Die romantische Medizin
Wann die „romantische Medizin“ ihren Anfang nahm, ist schwierig festzulegen. Vielleicht war es 1762, als John Brown seine Elementa Medicinae veröffentlichte oder 1775, als Franz Anton Mesmer in seinem Schreiben über die Magnetkur an die wissenschaftlichen Akademien in Europa seine Entdeckung des „animalischen Magnetismus“ kundtat oder auch 1799, als die brownianischen Ärzte und Mesmeristen Markus und Röschlaub in Bamberg mit dem jungen Naturphilosophen Schelling zusammentrafen oder 1807, als Christian Friedrich Samuel Hahnemann eine neue universelle Heilmethode unter dem Namen „Homöopathie“ verbreitete (Artelt 1965, Schiffter 2006, Huch 1912,Leibbrand 1956). Die romantische Medizin war ein Kompositum aus verschiedenen „Entdeckungen“ in einer Zeit, als es noch keine naturwissenschaftlich begründete Medizin gab. Neben der weiter wie seit 2500 Jahren betriebenen „Säftelehre“ der antiken Urväter Hippokrates und Galen war sie vor allem charakterisiert durch die oben genannten Ereignisse, eine gewisse Neurologisierung der Medizin (Reil) und auch durch christliche Ingredienzien (Ringseis).
Roland Schiffter studierte Medizin an der Humboldt-Universität zu Berlin und hatte ab 1972 an der Freien Universität Berlin eine Professur im Fach Neurologie inne. Ab 1980 war er bis zu seiner Pensionierung 2003 als Chefarzt an verschiedenen Berliner neurologischen Kliniken tätig. Er ist Vorsitzender der Sektion Berlin-Brandenburg der Heinrich Heine-Gesellschaft, Vorstandsmitglied der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin (1773), Mitglied der Viktor von Weizsäcker-Gesellschaft und Pianist der Jazz-Band Call of New Orleans (→ Forscherprofil).
Blutegel, Schröpfköpfe und gelbe Galle – Die Säftelehre
Säftelehre
Die Humoralpathologie gründete sich auf das ausgewogene (Gesundheit) oder gestörte (Krankheit) Verhältnis der vier „Grundsäfte“ des Körpers Blut (sanguis), gelbe Galle (cholera), schwarze Galle (melancholia) und Schleim (phlegma). Es galt also bei Krankheit die nunmehr fehlerhaft gemischten Säfte wieder ins Gleichgewicht zu bringen, was durch „Ausleitungen“ wie Harn und Stuhl abführende, Erbrechen auslösende oder schweißtreibende Maßnahmen erfolgte oder durch regionale Blutentleerungen (Blutegel), Blutergüsse erzeugende Manipulationen (Schröpfköpfe) und schließlich durch die stets schädlichen Aderlässe. Nicht selten wurden künstlich Wunden gesetzt und unterhalten, damit mit den Wundsekreten und dem Eiter die schlechten Säfte abgeführt wurden. Hinzu kamen das Trinken von „Heilwässern“, das Baden in „Heilbädern“ und die Verordnung der verschiedensten Diäten und heilsamen Kräuter-Tees und auch einige wirksame Medikamente ( Digitalis, Opiate). Als Diagnosen gab es die verschiedensten „Fieber“ wie Nerven-, Wechsel- oder Faulfieber und „Süchte“ wie Schwind-, Wasser- oder Fallsucht, die jeweils spekulativ konstatiert waren. Die Heilerfolge waren entsprechend.
John Brown
Brownianismus
Dann kam John Brown (1736-1788) und proklamierte 1862 in seinem Bestseller mit dem hochtrabenden Titel Elementa medicinae den „Brownianismus“, der die damalige Medizin durchaus revolutionierte. Brown war ein genialischer Hallodri und ziemlicher Lotterjahn aus Schottland, der ein Jahr zuvor mühsam sein medizinisches Staatsexamen bestanden und weder viel gelesen noch wirklich ärztliche Erfahrung erworben hatte.
Die Theorie
Sein System war von geradezu banaler aber eingängiger Einfachheit und basierte auf sehr spärlichem physiologischem Wissen (z.B. der Irritabilitätstheorie Albrecht von Hallers) und der allenthalben akzeptierten Annahme des polaren Kräftespiels einer imaginären „Lebenskraft“: Jedes Lebewesen, also auch der menschliche Organismus, besitze die unmittelbar immanente Grundeigenschaft der Reizbarkeit-Erregbarkeit. Aus der Umwelt eindringende Reize würden permanent in innere Erregung umgewandelt. Außenreize und innere Erregung generierten als ein ständiges polares Gleichgewicht den eigentlichen Lebensprozess, wobei die dabei aktive „Lebenskraft“ (Vitalismus) durch Steigerung der Außenreize bzw. der Innenerregung verstärkt oder durch deren Mangel geschwächt würde. Die Außenreize seien Licht, Luft, Wärme, Kälte, aber auch das Blut und andere Einflüsse. Auf die Krankheitslehre übertragen hieß das, dass es prinzipiell nur zwei Krankheitsgruppen gäbe, die asthenischen (griech. Astheneia= Schwäche) und die sthenischen („starken“).
Anwendung und Verbreitung
Entsprechend benötigte man nur stärkende oder schwächende ärztliche Maßnahmen, Arzneien oder Diäten. Es galt nur Stärke mit Schwäche und Schwäche mit Stärke zu korrigieren („Contraria contrariis“). Entscheidend war immer nur die Dosis, nicht der Inhalt etwa der Arznei. Brown empfahl sogar, jeweils mehrere stärkende und schwächende Mittel gleichzeitig einzusetzen, eines würde dann schon helfen. Sthenische Krankheiten waren nach Brown z. B. Lungenentzündung, Rheumatismus, Masern, Fettsucht oder Manie. Hier halfen schwächende Mittel wie Lichtentzug, Opium, kalte Bäder oder Aderlässe. Als asthenisch bedingt galten Magersucht, Ausbleiben der Regelblutung, abnormer Durst, Erbrechen, Hämorrhoiden, Ruhr oder Skorbut, hiergegen gab man stärkende Mittel wie nahrhafte Kost, Alkohol, Kampfer, warme Bäder oder Gewürze.
Diese Medizin schwappte wie eine Modewelle über die romantische Ärzteschaft und die gebildeten Laien, sicher auch als Alternative zur Säftelehre. Fast die ganze romantische Avantgarde wurde unmittelbar brownianisch: F. W. Schelling, E. T. A. Hoffmann, Novalis, J. Chr. Reil, die Bamberger Modeärzte Röschlaub und Marcus und viele andere (Schiffter 2008).
Albrecht von Haller
Albrecht von Haller wurde 1708 in Bern geboren und studierte Naturwissenschaften und Medizin. Besonders einflussreich waren seine Studien im Bereich der Anatomie und der Physiologie, wo er die Reizbarkeit verschiedener Körperteile untersuchte. Nicht zuletzt wegen seiner dichterischen Werke gilt Haller bis heute als Universalgenie. Er verstarb 1777.
Franz Anton Mesmer: Magnetismus & Glasorgel
tierischer Magnetismus
Mindestens ebenso einflussreich war der ab etwa 1800 sich ausbreitende „tierische Magnetismus“ des Franz Anton Mesmer (1734-1815). Mesmer behauptete keck:
„Ich habe gefunden, dass nicht nur der Stahl allein geschickt sei, die magnetische Kraft anzunehmen, sondern ich machte Papier, Brot, Wolle … Glas, Wasser … Hunde, Menschen, alles, was ich berührte, so magnetisch, dass gedachte Körper für sich die nämliche Wirkung auf die Kranken taten, als die Magnete selbst.“[1]
Die Theorie
Er könne damit „Blutspeien“ oder Lähmungen nach Schlaganfällen „und alle andern mir vorkommende hypochondrische, konvulsivische und hysterische Zufälle“ heilen. Die magnetische Kraft stamme aus dem Weltall, Erde, Lebewesen und Menschen umspannenden „Äther“. Im Körper führe die Blockade oder Disharmonie der polar strukturierten magnetischen „Allflut“ zur Krankheit, seine Heilmethode führe zurück zur Harmonie und damit zur Heilung. Die apparative Prozedur der Methode bestand aus einem Bottich („Bacquet“), der mit magnetisch gemachten Glas u.a. Materialien gefüllt war. Die Patienten leiteten daraus mit Metallstangen die magnetische Kraft in ihre Körper und wurden davon „geheilt“. Zu der magisch gestalteten Zeremonie spielte er Musik auf der Glasorgel.
Anwendung
Da er (und eigentlich jeder Mensch mehr oder weniger) diese magnetische Kraft auch spontan in sich berge, ging er bald dazu über, nur noch die Hand auf die Kranken zu legen und so die Kraft zu übertragen. Mesmer wurde damit unbewusst zum Vorläufer der späteren Psychotherapien. Wiederum war die geistige Elite der Zeit (Schelling, Reil, Hoffmann, Schleiermacher, die von Arnims, auch Hufeland) angetan oder begeistert von der neuen, offenbar ungefährlichen Heilmethode. Dabei spielte der magnetisch erzeugte
„
Somnambulismus“, der besonders bei jungen Frauen auslösbar war, eine irgendwie betörende Rolle. In Berlin betrieb der Arzt A. Ch. Wolfart sogar eine „Klinik für Heilmagnetismus“.
Homöopathie statt Schulmedizin
Homöopathie
Ähnlich bedeutsam und spektakulär wurde und blieb bis heute die dritte neue alternative Heilmethode, die sogenannte „Homöopathie“ des Christof Friedrich Samuel Hahnemann (1755-1843). Für ihn war Krankheit „Verstimmung der Lebenskraft“.
Ursprung der Theorie
Nach sechs Jahren unbefriedigender praktischer Tätigkeit als Arzt kam er 1785 zu der Erkenntnis, dass er „nicht mehr unbekannte Krankheiten mit unbekannten Arzneien behandeln“ und so zum „Mörder“ seiner Kranken werden wolle. Er brach radikal mit der „Schulmedizin“, wurde Chemiker, wechselte unentwegt den Arbeitsplatz und ließ sich 1805 erneut, jetzt in Torgau, als Arzt nieder. Inzwischen hatte er William Cullens Werk Materia medica übersetzt und glaubte dabei ein Grundprinzip jeglicher Therapie in der Medizin entdeckt zu haben, das er dann auch in Selbstversuchen habe bestätigen können. Es lautet: „Wende in der zu heilenden Krankheit dasjenige Arzneimittel an, welches eine andere/möglichst ähnliche Krankheit zu erregen imstande ist: Simila similibus (Ähnliches durch Ähnliches)“. 1810 beschrieb er das Prinzip in seinem „Organon der rationellen Heilkunde“ ausführlich.
Anwendung und Verbreitung
Er stellte seine Medikamente (meist aus Kräutern) selbst her in nach Bedarf immer extremeren Verdünnungen (sog. Potenzen), die in spezieller Weise geschüttelt werden mussten. Diese enthielten nun „geistartige Arzneikräfte“, die im Organismus auf magische Weise Energien mobilisierten, die die Heilung bewirkten. Die bei Krankheit verstimmte „Lebenskraft“ sei sinnlich nicht wahrnehmbar und so seien Krankheitsursachen auch niemals sinnlich nachweisbar, also jegliche Diagnostik (Ursachenforschung) entbehrlich und auch das Medizinstudium mit Anatomie, Physiologie usw. überflüssig. Allein wesentlich und behandelbar seien die Symptome der Krankheit. Bei den Arzneien seien die stärksten Verdünnungen am wirksamsten. Auch dieses spekulative Konzept machte Furore, sogar weltweit. Schon zu seinen Lebzeiten gab es 500 homöopathisch tätige Ärzte in Deutschland. Bis zum heutigen Tage ist die Homöopathie, deren Medikamente ja unschädlich sind, weit verbreitet, obwohl vielfach wissenschaftlich nachgewiesen wurde, dass sie pharmakologisch wirkungslos sind und allenfalls psychische Wirksamkeit (Plazeboeffekte) besitzen.
Weitere Ansätze: Über das Gehirn und den Sündenfall
Eine nicht unwichtige Rolle spielte auch Johann Christian Reil (1759-1813), der versuchte, die alte Humoralpathologie durch eine neurologische Krankheitslehre zu ersetzen. Selbst überzeugter Brownianer und Anhänger Mesmers verlegte er den Sitz der „Lebenskraft“ in das Nervensystem, wobei er das Gehirn zum zentralen „Seelenorgan“ erklärte. Der dabei tätige Energieträger war für ihn nach wie vor der imaginäre Äther.
Schließlich ist noch Johann Nepomuk von Ringseis (1985-1880) zu nennen, der das Methodengemisch der romantischen Medizin noch mit christlichen Ingredienzen versah. Alle Krankheit und Unbill der Welt stamme vom Abfall des Menschen von Gott, vom Sündenfall her und die Krankheiten seien „Hilfsdämonen des Satans“. Deshalb gelte es, jede ärztliche Behandlung mit einer Entsündigung des Kranken zu beginnen.
Fazit
Die romantische Medizin war der von Schelling philosophisch untermauerte Versuch, neue unschädliche Behandlungsweisen für Krankheiten zu kreieren, vor allem als Alternative zur alten Säftelehre, die durchaus wirkungsarm oder schädlich war. Die neuen Heilslehren wurden auch allenthalben begrüßt, weil sie mit ihren alternativen und globalen Spekulationen gut in das magische Weltbild der Romantik passten.
Anmerkungen
[1] Mesmer, Franz Anton: Sendschreiben über die Magnetkur an einen auswärtigen Arzt. Wien 1775. S. 21.
Literatur
- Huch, Ricarda (1912): Ausbreitung und Verfall der Romantik. H. Haessel Verlag Leipzig.
- Leibbrand, Werner (1956): Die spekulative Medizin der Romantik. Claassen Verlag Hamburg.
- Schiffter, Roland (2008): Vom Leben, Leiden und Sterben in der Romantik. Königshausen & Neumann Würzburg.
- Schiffter, Roland (2006): „… ich habe immer klüger gehandelt, als die philisterhaften Ärzte…“ Romantische Medizin im Alltag der Bettina von Arnim – und anderswo. Königshausen & Neumann Würzburg.
- Artelt, Walter (1965): Der Mesmerismus in Berlin. Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse. Jg. 1965, Nr. 6. Verlag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. In Kommission bei Franz Steiner Verlag GmbH Wiesbaden.