« in 1962 eine erneute „Hoffmann-Renaissance“ ausfindig zu machen. So erschien zum Beispiel unter anderem 1969 in ukrainischer Sprache die erste sowjetische Hoffmann-Monographie und es seien viele Untersuchungen zu Hoffmanns Werk seit dem Ende der 60er Jahre unternommen worden.[41]
Abschießend lässt sich jedoch sagen, dass während des Stalinismus und auch bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, Hoffmann in Russland offiziell ein weitgehend negativ besetzter Autor blieb. Erst allmählich stieg und steigt er noch immer aus dem literarischen Untergrund: als ein Phantast der Erkenntnis, Vielfalt und künstlerischen Freiheit. Ein Schutzpatron gegen Reglementierung und Rationalisierung der Kunst.
[1] Vgl. Kretzschmar, Dirk: Internationale literarische Rezeption und Wirkung. In.: Lubkoll, Christine / Neumeyer, Harald (Hg.); E.T.A. Hoffmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler. 2015, S.417-423. Hier: S.417
[2] Vgl. Podolski, A.: E.T.A. Hoffmann in der russischen Kritik. Zu seinem 140. Todestag. In: „Die Sowjetunion heute“, 7. Jahrg. 1962, Heft 17, S.24
[3] Vgl. Kretzschmar, Dirk: Internationale literarische Rezeption und Wirkung. S.418
[4] Vgl. Podolski, A.: E.T.A. Hoffmann in der russischen Kritik. S.24
[5] Vgl. Becker-Glauch, Wulf: E.T.A. Hoffmann in russischer Literatur und sein Verhältnis zu den russischen Serapionsbrüdern. In: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann Gesellschaft, 9. Heft (1962), S.41-54. Hier: S.41
[6] Vgl. Cheauré, Elisabeth: E.T.A: Hoffmann. Inszenierungen seiner Werke auf russischen Bühnen. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag. 1979, S.19
[7] Vgl. Becker-Glauch, Wulf: E.T.A. Hoffmann in russischer Literatur und sein Verhältnis zu den russischen Serapionsbrüdern. S.43
[8] Vgl. Kretzschmar, Dirk: Internationale literarische Rezeption und Wirkung. S.420
[9] Vgl. Cheauré, Elisabeth: E.T.A: Hoffmann. Inszenierungen seiner Werke auf russischen Bühnen. S.13
[10] Vgl. Kretzschmar, Dirk: Internationale literarische Rezeption und Wirkung. S.420
[11] Vgl. Ebd. S.420
[12] Ebd. S.420
[13] Vgl. Ebd. S.420
[14] Ebd. S.420
[15] Vgl. Ebd. S.421
[16] Vgl. Becker-Glauch, Wulf: E.T.A. Hoffmann in russischer Literatur und sein Verhältnis zu den russischen Serapionsbrüdern. S.42
[17] Cheauré, Elisabeth: E.T.A: Hoffmann. Inszenierungen seiner Werke auf russischen Bühnen. S.14
[18] Vgl. Kretzschmar, Dirk: Internationale literarische Rezeption und Wirkung. S.421
[19] Vgl. Ebd. S.421f.
[20] Vgl. Becker-Glauch, Wulf: E.T.A. Hoffmann in russischer Literatur und sein Verhältnis zu den russischen Serapionsbrüdern. S.42
[21] Vgl. Kretzschmar, Dirk: Internationale literarische Rezeption und Wirkung. S.422
[22] Vgl. Ebd. S.422
[23] Vgl. Ebd. S.422
[24] Vgl. Ingham, Norman W.: E.T.A. Hoffmann’s Reception in Russia. Würzburg: 1974, S.10ff. Zitiert nach: Cheauré, Elisabeth: E.T.A: Hoffmann. Inszenierungen seiner Werke auf russischen Bühnen. S.16-19
[25] Vgl. Cheauré, Elisabeth: E.T.A: Hoffmann. Inszenierungen seiner Werke auf russischen Bühnen. S.20
[26] Vgl. Ebd. S.21
[27] Vgl. Kretzschmar, Dirk: Internationale literarische Rezeption und Wirkung. S.422f.
[28] Vgl. Cheauré, Elisabeth: E.T.A: Hoffmann. Inszenierungen seiner Werke auf russischen Bühnen. S.22f.
[29] Vgl. Ebd. S.24
[30] Vgl. Ebd. S.9
[31] Vgl. Ebd. S.117f.
[32] Vgl. Kasper, Karlheinz (Hg.): Die Serapionsbrüder von Petrograd. Junge Kunst im revolutionären Rußland. Berlin: Verlag der Nation. 1987, S.451
[33] Ebd. S.2
[34] Vgl. Becker-Glauch, Wulf: E.T.A. Hoffmann in russischer Literatur und sein Verhältnis zu den russischen Serapionsbrüdern. S.46
[35] Vgl. Kasper, Karlheinz (Hg.): Die Serapionsbrüder von Petrograd. S.10
[36] Vgl. Kasper, Karlheinz (Hg.): Die Serapionsbrüder von Petrograd. S.280
[37] Vgl. Cheauré, Elisabeth: E.T.A: Hoffmann. Inszenierungen seiner Werke auf russischen Bühnen. S.31
[38] Vgl. Kasper, Karlheinz (Hg.): Die Serapionsbrüder von Petrograd. S.460-465
[39] Vgl. Cheauré, Elisabeth: E.T.A: Hoffmann. Inszenierungen seiner Werke auf russischen Bühnen. S.32
[40] Vgl. Kretzschmar, Dirk: Internationale literarische Rezeption und Wirkung. S.423
[41] Vgl. Cheauré, Elisabeth: E.T.A: Hoffmann. Inszenierungen seiner Werke auf russischen Bühnen. S.34