E.T.A. Hoffmanns Tagebuch
Hoffmann führte zweimal in seinem Leben Tagebuch: etwa ein halbes Jahr, 1803/04, in Plock, wo er sich wie im „Exil“ fühlte, bis zur Versetzung nach Warschau; und 1809-15, in Bamberg und in Sachsen, bis in die ersten Monate nach seiner endgültigen Rückkehr nach Berlin. Das zeigt: Das Tagebuch war für ihn nicht nur ein Mittel der Selbstfindung, es diente auch dazu, mit der Einsamkeit des Lebens fern von den Zentren des kulturellen Lebens umzugehen.
Hartmut Steinecke (1940-2020) war Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Paderborn. Er war Gründer und Herausgeber des E.T.A.-Hoffmann-Jahrbuchs. Außerdem hat er zahlreiche Werke von und zu E.T.A. Hoffmann (Sämtliche Werke sowie E.T.A. Hoffmann. Neue Wege der Forschung) herausgegeben und verschiedene Bücher und Aufsätze zur Literatur der Romantik und insbesondere zu E.T.A. Hoffmann (Die Kunst der Fantasie. E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk) verfasst. 2011 war er der erste Träger der „E.T.A.-Hoffmann-Medaille“. (→Forscherprofil)
Plock
In Plock benutzte er ein Heft; das ermöglichte auch längere Eintragungen. Hoffmann schreibt, oft in ausformulierten Sätzen, über Erlebnisse, notiert häufig Stimmungen, Reflexionen, unregelmäßig trotz verschiedentlicher Selbstermahnungen:
„von heute an wird regulair Buch gehalten über die Begebenheiten des Lebens die bunte Welt innerhalb der Wände des GehirnKastens mit ihren Ereignissen mit eingerechnet.“
(1.1.1804; 1, 339)
Wenige erfreuliche Momente – der Blick auf seine erste Veröffentlichung – stehen neben vielen Klagen, über Langeweile, „miserables Einerley“, immer wieder „dies tristes“.
Bamberg
In Bamberg und Sachsen benutzte Hoffmann Schreibkalender mit Wochenkalendarien (1814 einem Monatskalendarium). Das ließ für die einzelne Eintragung wenig Raum. Es dominieren Stichwörter und Reihungen, auch Abkürzungen und Piktogramme (mehrfach: ein Trinkpokal) sind nicht selten. Zahlreiche Eintragungen bestehen nur aus einem Wort („krank“, „gearbeitet“), auch hier oft „dies tristis“ oder „ordin.“
Die Eintragungen in Bamberg – immer wieder mit Lücken, phasenweise allerdings fast täglich – bieten einen ungewöhnlich vielseitigen Einblick in den Alltag des Künstlers in der Provinz: Begegnungen, Abende in Gaststätten, Alkoholkonsum, Theaterbesuche, Geldnöte, der ungeliebte Musikunterricht. Großen Raum nehmen künstlerische – vor allem musikalische – Projekte ein. Daneben wächst das Interesse an der eigenen Person: Beschwerden, Krankheiten, Stimmungen, Gefährdungen („Warum denke ich schlafend und wachend so oft an den Wahnsinn?“, 6.1.1811; 1, 377), Probleme der Identität („Ich denke mir mein Ich durch ein VervielfältigungsGlas“; 6.11.1809; 1, 375). So wird das Tagebuch auch zum Medium der Selbsterforschung.
Bei den Aufzeichnungen der eigenen Gemütszustände treten in den Bamberger Tagebüchern seit 1811 die Gefühle für die 15-jährige Musikschülerin Julia Mark in den Mittelpunkt. Er nennt sie „Käthchen“ (nach Kleists Schauspiel); die Abkürzung „Ktch“ findet sich weit über hundertmal. Er notiert seine Sehnsüchte, Wünsche, Enttäuschungen. Ihr Anblick, ein Gespräch, ihr Gesang versetzt ihn in „Exaltation“, treibt ihn zum „Wahnsinn“, zu erotischen Fantasien. Diese jahrelange Leidenschaft wird jedoch gelegentlich auch bereits literarisiert: Hoffmann kann dem Verhältnis, das er durchleidet, mitunter wie einem Schauspiel von außen zuschauen („Ktch nur als Maske anzusehn – demasquez vous donc, mon petit Monsieur!“ (19.1.1812; 1, 393) und seine Rolle kommentieren: „ein großer Affe gewesen“ (2.4.1812; 1, 405).
Um die teilweise recht intimen Äußerungen vor neugierigen Augen zu schützen, wendete Hoffmann einige Tarnungen an: Abkürzungen, fremdsprachige Wendungen, griechische Buchstaben. Das war allerdings nur begrenzt erfolgreich: Die Ehefrau Mischa hat wohl das nicht überlieferte Tagebuch 1810 vernichtet, den mit der Notiz „EifersuchtsSzene mit der Frau“ am 18. Mai abbrechenden Kalender 1811 (1, 389) an sich genommen.
Sachsen
In der Zeit in Sachsen führte Hoffmann sein Tagebuch fast täglich. So sind wir ungewöhnlich gut über seine Arbeit als Kapellmeister und die Entstehung seiner ersten größeren literarischen Werke informiert. Auch das Zeitgeschehen spielt erstmals eine größere Rolle: die letzten Monate der Napoleonischen Herrschaft in Deutschland, der Alltag im umkämpften Dresden, in erschütternden und komischen Details, das Schlachtfeld:
„Leichen mit zerschmetterten Köpfen und Leibern […] Was ich so oft im Traume gesehn ist mir erfüllt worden – auf furchtbare Weise – Verstümmelte zerrissene Menschen!!“
(29.8.1813; 1, 471).
Hoffmann entfaltete seine Tagebuchnotizen über das Kriegsgeschehen narrativ zunächst in einigen Briefen an Freunde, sodann in einem (Fragment gebliebenen) Prosatext „Drei verhängnisvolle Monate!“ Dies zeigt, wie der Julia-Komplex, die Bedeutung, die dem Tagebuch im Prozess der Umwandlung von Erlebtem und Wirklichkeit in Literatur zukommt.
Literatur
Quellen
DKV Bd 1 und 6
weiterführende Literatur
- Auhuber, Friedhelm: Hoffmanns Briefe und Tagebücher. In: Detlef Kremer (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Berlin, New York 209, 449-461
- Kurdi, Imre: „Nun will ich aber auch gewiß hier täglich etwas hinein schreiben.“ E.T.A. Hoffmanns Tagebücher. In: Vilmos Ágel/Andreas Herzog (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2000, 15-38.
- Steinecke, Hartmut: Die Kunst der Fantasie. E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk. Frankfurt a. M., Leipzig 2004.
- Steinecke, Hartmut: Tagebücher. In: Christine Lubkoll / Harald Neumeyer (Hg.). E.T.A. Hoffmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2015, 228-231.