Briefe aus den Bergen (1820)
Bei den Briefen aus den Bergen handelt es sich um einen in drei Abschnitte untergliederten Reise-Bericht in Briefform, den der Verfasser auf der Fahrt nach bzw. während seines Aufenthalts in dem schlesischen Kurort Warmbrunn an verschiedene Adressaten in seiner Heimatstadt Berlin richtet: Die Frau von B., den Freund Theodor und das Fräulein Johanna R.[1] Themenwahl und Tonfall der Schreiben werden entsprechend an die jeweiligen Adressaten angepasst (vgl. DKV III, S. 1116[2]), so dass nacheinander die Motivation zur Reise, Kur-Alltag und touristisches Angebot sowie Zustand und Ideal des Kunstbetriebs vor Ort diskutiert werden. Die Briefe erschienen mit Unterbrechungen im Freimüthigen zwischen Juni und Dezember 1820 (vgl. DKV III, S. 1114).
Laura-Maria Grafenauer studierte Germanistik und Sprachwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München und promovierte dort im Fach Neuere deutsche Literatur über die Genese der literarischen Kulisse in Werken von Hoffmann, Heine, Goethe und Schnitzler. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Epoche der Romantik sowie den Werken und Werkbeziehungen von E.T.A. Hoffmann und Arthur Schnitzler.
(→ Forschungsprofil)
Entstehungsgeschichte
erste Aufzeichnungen
Schlesienreise
»In der Hoffmann-Literatur spielt das Werk so gut wie keine Rolle« (DKV III, S. 1116), obwohl die Briefe aus den Bergen mit mindestens zwei soliden Argumenten um Aufmerksamkeit werben: Zum einen stellen sie in Hoffmanns Werk eine Seltenheit dar, da er bei der Wahl seiner fiktionalen Schauplätze, zumal seit seinem endgültigen Umzug nach Berlin im Spätsommer 1814, mit Vorliebe auf urbane Räume zurückgreift (vgl. z.B. Das öde Haus, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Doge und Dogaresse, Das Fräulein von Scuderi, Prinzessin Brambilla oder Des Vetters Eckfenster). Zum anderen gewähren die Briefe einen Einblick in Hoffmanns Biographie, denn sie entstanden im Spannungsfeld von zwei eigenen Aufenthalten in Warmbrunn in den Jahren 1798 und 1819. Die ersten Aufzeichnungen und die Idee zum Verfassen eines Reiseberichts in Briefform entstanden nicht erst 1819, sondern bereits über zwei Jahrzehnte zuvor bei Hoffmanns erster Schlesienreise 1798, von der er seinem Freund Theodor Hippel briefliche Berichterstattung zukommen ließ (vgl. DKV III, S. 1114f.). In diesem Kontext kann man bei zahlreichen Details Überschneidungen zwischen dem Korrespondenten des Werks und dem Hoffmann der Realität feststellen, auf die im weiteren Verlauf näher eingegangen wird. Hoffmann plante noch Anfang 1821 offenbar eine Fortsetzung des Brief-Zyklus, die aber nie zustande kam (vgl. DKV III, S. 1115).
Inhalt
Motivation zur Reise
Erster Brief
Der erste Brief ist datiert auf »Hirschberg, den 10. Julius 18–« (DKV III, S. 688). Adressatin ist die Frau von B., die in ihrer Beziehung zum Verfasser am ehesten als ältere Mentorin dargestellt werden kann. Von einem Gasthaus an der Strecke aus beschreibt er ihr seine Motivation zum Aufbruch ins Gebirge. Schon seit Wochen leidet er unter einer ausgewachsenen Schreibblockade, die sich mit zunehmender Irritation in Wahnzustände verwandelt: Flanierende Pantoffeln, Gesichter schneidende Öfen und sich selbst vorlesende Bücher sind die Symptome »jener unglücklichen Krankheit […], die nur Dichter und Schriftsteller zu befallen pflegt« (DKV III, S. 689). Den Impuls zum Entschluss, seine missliche Laune durch eine Reise zu bekämpfen, erhielt der Verfasser während »des herrlichen Abends vor [s]einer Abreise« (DKV III, S. 690) im Garten der Frau von B., der er in Bezug auf seinen Gesundheitszustand endlich eingestehen muss: »Sie hatten Recht, gnädige Frau, Sie hatten ganz Recht, nur ein ärgerlicher verderblicher Spleen […] machte mich zu dem unausstehlichsten aller Erdenkinder« (DKV III, S. 688). In der Hoffnung auf baldige Genesung denkt er an einen Zwischenstopp im Morgengrauen mit Blick auf das Riesengebirge zurück und thematisiert das Motiv der Sehnsucht als finalen Zweck:
Aber mit der unendlichen Sehnsucht nach dem fernen Zauberlande, das vor mir lag, kam mir der Gedanke wieder, einzusteigen und zurückzureisen nach der Heimat, indem ich schon das Herrlichste geschaut, und, da eben jene unendliche Sehnsucht das Höchste hienieden sei und ihre Zerstörung nur Unheil bringe, nun dem ähnliches gar nicht mehr erwarten dürfe. (DKV III, S. 695)
Kurort Warmbrunn
Kunst
Seine Eingebung jedoch setzt er nicht in die Wirklichkeit um, weil eben »höchst selten ein Mensch das Geniale, was er denkt, ins Leben treten ließ« (DKV III, S. 695).
Zweiter Brief
Den zweiten Brief an seinen Freund Theodor, datiert vom »1. August 18–« (DKV III, S. 696) schreibt der Verfasser bereits aus dem Kurort Warmbrunn. Seine mit dem Ortswechsel verbundenen Hoffnungen erfüllten sich zunächst nicht, wurde er doch »in den ersten Tagen [s]eines Hierseins noch von […] demselben finstern gallsüchtigen Dämon« (DKV III, S. 696) heimgesucht, der ihn aus Berlin vertrieben hatte. Im brieflichen Gespräch mit dem gleichaltrigen Kameraden dominieren im weiteren Verlauf humoristische Schilderungen von der mühseligen Suche nach einer Unterkunft, lästigen Zimmernachbarn, der defizitären Organisation von Kurleben und Verpflegung sowie dem notorisch schlechten Wetter. Erst ein kunstvoll komponiertes Gespräch des Verfassers mit Rübezahl (sh. unten) kann schließlich immerhin die Wetterkapriolen besänftigen.
Dritter Brief
Der dritte Brief vom »9. August 18–« (DKV III, S. 703) ist an die junge Sängerin und Freundin des Verfassers, Johanna R., adressiert. Ihr berichtet er zunächst von seinen Erlebnissen in der Umgebung von Warmbrunn, gibt den humoristischen Cicerone und rät ihr schließlich zu einer Reise ins Gebirge, wobei er mit galanter Ironie bedauert, dass die für eine Wanderung zweckmäßige Kleidung gar nicht dazu geschaffen ist, die körperlichen Vorzüge einer jungen Dame zu betonen. Danach kommt die Sprache auf jenes Thema, das den Verfasser mit Johanna R. verbindet: die Kunst. Er beschreibt die schwierigen Bedingungen für den Kulturbetrieb an einem Ort wie Warmbrunn und träumt von einer qualitativ hochwertigen Aufführung des Goethe’schen Singspiels Scherz, List und Rache, in der Verfasser und Adressatin gemeinsam auf der Bühne stehen könnten. Am Ende des Briefs gibt er seiner Hoffnung auf ein Antwortschreiben Ausdruck: »Jeder Brief enthält den Anspruch auf eine Antwort, und es wäre gar schön, wenn Sie diesen Anspruch erfüllten« (DKV III, S. 712).
Interpretation
Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit
Durch alle drei Briefe zieht sich wie ein roter Faden das von Klaus Deterding bewunderte mehrschichtige Spiel Hoffmanns mit den Parametern von Fiktion und Wirklichkeit, den Prozess der »Verwandlung von Wirklichkeit in dargestellte Realität und in die Irrealität«[3]. Beispiele dafür finden sich bereits im ersten Brief, wenn der Verfasser seinen frühmorgendlichen Aufbruch im Reisewagen schildert und sich selbst als »alles bewegendes Prinzip« einer unsanften Begegnung mit dem Torflügel ansieht, da er »den Wagen gewissermaßen nur als geräumigen bequemen Reise-Rockelor umgenommen« (DKV III, S. 693) habe – Deterding sieht hier den »Inbegriff dessen gegeben, was Ins-Leben-Treten bedeutet«[4]. An seinem Anreisetag in Warmbrunn kommt dem Verfasser »der bekannte Graf aus der Leopoldine« (DKV III, S. 697) in die Quere, mit dem er sich um die beste Wohnung in seiner Unterkunft streitet, bis er sie ihm aus Mitleid (und um die Urlaubskasse zu schonen) schließlich doch überlässt. Die Leopoldine ist ein bekannter Roman von Friedrich Schulz aus den Jahren 1790-91, der Graf selbst eine literarische Figur (vgl. DKV III, S. 1119). Der Autor lässt hier eine dramatis persona scheinbar ins wahre Leben treten – jedoch nur scheinbar, denn der Verfasser ist ebenfalls eine dramatis persona, und warum sollten sich zwei dramatis personae nicht ›im Drama‹ begegnen können?[5] Hoffmanns Genialität treibt dieses Spiel noch weiter: Im Gespräch des Verfassers mit Rübezahl »›rutscht‹ die Erzählung aus einer poetischen Dimension in die andere«[6], treten Verfasser, Rübezahl, der Archivarius Lindhorst und »Freund Kühleborn« (DKV III, S. 702) in einen Dialog, um gemeinschaftlich erfolgreich der Schlechtwetterperiode ein Ende zu machen: »Es ist doch gut, wenn man Freunde hat!« (DKV III, S. 703).
Parallelen zwischen Protagonist und Autor
Neben der im Abschnitt ›Entstehungsgeschichte‹ thematisierten Reisesituation, den Hinweisen auf Hoffmanns eigene Werke (nicht nur) im Gespräch mit Rübezahl oder dem vielsagenden Vornamen von Freund Theodor (vgl. DKV III, S. 1117) häufen sich vor allem im dritten Brief die Parallelen zwischen Verfasser und Autor. Die Sängerin Johanna R. stellt ein fiktionales Pendant zu der von Hoffmann bewunderten Sopranistin Johanna Eunike dar, die in seiner Oper Undine die Hauptrolle sang (vgl. DKV III, S. 1117). Klaus Deterding hat unter Verwendung der Briefe aus den Bergen, des Billets des reisenden Enthusiasten (als Nachschrift zum Schreiben an den Herausgeber) und der Widmung Hoffmanns für Johanna zu den Duettini italiani herausgearbeitet, welch leitmotivischen Einfluss diese Frau auf Hoffmanns Werk hatte, und er stützt damit die These einer autobiographischen Deutung auch in den Briefen.[7] So erzählt der Verfasser Johanna R. von der Stimme einer mysteriösen Sängerin, deren Gesangsübungen er an einem der »entferntesten Häuser des Orts« (DKV III, S. 707) gelauscht hat. Dass die Nachforschungen nach ihr erfolglos bleiben, bestätigt ihn in seiner Ahnung,
daß keine Andere, als Sie – ja, Johanna – Sie selbst es waren, welche sang, als ich jene gewisse Romanze vernahm, die einem gewissen Jemand in einer gewissen Begeisterung […] recht aus dem Innersten strömte […] (DKV III, S. 709)
Verweis auf Prinzessin Brambilla
Man vermutet – naheliegenderweise – hinter der ›gewissen Romanze‹ das Morgen so hell aus der Undine (vgl. DKV III, S. 1117). Einen weiteren Verweis auf ein Hoffmann’sches Werk entdeckt man, wenn der Verfasser Johanna R. von den Karawanen der Wandergesellschaften berichtet, die ihn an märchenhafte Prozessionen denken lassen: Die »fabelhafte Musik von Querpfeifen, Cymbeln und kleinen Trommeln« (DKV III, S. 706), die er sich dabei hinzudenkt, findet sich beinahe wörtlich im Zug der Prinzessin Brambilla durch Rom, deren Teilnehmer »auf silbernen Pfeifen bliesen und Zimbeln und kleine Trommeln schlugen« (DKV III, S. 781).[8] Ähnliche Parallelen birgt auch das Bühnenstück, von dessen fachgerechter Aufführung der Verfasser träumt: »Ich dachte an Göthe’s Singspiel: ›Scherz, List und Rache‹, das ich, wiewohl in einen Akt zusammengedrängt, zu meiner Jünglingszeit in Musik setzte« (DKV III, S. 711). Auch diese Information bringt den Verfasser mit dem Autor in Verbindung, denn Hoffmann versuchte sich als junger Mann um die Jahrhundertwende ebenfalls an einer Vertonung des Goethe’schen Singspiels (vgl. DKV III, S. 1122). In der ›Traumbesetzung‹ für diese Aufführung sieht er sich selbst an Johannas Seite:
Die Skapine stellten Sie, teure Johanna, dar, mit jener liebenswürdigen Naivität, mit jener schalkisch anmutigen Ironie, die Ihnen eigen und die unwiderstehlich hinreißt. Der alte Doktor […] war niemand anders als Ihr gehorsamer Diener, der den verliebten geckenhaften Wahnsinn des Alten so wahrhaft darstellte, als könne das Ihnen gegenüber gar nicht anders sein. (DKV III, S. 711f.)
Selbstironie
Allem guten, literaturwissenschaftlichen Willen zum Trotz schleicht sich hier doch die Vorstellung ein, Hoffmann selbst (und selbstironisch!) in der Rolle des verliebten Alten zu sehen – als die Briefe 1820 erschienen, war er 44, Johanna Eunike gerade einmal halb so alt. Wir wollen es nicht dem von Spannungen geprägten Verhältnis zwischen Hoffmann und Goethe anlasten, dass der ›alte Doktor‹ in Scherz, List und Rache am Ende leer ausgehen muss… Zumal da, wie Hartmut Steinecke bemerkt, der Schluss des dritten Briefs möglicherweise eine intertextuelle Referenz zwischen den Zunftbrüdern verbirgt: Hoffmanns humorvolle Schilderung von der Dame, die sich der Postskripta nicht zu enthalten vermag, findet sich inhaltlich ähnlich in den Wanderjahren wieder – sollte Johann Wolfgang hier etwa Ernst Theodor gelesen haben?[9]
Auch über die hier besprochenen Stellen hinaus kann man die Briefe aus den Bergen in ihrer Gesamtheit als ein Hoffmann’sches Werk in nuce beschreiben: Jeder einzelne Satz birgt eine neue Entdeckung und enthält die Quintessenz seines schriftstellerischen Stils u.a. in Bezug auf zieltreffende Ironie, Verweise auf Fremd‑ und Selbstzitate, seine geliebte Musikwissenschaft, das Spiel mit Realität und Fiktion und den Prozess des Kunstschaffens.[10]
Anmerkungen
[1] Der vorliegende Artikel basiert auf dem fünften Kapitel meiner Dissertationsschrift und ihren Forschungsergebnissen, vgl. Laura-Maria Grafenauer: Und Theben liegt in Oberfranken. Die Genese der literarischen Kulisse, aufgezeigt an Werken E.T.A. Hoffmanns. Hamburg: tredition 2020 (= Zugleich Dissertation der Ludwig-Maximilians-Universität München 2020).
[2] Die im weiteren Verlauf unter der Sigle ›DKV III‹ direkt im Text angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe: E.T.A. Hoffmann: Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. Werke 1816-1820. Herausgegeben von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 2009 (= DKV im Taschenbuch, Band 36).
[3] Klaus Deterding: Hoffmanns Poetischer Kosmos. E.T.A. Hoffmanns Dichtung und Weltbild, Band 4. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004: 98.
[4] Deterding, Poetischer Kosmos: 101.
[5] Vgl. Deterding, Poetischer Kosmos: 94f.
[6] Deterding, Poetischer Kosmos: 92.
[7] Klaus Deterding: Magie des Poetischen Raums. E.T.A. Hoffmanns Dichtung und Weltbild. Heidelberg: C. Winter 1999 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 3. Folge, Band 152): 265-267.
[8] Vgl. Deterding, Poetischer Kosmos: 95f.
[9] Vgl. Hartmut Steinecke: E.T.A. Hoffmann und Goethe: Parodie oder Hommage? In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 17 (2009): 48-61. Hier: 60f.
[10] Vgl. für den gesamten Themenkomplex: Deterding, Poetischer Kosmos: 89-102.
Literatur
E.T.A. Hoffmann: Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. Werke 1816-1820. Herausgegeben von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 2009 (= DKV im Taschenbuch, Band 36).
Klaus Deterding: Hoffmanns Poetischer Kosmos. E.T.A. Hoffmanns Dichtung und Weltbild, Band 4. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004.
Klaus Deterding: Magie des Poetischen Raums. E.T.A. Hoffmanns Dichtung und Weltbild. Heidelberg: C. Winter 1999 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 3. Folge, Band 152).
Laura-Maria Grafenauer: Und Theben liegt in Oberfranken. Die Genese der literarischen Kulisse, aufgezeigt an Werken E.T.A. Hoffmanns. Hamburg: tredition 2020 (= Zugleich Dissertation der Ludwig-Maximilians-Universität München 2020).
Hartmut Steinecke: E.T.A. Hoffmann und Goethe: Parodie oder Hommage? In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 17 (2009): 48-61.