Die Serapionsbrüder
Entstehung
Auf Anregung des Verlegers Georg Andreas Reimer beschäftigte sich E.T.A. Hoffmann seit Anfang 1818 mit dem Vorhaben, eine Erzählsammlung herauszubringen. Reimer, der Inhaber der Realschulbuchhandlung in Berlin, hatte zuvor bereits die Hoffmann’schen Nachtstücke publiziert sowie die zweibändigen Kinder-Mährchen verlegt (als Beiträger fungierten neben Hoffmann Karl Wilhelm Salice-Contessa und Friedrich de la Motte Fouqué). Bereits im ersten Brief, den Hoffmann seinem Verleger in Bezug auf das Projekt schrieb, erörterte der Autor die zu wählende Präsentationsform der Sammlung: „Erlauben Sie indessen eine Frage deren Entscheidung ich Ihnen gänzlich überlasse so wie Sie glauben, daß das Buch besser geht. Ist es gerathener die Sachen unter dem simplen Titel: Erzählungen gehn zu lassen oder eine Einkleidung zu wählen nach Art des Tiekschen Phantasus?“[1]
Bekanntlich entschied sich Hoffmann für eine Publikation in der Phantasus-Nachfolge. War zunächst nur ein Erzählungen-Band vorgesehen, wuchs sich das Projekt schließlich auf vier Bände aus (erschienen zwischen 1819 und 1821). Der erste Band (Februar 1819) enthält acht Erzählungen – darunter: Der Einsiedler Serapion, Rat Krespel, Die Fermate, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig. Der zweite Band (September 1819) versammelt sieben Erzählungen – darunter: Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind. Unter den sechs Erzählungen des dritten Bandes (September 1820) findet sich Das Fräulein von Scuderi. Der vierte und letzte Band, erschienen im Mai 1821, umfasst wieder sieben Texte. Abgeschlossen wird die Sammlung vom Märchen Die Königsbraut.
Nur sechs der Erzählungen, die in den Serapions-Brüdern abgedruckt sind, wurden für diese Sammlung geschrieben: Der Einsiedler Serapion, Die Bergwerke zu Falun, Zacharias Werner, Vampyrismus, Die ästhetische Teegesellschaft, Die Königsbraut. Versuchte Reimer Hoffmann dazu zu animieren, neue Erzählungen für die Serapions-Brüder zu schreiben (um die Attraktivität des Projekts für die Leser zu erhöhen), war es Hoffmann auch um die ökonomisch attraktive und marktstrategisch kluge Zweitverwertung seiner Texte, die zuvor in Journalen und Taschenbüchern publiziert worden waren, zu tun. Anders aber als bei anderen Erzählungssammlungen des Autors (etwa den Nachtstücken) wurden die in die Serapions-Brüder aufgenommenen Erzählungen gründlich redigiert. Ohnehin erscheinen sie durch die Rahmengespräche, in die sie gestellt werden, in neuem Licht.
Konzipiert hat Hoffmann seinen Zyklus im Rekurs auf die eigene Praxis romantischer Geselligkeit und ,Sympoesie‘, war er doch Mitbegründer sowohl des Seraphinenordens (12. Oktober 1814) als auch des Bundes der Serapions-Brüder (14. November 1818).[2]
Claudia Liebrand ist seit 1999 Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Medientheorie an der Universität zu Köln. Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, dort auch Promotion 1989 über das Romanwerk Fontanes, Habilitation 1995 ebenfalls an der Universität Freiburg über E.T.A. Hoffmann. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Gender, Psychoanalyse, Film (→ Forscherprofil).
Literaturhistorische Traditionslinien
Mit der Entscheidung, „eine Einkleidung zu wählen nach Art des Tiekschen Phantasus“,[3] entwarf Hoffmann die Serapions-Brüder als Parallel- respektive Konkurrenzprodukt zu Tiecks Phantasus, der nicht vierbändig, sondern dreibändig angelegten Sammlung von Märchen, Schauspielen und Novellen, die 1812 (Bd. 1 und Bd. 2) und 1816 (Bd. 3) erschienen war – im Verlag just jenes Georg Reimers, der auch Hoffmanns Serapions-Brüderanregte.
Nun verweist das Serapions-Brüder-Projekt aber nicht nur auf Novellensammlungen der Zeit, sondern verhandelt die – lange – Geschichte der alteuropäischen Novellistik, die mit Boccaccios Il Decamerone, geschrieben Mitte des 14. Jahrhunderts in Florenz, mit einem Paukenschlag beginnt. Zur Zeit als in Florenz die Pest wütet – so die Rahmenhandlung des Decamerone – verlässt eine Gruppe von zehn Florentinern die Stadt. Auf einem Landgut widmen sich die jungen Leute einem Vergnügungs- und Zerstreuungsprogramm: Sie tanzen, sie singen, sie delektieren sich an exquisiten Speisen, und sie erzählen sich (der Titel Decamerone, der aus dem griechischen deka [zehn] und hemera[Tage] zusammengesetzt ist, verweist darauf) an jeweils zehn Tagen zehn Geschichten. Für die einzelnen Tage wird ein – meist thematisch fokussiertes – ‚Erzählprogramm‘ festgelegt, eine der zehn Vorgaben bezieht sich auf Liebesgeschichten mit Happy Ending, eine andere lässt die Erzählerinnen und Erzähler darbieten, was ihnen am meisten zusagt. Alle Geschichten sollen, deshalb werden sie präsentiert, Pest und Tod vergessen lassen. Es handelt sich also um ein Erzählen gegen den Tod; die Erzählerinnen und Erzähler könnten mit zweitem Namen Schehezarade heißen: Sie negieren nicht nur den Tod, der ihre Stadt getroffen hat, sie schieben auch den Tod, der sie selbst bedroht, erzählend auf.
Hoffmann greift mit seinen Serapions-Brüdern die Rahmenstruktur der europäischen Novelle auf, nimmt aber Veränderungen vor: Diejenigen, die sich treffen, um sich Novellen zu erzählen, lassen sich nicht mehr als (sich aufs Land zurückziehende) adelige Gesellschaft beschreiben (wie noch in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten). Der Anlass des Erzählens ist keine soziale oder politische Katastrophe mehr (wie die Pest bei Boccaccio oder die Französische Revolution bei Goethe): Es trifft sich im großstädtischen Raum, im zeitgenössischen Berlin, ein Kreis von sich in bürgerlichen Kontexten bewegenden Schriftstellern und Intellektuellen, dem es angesichts von zu führenden kulturellen Debatten um sozialpoetische Praktiken geht. Andreas Beck führt aus, dass der Eingangsteil der Serapions-Brüder zeige,
daß dem radikalen Ungenügen an der vorgefundenen Wirklichkeit zum Trotz in dieser durchaus ein erfülltes Leben in Gemeinschaft mit Andern vorstellbar ist: im Rahmen eines gegen das Gros der Philister […] abgegrenzten Künstlerzirkels, dessen Mitlieder durch sympoetische, auf dem Gebiet sämtlicher Kunstgattungen spielende Interaktion zueinander finden – in gelingender, wenn auch stets gefährdeter, hart an der Grenze ironischer Desperation operierender Geselligkeit.[4]
Ausdrücklich aufgeworfen, darauf verweist auch Christine Lubkoll,[5] wird in Hoffmanns Novellenzyklus die Frage, warum in dieser „Gesellschaft die holden Frauen [fehlen]“[6]. Sind in Boccaccios Novellenzyklus sieben der zehn Erzähler weiblich, gibt es unter den Serapions-Brüdern keine Frauen (obgleich doch viele Frauen in der Salonkultur um 1800 ihre Rolle spielten). Als Publikum der Serapions-Brüder hat sie Hoffmann aber so dezidiert im Blick wie Boccaccio, ist der Decamerone doch ausdrücklich für die donne geschrieben. Boccaccio erörtert das in der Vorrede ausführlich: Er adressiere die Frauen – jene, die es in Liebesdingen und sonst im Leben so viel schwerer als die Männer hätten:
Und wer könnte leugnen, daß des Trostes, wie immer es auch um ihn bestellt sein mag, weit mehr als die Männer die holden Frauen bedürfen? Sie verbergen aus Furcht und Scham in ihrem zarten Busen die Flammen der Liebe. Doch mit welcher Gewalt diese sich vor aller Welt zu äußern begehren, das weiß nur, wer es an sich selber erfahren hat und noch erfährt. Darüber müssen die Frauen, abhängig von den Wünschen, Geboten und Befehlen ihrer Väter und Mütter, Brüder und Gatten, die meiste Zeit in den engen Grenzen ihrer geschlossenen Häuslichkeit verbringen, wo sie, fast ohne Beschäftigung, gleichzeitig wollend und nicht wollend, sich ihren Gefühlen hingeben, die gewiß nicht immer die fröhlichsten sind. Wenn dann infolge ihres sehnsüchtigen Verlangens Schwermut ihre Herzen überfällt, müssen sie diese in Trübsal erdulden, bis endlich andere Gedanken diese wieder verjagen; ganz zu schweigen davon, daß die Frauen viel weniger ertragen als Männer […].[7]
Boccaccio etabliert die Novelle mithin als ‚weibliche‘ Gattung.[8] Sie erzählt im ‚niederen Stil‘ (istilo umilissimo) auch von den Geschicken der Frauen, interessiert sich für die – kasuistisch abzuhandelnden – Verwicklungen des Privaten, ist konzipiert für Leserinnen.
Finden sich auch in Boccaccios Rahmen Kommentare der Zuhörenden zum Vorgetragenen ist doch die kommunikative Gesamtsituation entscheidend geändert. Die bei Hoffmann inszenierte Oralität ist eine nachträgliche. Die zunächst vier, ab dem vierten Abend dann sechs Freunde (Cyprian, Lothar, Ottmar, Theodor, Sylvester und Vincenz), erzählen an den acht Abenden, an denen sie sich treffen, keine Geschichten, sondern verlesen von ihnen verfasste Manuskripte. Überdies finden sich in dem Zyklus nicht nur Novellen im engen Sinne, auch nicht nur Novellen und Märchen (der Untertitel der Serapions-Brüder lautet: Gesammelte Erzählungen und Märchen), sondern auch Fragmente, Anekdotisches und unterschiedliche Gesprächsformate. All das wird arabesk verschränkt. Thematisch versammelt der Novellenzyklus Heterogenstes; durch die Textanordnung zieht sich thematisch kein roter Faden. Allerdings lassen sich Konfigurationen benennen, von denen die Serapions-Brüder besonders angezogen werden: „Zu diesen Themen gehört das Einbrechen des Wunderbaren und/oder Phantastischen in die reale Welt“.[9]
Bei den abendlichen Treffen wird Punsch getrunken, nach dem Verlesen werden die vorgetragenen Texte in den literaturkritischen Blick genommen, intensive Gespräche über das Gehörte werden geführt: Wie literarisch oder wissenschaftlich interessant ist das präsentierte Sujet? Wie lässt sich die poetische Faktur des Textes beschreiben? Genügt das Präsentierte den ästhetischen Anforderungen der Gruppierung?
Der Novellenzyklus führt mithin eine als genuin romantisch zu klassifizierende Zusammenführung von Literatur und Kritik vor, aber auch von Literatur und Wissenschaft.
Das serapiontische Prinzip
Wiederholt ist auf den über 1000 Seiten des Novellenzyklus vom serapiontischen Prinzip, dem sich die Serapions-Brüder verpflichtet fühlen (und das ihnen als Messlatte gilt, ob ein Text als ästhetisch gelungen zu werten ist), die Rede. Uwe Japp hat mit Recht darauf hingewiesen, dass dieses Prinzip „an den verschiedensten Stellen vor[komme], allerdings mit durchaus wechselnden Begründungen. Es ist deshalb in der Forschung auch die Auffassung vertreten worden, dass es sich überhaupt nicht um ein auch nur einigermaßen konsistentes Theorem handelt“.[10]
Präzisiert wird das serapiontische Prinzip nicht direkt im Anschluss an die Erzählung Cyprians vom Einsiedler Serapion (eines wahnsinnig gewordenen Grafen, der sich für den Heiligen Serapion der Antike hält), sondern erst nach der Erzählung von Rat Krespel von Lothar:
Jeder prüfe wohl, ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verkünden unternommen, ehe er es wagt laut damit zu werden. Wenigstens strebe jeder recht ernstlich darnach, das Bild, das ihm im Innern aufgegangen recht zu erfassen mit allen seinen Gestalten, Farben, Lichtern und Schatten, und dann, wenn er sich recht entzündet davon fühlt, die Darstellung ins äußere Leben tragen. So muß unser Verein auf tüchtige Grundpfeiler gestützt dauern und für jeden von uns allen sich gar erquicklich gestalten. Der Einsiedler Serapion sei unser Schutzpatron, er lasse seine Sehergabe über uns walten, seiner Regel wollen wir folgen, als getreue Serapions-Brüder![11]
Von der Forschung immer wieder herausgearbeitet wurde, dass die ‚innere Schau‘, auf die hier verwiesen ist – gehe es doch um die Abgrenzung des Dichters vom Wahnsinnigen –, nicht abgelöst gesehen werden dürfe von der für Hoffmann wichtigen Erkenntnis der Duplizität. Mit Duplizität sei auf die Spannung von äußerer Wirklichkeit und innerem Bild verwiesen, die nicht suspendiert werden könne.[12]
Anmerkungen
[1] Segebrecht, Wulf: Kommentar zu Die Serapions-Brüder. In: Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch. Bd. 28: E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen. Hg. von Wulf Segebrecht. Frankfurt a.M. 2008, S. 1201–1655, hier S. 1229.
[2] Vgl. Steinecke, Hartmut: Die Kunst der Fantasie. E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk. Frankfurt a.M., Leipzig 2004, S. 353f.
[3] Segebrecht, Wulf: Kommentar zu Die Serapions-Brüder. In: Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch. Bd. 28: E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen. Hg. von Wulf Segebrecht. Frankfurt a.M. 2008, S. 1201–1655, hier S. 1229.
[4] Beck, Andreas: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen. Goethe – Tieck – E.T.A. Hoffmann. Heidelberg 2008, S. 582.
[5] Vgl. Lubkoll, Christine: Die Serapions-Brüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen (1819–21). In: dies. und Harald Neumeyer (Hg.): E.T.A. Hoffmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2015, S. 77.
[6] Hoffmann, E.T.A.: Die Serapions-Brüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen. In: Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch. Bd. 28: Die Serapions-Brüder. Hg. von Wulf Segebrecht. Frankfurt a.M. 2008, S. 9–1199, hier S. 11.
[7] Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. 2 Bände. Übersetzt von Ruth Macchi. Berlin 1999, S. 8f.
[8] Vgl. Schlaffer, Hannelore: Die Poetik der Novelle. Stuttgart, Weimar 1993, S. 30.
[9] Japp, Uwe: Die Serapions-Brüder (1819/21). In: Detlef Kremer (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. 2., erweiterte Auflage. Berlin, New York 2010, S. 262.
[10] Ebd., S. 263f.
[11] Hoffmann, E.T.A.: Die Serapions-Brüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen. In: Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch. Bd. 28: Die Serapions-Brüder. Hg. von Wulf Segebrecht. Frankfurt a.M. 2008, S. 9–1199, hier S. 69.
[12] Vgl. Segebrecht, Wulf: Kommentar zu Die Serapions-Brüder. In: Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch. Bd. 28: E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen. Hg. von Wulf Segebrecht. Frankfurt a.M. 2008, S. 1201–1655, hier S. 1244–1250.
Literaturhinweise
Beck, Andreas: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen. Goethe, Tieck, E.T.A. Hoffmann. Heidelberg 2008.
Brown, Hilda Meldrum: E.T.A. Hoffmann and the Serapiontic Principle: Critique and Creativity. Rochester, NY [u.a.] 2006.
Horn, Eva: Die Versuchung des heiligen Serapion: Wirklichkeitsbegriff und Wahnsinn bei E.T.A. Hoffmann. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturgeschichte und Geistesgeschichte 76 (2002), S. 214–228.
Kleinschmidt, Christoph: Kritik der poetologischen Übereinkunft. Zur Dekonstruktion von Erzählprinzipien in Christoph Martin Wielands „Hexameron von Rosenhain“ und E.T.A. Hoffmanns „Die Serapions-Brüder“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 133 (2015), S. 193–215.
Kohns, Oliver: Die Verrücktheit des Sinns. Wahnsinn und Zeichen bei Kant, E.T.A. Hoffmann und Thomas Carlyle. Bielefeld 2008.