Elektrizität und Magnetismus
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Seminars „Romantik im E.T.A. Hoffmann Portal – Texten fürs Web“, das das Team E.T.A. Hoffmann Portal im Wintersemester 2019/2020 gemeinsam mit Prof. Dr. Anne Fleig am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin angeboten hat. Neun Studierende hatten sich in diesem Seminar mit den Themen Hoffmanns Berliner Orte und Bekanntschaften, Hoffmanns Netzwerke und Zeitgenossen sowie Romantik und Wissenschaften beschäftigt. Die besten Arbeiten, die von den Studierenden selbst webgerecht aufbereitet wurden, konnten im Portal veröffentlicht werden.
Robin Czinczoll studiert Deutsche Philologie und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. (→ Forscherprofil)
Einführung
Die enge Verbundenheit sowie der rege Austausch zwischen Kunstbetrieb und wissenschaftlicher Forschung im 18. Jahrhundert zeigten sich exemplarisch an der Art, wie beide für verschiedene Darbietungen vielfach den öffentlichen Raum einbezogen. Die Grenzen zwischen akademischen Experimenten und Jahrmarktdarbietungen waren zum Teil fließend. So wurden physikalische Versuche ebenso wie Geisterbeschwörungen auf eine ähnliche Weise als öffentliche Spektakel für Laien inszeniert. Ab der Jahrhundertwende etablierte sich ein neues Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft. Die Disziplinen differenzierten sich in verschiedene technisch-naturwissenschaftliche und künstlerisch-geisteswissenschaftliche Denkweisen aus. Romantische Autoren wie Heinrich von Kleist, Achim von Arnim, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann beschäftigten sich in dieser Phase des Übergangs jedoch weiterhin aktiv mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie zogen Inspirationen aus der Forschung und entwickelten sie in ihren Werken poetisch weiter. Durch die Einbettung in die romantische Literatur ermöglichten sie der Wissenschaft den Einzug in die Einbildungskraft.
Philidors Phantasmagorien
Der Nähe zwischen Wissenschaft und Unterhaltung bediente sich Ende des 18. Jahrhunderts auch Paul Philidor (unbekanntes Geburtsjahr, gestorben 1829) für seine phantasmagorischen Vorführungen. In seinen Beschwörungsinszenierungen erzeugte er mit Projektionsgeräten Trugbilder und steigerte die Dramatik der Wahrnehmungstäuschung mit untermalenden Effekten wie Rauch oder einer angepassten Geräuschkulisse. Philidor verband die phantasmagorische Inszenierung mit einem aufklärerischen Anspruch und wies das Publikum auf die zugrundeliegenden physikalischen Prinzipien hin. [35]
Elektrizität in der Romantik
Anschauliche Experimente mit Elektrizität
Die zunehmende wissenschaftliche Beschäftigung mit Elektrizität seit Anfang des 18. Jahrhunderts erfolgte vor allem experimentell. Durch öffentliche und private Experimente sowohl von Experten wie auch von Laien konnte Elektrizität deshalb trotz ihrer weitgehenden sinnlichen Unzugänglichkeit einfach und wirkungsvoll
Sinnliche Erfahrbarkeit des elektrischen Fluidums
Der Begriff Elektrizität war zu der Zeit Hoffmanns weniger scharf abgegrenzt als heute. Sie wurde als vielgestaltiges Phänomen in mehreren teilweise stark voneinander abweichenden Theorien beschrieben. Von Dunst ist in wissenschaftlichen Veröffentlichungen die Rede, ebenso von Agens oder Materie.[2] Hoffmann selbst verwendet in Die Lebens-Ansichten des Katers Murr den Begriff des Fluidums[3] als er auf die damals weit verbreiteten Experimentvorführungen anspielt, in denen Menschen durch vorherige elektrostatische Aufladung ein elektrischer Schlag versetzt wurde. Besonders populär waren hierfür die Verwendung einer Leidener Flasche oder einer Elektrisiermaschine zur Demonstration der Elektrisierbarkeit des menschlichen Körpers.[4]
Der Homo electrificatus und die Medicina electrica
Die Beobachtungen des Ladungsaustausches bildeten die Grundlage für ein an der Elektrizität neu ausgerichtetes Menschenbild. Nach diesem Verständnis wurde der Mensch „nicht mehr ausschließlich als Maschinen-Mechanismus, als Zusammenspiel aus Kegeln, Pumpen, Hebeln und Zahnrädern begriffen“[5]. Er wurde nun modelliert als Homo electrificatus – als elektrisierter Mensch, der einen elektrischen Lebensfunken in sich trägt. Das neugewonnene Verständnis vom Homo electrificatus zeigte sich auch in der sich parallel entwickelnden Medicina electrica. Bei dieser zeitgenössischen Behandlungsmethode sollte die der Lebenskraft ähnliche elektrische Kraft eingesetzt werden, um eine elektrische Disharmonie des Körpers auszugleichen und so diverse Krankheiten zu heilen. Auch im animalischen Magnetismus griff man die Praxis der medizinischen Electrisierer auf: elektrischer Strom wurde durch einen isolierten Körper geleitet, wodurch der höchste magnetisierte Zustand leichter erreicht werden sollte.[6]
Die Leidener Flasche
Die Leidener Flasche (benannt nach dem Ort Leiden) ist eine frühe Form des elektrischen Zylinderkondensators: Zwei Metallbeschläge werden durch ein Dielektrikum (Glas oder Keramik) voneinander isoliert. Durch den leitenden Mittelstab wird der innere Beschlag elektrisch aufgeladen. Die so entstehende Potentialdifferenz zwischen den beiden Metallbeschlägen kann durch ein Berühren des Metallstabs wieder ausgeglichen werden. Dies nimmt der Proband als „elektrischen Schlag“ wahr. Die Leidener Flasche war ein beliebtes Demonstrationsmittel bei öffentlichen Vorführungen und zur Unterhaltung in höheren sozialen Kreisen.
Elektrizität bei Hoffmann
Hoffmanns elektrische Liebeskonzeption zur Beschreibung affektiver Liebe
Hoffmann greift in vielen seiner Werke auf das Elektrisieren der Figuren zur Beschreibung von Affekten zurück. Besonders häufig kommt dieses Mittel im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen zum Einsatz. Indem er für die Darstellung von Intimität auf den Bild- und Erfahrungsbereich der elektrischen Wechselwirkungen zurückgreift, entwirft Hoffmann auf Grundlage eines vor allem elektrostatisch begründeten Verständnisses von Elektrizität eine charakteristisch elektrische Liebeskonzeption.
Hoffmanns elektrische Liebeskonzeption
Die Emotionen der Liebenden folgen der Logik des elektrischen Auf- und Entladens, sodass bedeutsame Berührungen zwischen ihnen vergleichbar zur Venus electrificata oder dem elektrischen Kuss beschrieben werden. Als „elektrischer Schlag“[7], „elektrischer Hauch“[8], „elektrische Feuerstrahlen“[9] oder gar „ein ganzes Feuerwerk von elektrischen Schlägen“[10] kennzeichnet Hoffmann in seinen Werken den Kontakt von Liebenden und betont damit die Impulsivität des Affekts der körperlichen Beziehungen. Hoffmanns elektrische Liebeskonzeption folgt nicht dem Muster des aufwendigen Werbens, der häuslichen, freundschaftlichen oder vernünftigen Ehe. Seine elektrische Liebe als Passion verkörpert das Sprunghafte, das Unvorhersehbare, die Sehnsucht.[11]
Kuss der Venus electrificata
Für diese Demonstration wurde eine Frau mit einer Elektrisiermaschine elektrisch aufgeladen. Wenn dann ein Mann gebeten wurde, die Frau zu küssen, bekam er einen elektrischen Schlag noch ehe sich die Lippen berührten.
Disharmonie des elektrischen Haushalts
Anklänge an die Medicina electrica werden dann augenfällig, wenn die Liebenden eine asymmetrische Beziehung führen und dadurch der fluidale Haushalt einer Figur so sehr in Disharmonie gerät, dass sie einer Krankheit verfällt. So ergeht es beispielsweise Theodor, der beinahe wahnsinnig wird, nachdem er sich in Das öde Haus nicht mehr von Angelikas Spiegelbild lösen kann, das ihn „mit elektrischer Wärme durchglüht“[12].
Elektrostatische Verhandlung von Erotik
Unter Zuhilfenahme elektrostatischer Metaphern kann Hoffmann überdies erotische Begierde zu einer Zeit verhandeln, in der ihre literarische Thematisierung einem Tabubruch gleichkam.[13] Nicht zuletzt nutzt er diese einmal etablierte elektrische Liebeskonzeption auch als kritikübendes Stilmittel: „[…] am Ende ist die Gnädigste eine Art von Leydner Flasche und walkt honette Leute durch mit elektrischen Schlägen nach fürstlichem Belieben“[14].
Grundlagen des animalischen Magnetismus’
Mesmers Anknüpfung an die Vier-Säfte-Lehre
Der animalische Magnetismus oder auch Mesmerismus geht zurück auf die empirisch-materialistischen Annahmen, die der Arzt Franz Anton Mesmer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufstellte.[15] Analog zu Elektrizität und Gravitation postulierte Mesmer in seiner Lehre die Existenz eines unsichtbaren, alles durchdringenden Fluidums und knüpfte damit an das medizinische Konzept der Humoraltherapie basierend auf der Vier-Säfte-Lehre der Antike an. Nach bisher unbekannten Gesetzen durchfließe das magnetische Fluidum auch den menschlichen Körper, was Mesmer zu der Feststellung bringt:
„daß die anziehende Macht gedachter Sphären alle einzelne Theile, feste und flüßige unsers Körper, und derselben Innerstes durchdringe, unmittelbar auf unsere Nerven wirke, folglich in unsern Leibern ein wirklicher Magnetismus vorhanden sey.“[16]
Magnettherapie
Dieses Fluidum könne ohne Berührung von einem Körper in den anderen strömen und deshalb auch über weite Entfernungen wirken. Durch Blockaden des Flusses im menschlichen Körper komme es zu Kräfteungleichgewichten, die Mesmer als Ursache für Krankheiten identifizierte. Zur Auflösung dieser Disharmonie schlug er eine Magnetkur vor, bei der die Patienten teilweise mithilfe von tatsächlich magnetischen Materialien therapiert wurden.[17]
Beliebtheit trotz Kontroverse
Auch wenn der Mesmerismus bereits bei einigen Zeitgenossen Skepsis hervorrief und Mesmer Exzentrik und Betrug vorgeworfen wurden, war er überaus populär und entfaltete eine große geistesgeschichtliche Wirkung.[18] Mesmer hatte in Paris so viel Erfolg mit seiner Magnettherapie, dass er Massenheilungen abhielt, für die er eigens Apparate – sogenannte baquets – konstruieren ließ. Im Rahmen seiner Therapeutentätigkeit beobachtete Mesmer, dass auch eine Berührung oder sogar der Blick eines Menschen mit besonders viel Fluidum den Kräftehaushalt im Patienten wiederherstellen könne.[19]
Vom physischen Mesmerismus zum psychischen Magnetismus
Diese Entdeckung diente dem Mesmer-Schüler Armand Marie Jacques de Chastenet de Puységur als Ausgangspunkt für seine Weiterentwicklung des Mesmerismus‘. Das physische Fluid spielte bei ihm eine untergeordnete Rolle, er widmete seine Aufmerksamkeit stattdessen der psychischen Verbindung zwischen Magnetiseur und Patient. Während der Behandlung versetzte der Magnetiseur den Magnetisierten in einen somnambulen Zustand, also eine bewusstseinsveränderte Verfassung zwischen Schlafen und Wachen, wobei der Patient sich dem Magnetiseur psychisch unterordnete. Auf diese Art für den Einfluss des Magnetiseurs empfänglich gemacht, sollte in der magnetischen Verbindung mit dem Patienten – dem magnetischen Rapport – der Ursache der Krankheit entgegengewirkt werden.[20]
Der animalische Magnetismus in der Romantik
Die Autoren der Spätaufklärung schenken dem Mesmerismus während der ersten Magnetismus-Welle Ende des 18. Jahrhunderts noch kaum Aufmerksamkeit in ihren Werken.
„Erst als es der Forschung nicht gelang, die von Mesmer als empirisch aufgefassten Tatsachen z. B. des Fluidums zu belegen, wurde der Magnetismus für spiritualistisch-mythische Re-Interpretationen in der Romantik geöffnet.“[21]
Die wissenschaftliche Anerkennung des animalischen Magnetismus’
Schweizer bezieht sich hierbei unter anderem auf die Untersuchung des animalischen Magnetismus’ von einem französischen Wissenschaftskommitee. Es kam zu dem Schluss, dass er nicht empirisch nachweisbar sei. Diese Bewertung führte jedoch nicht zu seiner vollumfassenden Diskreditierung, wie der Umstand zeigt, dass noch 1816 in Berlin und Bonn je ein Lehrstuhl für animalischen Magnetismus eingerichtet wurde. Dementsprechend stand auch die Beschäftigung mit dem animalischen Magnetismus durch angesehene Intellektuelle wie Karl Alexander Ferdinand Kluge, den Hoffmann in seinen Werken mehrfach erwähnt, oder Adalbert Friedrich Marcus, mit dem Hoffmann befreundet war, nicht im Widerspruch zu ihrem Renommee.[22]
Fortführung des magnetischen Diskurses in der romantischen Literatur
Im Zuge der zweiten Konjunktur des animalischen Magnetismus’ Anfang des 19. Jahrhunderts gehen die romantischen Schriftsteller über die schlichte Benennung der Erkenntnisse der Strömung hinaus, indem sie Leerstellen des wissenschaftlichen, naturphilosophischen und psychologischen Diskurses bearbeiten und so zur magnetischen Debatte beitragen.[23]
Metaphysischer Magnetismus und das Unbewusste in der Romantik
Für die Literaten der Romantik ergeben sich aus dem physisch-metaphysischen Dualismus des animalischen Magnetismus’ gleich mehrere Anknüpfungspunkte: Allen voran erweist sich das Machtgefälle zwischen Magnetiseur und Magnetisiertem als ein vielfach thematisiertes Motiv, aber auch die Phänomene der Hypnose und Suggestion sowie der magnetische Rapport als Kommunikation, die über die sinnliche Erfahrungswelt hinaus stattfindet, werden zum Beispiel von Jean Paul oder Achim von Arnim aufgegriffen. In dem Gefüge von Somnambulismus, Traum und Schlaf, während denen das Bewusstsein in den Hintergrund tritt und der Geist empfänglicher für unbewusste Einflüsse wird, findet die romantische Literatur außerdem einen Ansatz, Geist und Natur einander anzunähern.[24] Kleist thematisiert beispielsweise in der Holunderbuschszene im Käthchen von Heilbronn die Sichtbarmachung des Nicht-Bewussten mithilfe magnetischer Motive.[25]
Der animalische Magnetismus bei Hoffmann
Hoffmanns Berührungspunkte mit dem Magnetismus
Ab Anfang des 19. Jahrhunderts kommt auch Hoffmann durch die Werke anderer Schriftsteller (Arnim, Jean Paul), Freundschaften mit Magnetiseuren wie Adalbert Friedrich Marcus, durch seine Arbeit als Gutachter bei Gericht und die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen[26] in Kontakt mit dem animalischen Magnetismus und verarbeitet ihn in mehreren Erzählungen.
Der Magnetiseur
In Der Magnetiseur, der im zweiten Teil der Fantasiestücke erscheint, setzt sich Hoffmann zum ersten Mal ausführlich mit dem Magnetismus auseinander. Er selbst beschreibt den Text in einem Brief als eine Novelle,
„die in die vielbesprochene Lehre vom Magnetismus tief einschneidet, und eine, so viel ich weiß, noch nicht poetisch behandelte Seite desselben (die Nachtseite) entfalten soll.“[27]
Verkehrung des Magnetismus‘ zum feindlichen Prinzip
Hoffmann verkehrt die Heilmethode hier zu einem feindlichen Prinzip, das die willenlose Übernahme des Magnetisierten ermöglicht. Das magnetische Prinzip wird vom Magnetiseur missbraucht und bringt am Ende Unheil über eine ganze Reihe von Figuren. Dabei arrangiert er die Geschichte in Teilen als Anlehnung an die Fallstudien nicht fiktionaler Magnetiseure: Mit der gleichen Legitimationsstrategie medizinischer Mitschriften gibt Hoffmann den Ausführungen des Magnetiseurs Alban und dem Bericht der magnetisierten Maria Raum und etabliert dadurch eine wissenschaftskritische Sicht.[28]
Sinneskrisen durch die Manipulation von Gefühlen und Wahrnehmungen
Ebenso wie in den späteren Erzählungen Das öde Haus und Der unheimliche Gast, steht auch bei Der Magnetiseur die Problematisierung des Abhängigkeitsverhältnisses des Magnetisierten vom Magnetiseur im Vordergrund. In allen drei Geschichten wird im Zuge dessen über den Komplex aus Manipulation, Ohnmacht und Lust verhandelt. Mehrmals wird das erotische Interesse einer Figur durch magnetischen Einfluss auf ein bestimmtes Ziel fixiert, das in den meisten Fällen gar vorherige Präferenzen auslöschen soll. Unfähig, sich das eigene Befinden erklären zu können, leiden die Magnetisierten an einer inneren Zerrissenheit und gehen daran entweder zugrunde oder können sich der Gefahr des magnetischen (Liebes-)Wahnsinns im letzten Moment entziehen.[29]
Die Automate und Der Sandmann
Somnambulismus und substitutvermittelter Rapport als magnetisches Erzählprinzip
Obwohl in Die Automate oder Der Sandmann nicht explizit davon die Rede ist, so lassen sich auch hier die Charakteristika des Hoffmannschen Magnetismus’ finden. So wie die Figuren in den drei vorgenannten Erzählungen werden auch Ferdinand während seiner Episode und Nathanael, als er das erste Mal auf Coppelius trifft, in einen somnambulen Zustand, einen Wachtraum, versetzt. Zwar ist die Figur des Magnetiseurs in beiden Geschichten nicht ausdrücklich gekennzeichnet, nichtsdestotrotz bauen Ferdinand und Nathanael einen magnetischen Rapport auf, der durch Musik bzw. ein Fernglas als Magnetiseursubstitut (wie der Spiegel in Das öde Haus) auch über Entfernung vermittelt werden kann. Mit Ausnahme von Die Automate dienen die Augen in den Texten sowohl als Austrittspunkt der magnetischen Kraft – werden doch bei allen Magnetiseuren ihre stechenden Augen herausgestellt – als auch als Eintrittspunkt, über den sie mit den Magnetisierten einen Rapport aufbauen. Wie zuvor haben die Geschichten überdies die Etablierung eines unerklärlichen Liebesverhältnisses gemein (sogar Nathanaels Objektfixierung auf Olimpia klingt im Porträt in Das öde Haus an), das Nathanael in den Wahnsinn treibt und von dem Ferdinand sich erholen kann.[30]
Die Genesung
Spannungsfeld magnetische Heilung und Einflussnahme
Die Genesung schließlich wirkt auf den ersten Blick wie ein Sonderfall, wird hier doch Siegfried mithilfe des animalischen Magnetismus’ von seiner Wahnvorstellung geheilt. Dass die Geschichte aber nicht ohne Weiteres als Versöhnung zu sehen ist, hat Hilpert gezeigt: Der Magnetismus ist auch in Die Genesung ambivalent angelegt. Die Heilung des an Wahnvorstellungen leidenden Siegfrieds ist ebenso lesbar als die magnetische Manipulation eines gesunden Menschen mit unliebsamen gesellschaftskritischen Vorstellungen durch einen auf den eigenen Vorteil bedachten Magnetiseur.[31]
Fazit
Grenze zum Wahnsinn
Hoffmanns Auseinandersetzung mit dem animalischen Magnetismus findet am Grenzbereich zum Wahnsinn statt und verhandelt vorwiegend dessen zerstörerischen Einfluss. Auf dieser psychologischen Leerstelle des Mesmerismus‘ baut Hoffmann über mehrere Geschichten hinweg ein Strukturprinzip auf, das sich von dort auch auf andere seiner Werke erstreckt.[32]
Integration des Magnetismus‘ in die romantische Allegorie
Durch die Verarbeitung der zeitgenössischen Wissenschaft schließt Hoffmann seine literarischen Darstellungen an die reale Welt an; indem er sich jedoch dem erzählerischen Potential jenseits wissenschaftlicher Erkenntnisse zuwendet, lenkt er den Fokus auf das Unerforschte.[33] Solchermaßen fördert Hoffmann das Changieren der phantastischen Literatur zwischen Wunderbarem und Unheimlichem und integriert die Wissenschaft als Teil der Einbildungskraft in die romantische „Allegorie“[34].
Anmerkungen
[1] Vgl. Gaderer, Rupert: Poetik der Technik. Elektrizität und Optik bei E.T.A. Hoffmann. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien: Rombach 2009, 38f
[2] Vgl. Moiso, Francesco: Theorien der Elektrizität. In: Historisch-kritische Ausgabe / Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Im Auftr. der Schelling Kommission der Bayrischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Hans Michael Baumgartner… Erg.-Bd. Zu 5/9: Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797–1800. Stuttgart: Fromm 1994, 273ff
[3] Hoffmann, E.T.A.: Lebens-Ansichten des Katers Murr. In: Sämtliche Werke [Bd. 5] hrsg. von Steinecke, Hartmut. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag 1992, 166
[4] Vgl. Gaderer, Rupert: Poetik der Technik. 2009, 38ff
[5] Gaderer, Rupert: Elektrizität. In: E.T.A. Hoffmann Handbuch: Leben-Werk-Wirkung hrsg. von Lubkoll, Christiane / Neumeyer, Harald. Stuttgart: Metzler 2015, 254
[6] Vgl. ebd.
[7] Hoffmann, E.T.A.: Lebens-Ansichten des Katers Murr. In: Sämtliche Werke [Bd. 5] hrsg. von Steinecke, Hartmut. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag 1992, 188
[8] Hoffmann, E.T.A.: Das Majorat. In: Sämtliche Werke [Bd. 3] hrsg. von Steinecke, Hartmut. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag 1992, 222
[9] Hoffmann, E.T.A.: Die Abenteuer der Sylvester-Nacht. In: Sämtliche Werke [Bd. 2] hrsg. von Steinecke, Hartmut. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag 1992, 330
[10] Hoffmann, E.T.A.: Die Brautwahl. In: Sämtliche Werke [Bd. 4] hrsg. von Steinecke, Hartmut. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag 1992, 684
[11] Gaderer, Rupert: Liebe im Zeitalter der Elektrizität. E.T.A. Hoffmanns Homines electrificati. In: Liebe: Diskurse und Praktiken hrsg. von Sieder, Reinhard / Eder, Franz X. / Hammer-Tugendhat, Daniela. Wien [u. a.]: StudienVerlag 2007, 55f
[12] Hoffmann, E.T.A.: Das öde Haus. In: Sämtliche Werke [Bd. 3] hrsg. von Steinecke, Hartmut. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag 1992, 169
[13] Vgl. Gaderer, Rupert: Liebe im Zeitalter der Elektrizität. 2007, 57
[14] Hoffmann, E.T.A.: Lebens-Ansichten des Katers Murr. In: Sämtliche Werke [Bd. 5] hrsg. von Steinecke, Hartmut. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag 1992, 156
[15] Vgl. Mesmer, Franz Anton: Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus. Carlsruhe: 1781, 9f
[16] Mesmer, Franz Anton: Schreiben über die Magnetkur. 1775, 4
[17] Vgl. Mesmer, Franz Anton: Entdeckung des thierischen Magnetismus. 1781, 12f
[18] Vgl. Prinz, Armin: Mesmer, Franz Anton. In: Neue Deutsche Biographie [Bd. 17]. Berlin: Duncker & Humblot 1994, 210f
[19] Vgl. Barkhoff, Jürgen: Magnetische Fiktionen: Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stuttgart [u. a.]: Metzler 1995, 2f
[20] Vgl. Luly, Sara: Magnetism and Masculinity in E.T.A. Hoffmann’s Der Magnetiseur. In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory [88:4]. 2013, 421f
[21] Schweizer, Stefan: Zwischen Poesie und Wissen: E.T.A. Hoffmanns Der Magnetiseur. In: E.T.A Hoffmann-Jahrbuch: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft hrsg. von Steinecke, Hartmut / Kremer, Detlef. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2007, 39
[22] Vgl. Treitel, Corinna: A Science for the Soul: Occultism and the Genesis of the German Modern. Baltimore: JHU Press 2004, 34ff
[23] Vgl. Barkhoff, Jürgen: Magnetische Fiktionen. 1995, 320
[24] Vgl. Kremer, Detlef: E.T.A. Hoffmann zur Einführung. Hamburg: Junius 1998, 69
[25] Vgl. Weder, Katharine: Kleists magnetische Poesie: Experimente des Mesmerismus. Göttingen: Wallstein 2008, 158ff
[26] Hoffmann bezieht sich beispielsweise in Das Öde Haus (DKV Bd. 3: 184) auf Karl Alexander Ferdinand Kluges Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel (1811) und Ernst Daniel August Bartels’ Grundzüge einer Physiologie und Physik des animalischen Magnetismus (1812).
[27] Hoffmann, E.T.A.: Der Magnetiseur. In: Sämtliche Werke [Bd. 2] hrsg. von Steinecke, Hartmut. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag 1992, 725
[28] Vgl. Klesse, Marc: Der Magnetiseur. Eine Familenbegebenheit (1814). In: E.T.A. Hoffmann Handbuch: Leben-Werk-Wirkung hrsg. von Lubkoll, Christiane / Neumeyer, Harald. Stuttgart: Metzler 2015, 25ff
[29] Vgl. ebd.
[30] Vgl. Bergengruen, Maximilian: Dämonomanie: Verwolgungswahn, Magnetismus und Vererbung in E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“. In: Das Dämonische. München: Fink 2014, 157ff
[31] Vgl. Hilpert, Daniel: Die Genesung. In: : E.T.A. Hoffmann Handbuch: Leben-Werk-Wirkung hrsg. von Lubkoll, Christiane / Neumeyer, Harald. Stuttgart: Metzler 2015, 194f
[32] Vgl. Bergengruen, Maximilian / Hilpert, Daniel: Magnetismus/Mesmerismus. In: E.T.A. Hoffmann Handbuch: Leben-Werk-Wirkung hrsg. von Lubkoll, Christiane / Neumeyer, Harald. Stuttgart: Metzler 2015, 294ff
[33] Vgl. Barkhoff, Jürgen: Magnetische Fiktionen. 1995, 196
[34] Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann. In: Sämtliche Werke [Bd. 3] hrsg. von Steinecke, Hartmut. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag 1992, 46
[35] Vgl. Lachapelle, Sofie: Conjuring Science: A History of Scientific Entertainment and Stage Magic in Modern France. New York: Palgrave Macmillan 2015, 19f
Literatur
Barkhoff, Jürgen: Magnetische Fiktionen: Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stuttgart [u. a.]: Metzler 1995
Bergengruen, Maximilian: Dämonomanie: Verwolgungswahn, Magnetismus und Vererbung in E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“. In: Das Dämonische. München: Fink 2014, 145–172
Bergengruen, Maximilian / Hilpert, Daniel: Magnetismus/Mesmerismus. In: E.T.A. Hoffmann Handbuch: Leben-Werk-Wirkung hrsg. von Lubkoll, Christiane / Neumeyer, Harald. Stuttgart: Metzler 2015, 292–297
Gaderer, Rupert: Elektrizität. In: E.T.A. Hoffmann Handbuch: Leben-Werk-Wirkung hrsg. von Lubkoll, Christiane / Neumeyer, Harald. Stuttgart: Metzler 2015, 253–257
Gaderer, Rupert: Poetik der Technik. Elektrizität und Optik bei E.T.A. Hoffmann. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien: Rombach 2009
Gaderer, Rupert: Liebe im Zeitalter der Elektrizität. E.T.A. Hoffmanns Homines electrificati. In: Liebe: Diskurse und Praktiken hrsg. von Sieder, Reinhard / Eder, Franz / Hammer-Tugendhat, Daniela. Wien [u. a.]: StudienVerlag 2007, 43–61
Hilpert, Daniel: Die Genesung. In: E.T.A. Hoffmann Handbuch: Leben-Werk-Wirkung hrsg. von Lubkoll, Christiane / Neumeyer, Harald. Stuttgart: Metzler 2015, 194–195
Klesse, Marc: Der Magnetiseur. Eine Familenbegebenheit (1814). In: E.T.A. Hoffmann Handbuch: Leben-Werk-Wirkung hrsg. von Lubkoll, Christiane / Neumeyer, Harald. Stuttgart: Metzler 2015, 25–27
Kremer, Detlef: E.T.A. Hoffmann zur Einführung. Hamburg: Junius 1998
Lachapelle, Sofie: Conjuring Science: A History of Scientific Entertainment and Stage Magic in Modern France. New York: Palgrave Macmillan 2015
Luly, Sara: Magnetism and Masculinity in E.T.A. Hoffmann’s Der Magnetiseur. In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory [88:4]. 2013, 418–434
Mesmer, Franz Anton: Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus. Carlsruhe: 1781
Mesmer, Franz Anton: Schreiben über die Magnetkur. 1775
Moiso, Francesco: Theorien der Elektrizität. In: Historisch-kritische Ausgabe / Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Im Auftr. der Schelling Kommission der Bayrischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Hans Michael Baumgartner… Erg.-Bd. Zu 5/9: Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797–1800. Stuttgart: Fromm 1994, 221–372
Prinz, Armin: Mesmer, Franz Anton. In: Neue Deutsche Biographie [Bd. 17]. Berlin: Duncker & Humblot 1994, 209–211
Schweizer, Stefan: Zwischen Poesie und Wissen: E.T.A. Hoffmanns Der Magnetiseur. In: E.T.A Hoffmann-Jahrbuch: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft hrsg. von Steinecke, Hartmut / Kremer, Detlef. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2007, 25–49
Treitel, Corinna: A Science for the Soul: Occultism and the Genesis of the German Modern. Baltimore: JHU Press 2004
Weder, Katharine: Kleists magnetische Poesie: Experimente des Mesmerismus. Göttingen: Wallstein 2008