Michail Bulgakow
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Seminars „E.T.A. Hoffmann und Europa“, das das Team E.T.A. Hoffmann Portal im Sommersemester 2019 am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin angeboten hat. Insgesamt 16 Studierende hatten sich in diesem Seminar einerseits mit Autoren aus dem europäischen Ausland beschäftigt, die E.T.A. Hoffmanns Werk beeinflusst haben, und andererseits mit Zeitgenossen und späteren Autoren, die sich von E.T.A. Hoffmann inspirieren ließen. Die besten Arbeiten, die zum Teil von den Studierenden selbst webgerecht aufbereitet wurden, konnten im Portal veröffentlicht werden.
Fleur-Nicole Riskin, geb. 1998, studiert seit Oktober 2017 Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Anglistik an der Freien Universität Berlin. Sie ist bilingual (Deutsch und Russisch) aufgewachsen, interessiert sich sehr für verschiedene Sprachen und liest besonders gern literarische Werke, die sich mit Phantastischem beschäftigen. Außerdem schreibt sie selbst gern ab und zu Gedichte und Prosatexte. (→ Forscherinnenprofil)
Biografie
Arbeit als Regieassistent am MXAT
15. Mai 1891: Michail Afanassjewitsch Bulgakow wird in Kiew geboren.
1909 bis 1916: er studiert Medizin an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew, erhält sein Arzt-Diplom und praktiziert danach in Russland. Zur Zeit des Bürgerkriegs wird er 1919 als Arzt in die Ukrainische Republikanische Armee einberufen, desertiert jedoch nach kurzer Zeit und praktiziert daraufhin in der Roten Armee und der Weißen Garde in Russland.
1921: er zieht nach Moskau und beginnt, verschiedene nicht-fiktionale Texte und kleinere Prosastücke für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben. Nebenbei arbeitet er außerdem an Theaterstücken und tritt 1923 dem Allrussischen Schriftstellerverband bei. Im folgenden Jahr beginnt er bei einer Reise durch verschiedene sowjetische Städte mit der Arbeit an seinem wohl bekanntesten Roman, Der Meister und Margarita.
Ab 1930: seine Werke werden unter der sowjetischen Zensur nicht mehr veröffentlicht und seine Stücke nicht mehr aufgeführt, was ihn sowohl finanziell als auch mental und gesundheitlich belastet. Nach einem Hilfsgesuch bei der Regierung wird ihm von Stalin persönlich Hilfe versprochen und kurz darauf findet er Arbeit am Theater – bis 1936 als Regie-Assistent am MXAT. Seine Werke werden zwar weiterhin zensiert, aber wieder veröffentlicht.
In den folgenden Jahren erkrankt er an Bluthochdruck und Nephrosklerose. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide und er musst seiner Frau Teile von Der Meister und Margarita diktieren.
10. März 1940: Bulgakow stirbt an seinen Krankheiten. Der Schriftstellerverband der UdSSR hält eine private Totenmesse für ihn ab.
Hoffmannsche Einflüsse in Bulgakows Schreiben
„Hoffmann wird von der sowjetischen Führung abgelehnt, aber ein Autor wie Michail Bulgakow zeigt, daß er keineswegs in Vergessenheit gerät.[1]
Ähnliche Motive bei Hoffmann und Bulgakow
Das Interesse an Hoffmanns Werken in Russland und den anderen Ländern der späteren Sowjetunion war kurz nach der Oktoberrevolution 1917 wieder gestiegen.[2] Da sie aber von der sowjetischen Führung abgelehnt wurden, dauerte diese neue Enthusiasmuswelle nicht lange an. Trotzdem lassen sich in vielen Werken des wohl bekanntesten sowjetischen Satirikers, Michail Bulgakow, so einige Elemente finden, die Parallelen zu Hoffmann aufweisen. Dazu gehören allem voran die Arbeit mit Groteskem, dunkler Phantastik und Unheimlichem in seinen Romanen, Erzählungen und Theaterstücken. Sowohl aufgrund dieser Motive und Thematiken als auch aufgrund der starken Gesellschaftssatire, der sie oft vorrangig dienten, wurden Bulgakows Werke von der sowjetischen Führung stark zensiert und sogar verboten. Deshalb ist es unter anderem wichtig, bei Beschäftigung mit seinen Werken immer den historischen Kontext im Blick zu haben. Trotz allem fanden sie aber ihren Weg zu den Lesern, und das mit großem Erfolg. An einigen der bekanntesten Werke Bulgakows soll im Folgenden gezeigt werden, welche Parallelen sie zu denen E. T. A. Hoffmanns aufweisen und wie stark die Ähnlichkeiten sind.
»Djavoliada« (»Diaboliade«, auch »Teufelsspuk«) (1923)
Einfluss Hoffmanns bei Bulgakow durch das Werk Gogols
Diese phantastische Erzählung, deren Titel bereits auf das Groteske und die dunkle Phantastik darin hinweist, erzählt die Geschichte des untergeordneten Beamten Korotkow. Dieser wird von seinem Chef, den höhergestellten Beamten und seiner Arbeitsstelle insgesamt immer tiefer in den Wahnsinn und schließlich in den Tod durch Selbstmord getrieben. Dabei drückt sich Korotkows Wahnsinn durch eine Reihe von grotesken und phantastischen Ereignissen und Motiven aus; darunter das Verschwimmen von Traum und Realität, das Motiv des Doppelgängers, Verwandlungen eines Menschen in einen Kater und andere phantastische Phänomene. Parallelen zu Hoffmann liegen nah, was aber auch daran liegen kann, dass vieles in Djavoliada an Werke Nikolai Gogols angelehnt zu sein scheint: „[Man braucht] bei der ,D’javoliada‘ keine Mutmaßungen über mögliche Vorbilder anzustellen. Der Einfluss von Gogol’s [sic] Petersburger Erzählungen ,Šinel‘ und ,Zapiski sumašedšego‘ liegt auf der Hand.“[3] Somit könnte man hier auch von einem sekundären Einfluss Hoffmanns über Gogol sprechen.
Das Motiv des Wahnsinns dient in dieser Erzählung außerdem nicht einfach als Verzerrung der Grenzen zwischen Realität und Imagination oder als Abbild einer irrationalen Weltauffassung. Stattdessen nutzt Bulgakow „[d]ie Darstellungskonvention des Wahnsinnigen, der die Realität aus einer verfremdeten Perspektive sieht und damit auch ihre Mängel besser erkennt, […] um die Bürokratie zu entlarven, in der der einzelne nur noch eine Nummer, ein unbedeutendes Rädchen im Verwaltungsmechanismus ist.“[4] Folglich lässt sich schon in diesem Werk Bulgakows deutlicher Fokus auf Kritik an der sowjetischen Gesellschaft – vor allem an ihrer Bürokratie – erkennen. Dieser zieht sich durch die meisten seiner Werke und „,[d]as wichtige Thema des spukhaften Behördenlebens, des nicht vollkommen beseitigten Bürokratismus, des stumpfsinnigen Kanzleikarusells, [wird] dieses Mal in der symbolischen Manier Hoffmanns gelöst[.]“[5]
»Sobatshje serdse« (»Hundeherz«, auch
»Das hündische Herz«) (1925)
Eine weitere zynische Satire, diesmal auf die sowjetische Gesellschaft insgesamt gerichtet, findet sich in dieser Erzählung Bulgakows. Sie handelt vom streunenden Hund Sharik, der im Winter 1924/25 vom Arzt Doktor Preobrashenski aufgenommen wird. Der Arzt führt Experimente zur Verjüngung von Menschen durch, indem er ihnen Tierorgane einsetzt. An Sharik führt er aber das gegenteilige Experiment durch: er setzt dem Hund Organe eines kürzlich verstorbenen Menschen ein. In den nächsten Tagen nimmt Sharik immer mehr menschliche Züge an und gibt sich den menschlichen Namen Polygraf Polygrafowitsch Sharikov. Er hat aber nicht nur Organe, sondern unerwartet auch die äußerst negativen Denk- und Verhaltensweisen des Verstorbenen übernommen, der ein kommunistischer Alkoholiker und Kleinkrimineller war. Sharikovs Charakter und sein Verhalten verschlimmern sich immer weiter bis er sich schließlich gegen Doktor Preobrashenski stellt und ihm offen droht. Daraufhin operiert der Doktor ihn erneut und macht die Änderungen rückgängig, woraufhin der wieder zum Hund gewordene Sharik ohne jede Erinnerung an das Geschehene als Haustier des Arztes weiterlebt.
Hund als Protagonist
Interessant ist an dieser Erzählung nicht nur ihr Inhalt, sondern auch ihr Schreibstil: die erste Hälfte (bis zu Shariks erster Operation) ist als Monolog aus der Sicht des Hundes erzählt, die zweite Hälfte durch einen allwissenden Erzähler. Der tierische Monolog der ersten Hälfte weist dabei deutliche Parallelen zu Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr auf. In der Kombination beider Hälften wird außerdem deutlich, dass das Tier in diesem Fall mehr Menschlichkeit aufweist als der Mensch, in den es verwandelt wird. Dessen Verhalten ähnelt wiederum eher einem Tier als einem Menschen. [6] Dies stellt nicht nur einen Widerspruch zur Lesererwartung dar, sondern übt durch seine groteske Darstellung insgesamt Kritik an der sowjetischen Gesellschaft, speziell am kommunistischen System und drückt Skepsis gegenüber der Wissenschaft und ihren Möglichkeiten und Grenzen aus.
»Master i Margarita« (»Meister und Margarita«) (1929-1939)
Als wohl bekanntestes Werk Michail Bulgakows weist dieser Roman besonders viele Parallelen zu verschiedenen Werken und Motiven E.T.A. Hoffmanns auf. Er handelt vom plötzlichen Auftauchen des Teufels – unter dem Decknamen Woland – und einiger seiner Handlanger im Moskau der 1930er Jahre, wo sie eine Wohnung beziehen und im Zirkus auftreten. Währenddessen spielen sich immer mehr mit ihnen verbundene, phantastische und groteske Ereignisse in der Stadt ab, die viele Menschen in den Wahnsinn treiben – darunter präzise Todesvorhersagen, Verwandlungen, Teleportation, ein sprechender und wie ein Mensch agierender Kater, aus dem nichts auftauchende und wieder verschwindende Gegenstände und Personen und andere Phänomene. Parallel dazu wird die Geschichte der unglücklichen Moskauerin Margarita erzählt; ihr Geliebter – ein Schriftsteller unter dem Kosenamen „Meister“ – scheint verschwunden zu sein, nachdem sein großer Roman über Pontius Pilatus und Jesus von der sowjetischen Führung abgelehnt und somit nicht veröffentlicht wurde. Margarita ist so verzweifelt, dass sie schließlich Woland um Hilfe bei der Suche nach ihrem Geliebten bittet, der sich, wie sich herausstellt, in einer Moskauer Psychiatrie befindet, da er an der Nichtveröffentlichung seines Romans mental zugrunde geht. Woland schließt einen Pakt mit Margarita, verwandelt sie in eine Hexe und führt die zwei Liebenden wieder zusammen. Kurz darauf lässt er sie aber beide sterben, wodurch sie von dem Unglück innerhalb der sowjetischen Gesellschaft erlöst werden und gemeinsam in der Ewigkeit glücklich existieren können. An verschiedenen Stellen des Romans werden außerdem Kapitel aus dem Roman des Meisters eingebaut.
Verschiedene Elemente aus dem Bereich Theater
Parallelen zu Hoffmann
Das Phantastische, Groteske und Okkulte in diesem Roman – wovon die oben gegebene Zusammenfassung nur einen Teil einfangen konnte – dient einerseits wieder der Gesellschaftssatire, für die Bulgakow in diesem Fall „[a]lle bekannten phantastischen Motive (etwa Liebe/Kunst, Teufel mitten im Alltag, Verwandlungen, Roman im Roman, Ironie des Schlusses, Intertextualität, Selbstreflexion über die Literatur), […] als ironisch verdreht.“[7] So sind all diese Elemente in Master i Margarita einerseits mit Schmerz, Wahnsinn und Tod[8], andererseits aber auch mit Erlösung und Frieden für Margarita und den Meister verbunden. Sie erzeugen damit außerdem eine allgegenwärtige Präsenz des Phantastischen innerhalb der realen, alltäglichen Welt[9], was stark an Hoffmanns Arbeit mit dem Phantastischen erinnert. Außerdem baut auch Bulgakow, der ebenso wie Hoffmann eng mit dem Theater vertraut war[10], in seinen Roman verschiedene Elemente ein, die mit den Bereichen des Theaters und des Tanzes verbunden sind; zwei Beispiele hierfür sind der Zirkus, in dem Woland und seine Truppe auftreten, und der Tanzball des Teufels, zu dem Margarita eingeladen wird.
Ähnlichkeiten mit Goethes Faust
Darstellung des Teufels
Ein anderer interessanter Aspekt des Romans im Vergleich zu Werken Hoffmanns ist die Darstellung des Teufels, Woland. Dieser trägt eher Züge von Mephistopheles aus Goethes Faust als die Hoffmanns, etwa des Teufels aus Die Elixiere des Teufels. Woland agiert meist nur als passiver Beobachter, der Gutes und Böses ebenso wie Logik und Leichtsinnigkeit in sich vereint.[11] So widersprechen sich manchmal seine Körpersprache (leichtsinniges Lachen und Zucken) und seine vornehme und bedachte – oder eher kalkulierende – Redeweise. Auch entspringen aus bösen Handlungen teilweise positive Folgen – etwa die Erlösung der unglücklichen Liebenden durch ihre Entfernung aus der sowjetischen Gesellschaft durch den Tod. Verbunden mit der Tatsache, dass Wolands einzige aktive Handlung oft nur im Sprechen besteht – was genügt, um seinen Willen zu bekommen – und mit seiner motivationslos erscheinenden Art lässt ihn das aber doch auch dem Teufel in Hoffmanns Die Elixiere des Teufels ähneln.
Anmerkungen
[1] Hädrich, Aurélie: Die Anthropologie E. T. A. Hoffmanns und ihre Rezeption in der europäischen Literatur im 19. Jahrhundert. Eine Untersuchung insbesondere für Frankreich, Rußland und den englischsprachigen Raum mit einem Ausblick auf das 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2001 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1802). S. 14.
[2] Vgl. ebenda, S. 13f.
[3] Levin, Volker: Das Groteske in Michail Bulgakovs Prosa. Mit einem Exkurs zu A. Sinjavskij. München 1975. S. 57.
[4] ebenda, S. 59.
[5] ebenda, S. 70f. Levin übersetzt hier die Aussage von V. Lakšin in „O proze Michaile Bulgakova i o nem samom“, in: M. Bulgakov, Izbrannaja proza (1966). S. 3-44. Hier: S. 14.
[6] Vgl. Levin: Das Groteske in Michail Bulgakovs Prosa, S. 33.
[7] Hädrich: Die Anthropologie E. T. A. Hoffmanns und ihre Rezeption in der europäischen Literatur im 19. Jahrhundert, S. 428.
[8] Vgl. Hausmann, Christiane: Anderes Denken in der Sowjetunion. Das „Okkulte“ als positive Utopie bei Bulgakov. Frankfurt am Main 1990. S. 34 und S. 39.
[9] Vgl. ebenda, S. 39f.
[10] Vgl. Никулина, Екатерина [Nikulina, Ekaterina]: „Kарнавальное начало и театральность — (идея, стиль, язык) — в художественном тексте. (Произведения Э.Т.А. Гофмана, Н.В. Гоголя, М.А. Булгакова)“ [„Karnawalnoje natshalo i teatralnost – (idea, stil, jazik) – w hudozhestwennom tekste. (Proizwedenija E.T.A. Gofmana, N.W. Gogola, M.A. Bulgakowa)“], in: Limbaj şi context. Speech and Context. Revista internaţională de lingvistică, semiotică şi ştiinţă literară. Journal of Linguistics, Semiotics and Literary Science 2 (2010). H. 1. S. 107-113.
[11] Vgl. Никулина, Екатерина [Nikulina, Ekaterina]: „Комплексность изображение темных сил в произведениях Э.Т.А. Гофмана, Н.В. Гоголя, М.А. Булгакова“ [„Kompleksnost izobrazhenie tjomnih sil w proizwedeniah E.T.A. Gofmana, N.W. Gogola, M.A. Bulgakowa“], in: Limbaj şi context. Speech and Context. Revista internaţională de lingvistică, semiotică şi ştiinţă literară. Journal of Linguistics, Semiotics and Literary Science 3 (2011). H. 1. S. 121-129. Hier: S. 126f.