Die Fantasiestücke in Callots Manier
Entstehung und zeitgenössische Rezeption
Als E.T.A. Hoffmann im Herbst 1812 mit den Planungen für sein literarisches Erstlingswerk begann, ahnte vermutlich weder er selbst noch sein Bamberger Freund und späterer Verleger Carl Friedrich Kunz, dass sich hier eines der erfolgreichsten und literarisch einflussreichsten Buchprojekte der Romantik ankündigte. E.T.A. Hoffmanns Fantasiestücke in Callots Manier. Blätter aus dem Tagebuche eines reisenden Enthusiasten erschienen in den darauffolgenden Jahren als Folge von insgesamt vier Bänden zwischen Mai 1814 und April/Mai 1815 (Abb. 1: Autograph Verlagsvertrag / Bamberg). Sie versammelten in loser Gruppierung eine Reihe von Texten unterschiedlicher Länge – darunter Erzähltexte, pseudo-biographische Aufzeichnungen, Märchen, musikkritische und poetologische Abhandlungen – zu einem von Fantasie, Witz und kritischem Esprit nur so sprühenden Werk, das den Verfasser mit einem Schlag zum gefeierten Autor machte und seinen literarischen Ruhm nachhaltig begründete. Die zeitgenössischen Literaturkritiken zeigten sich „freundlich, überwiegend rühmend und voller Lob“[1] und waren überzeugt von der Originalität und Eigenständigkeit des Werks. Rezipiert und kommentiert wurden die Fantasistücke bald auch von namhaften Autoren wie Heine, Chamisso, Brentano, Eichendorff und vielen anderen. Der anhaltende Verkaufserfolg führte schon 1819 zu einer leicht redigierten zweiten Auflage.
Für das literarische Erstlingswerk eines bis dato noch völlig unbekannten Autors war diese Resonanz außergewöhnlich. Ganz offensichtlich trafen die Fantasiestücke den Nerv einer Zeit, die ihre Faszination für das Fantastische und Groteske, für neuartige Ideen von Kunst und Künstlertum, für naturwissenschaftliche Erkenntnisse, Psychologie und Esoterik und nicht zuletzt für innovative literarische Formen in Hoffmanns erzählerischem Universum wiederfand.
Agnes Hoffmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Basel (→ Forscherprofil).
Aufbau und Komposition der Fantasiestücke
Bis zu diesem Beginn seiner literarischen Karriere war Hoffmann als Musikdirektor in Bamberg tätig gewesen. Im Rahmen seiner musikästhetischen Interessen hatte er in dieser Zeit nur anonym einige Musikkritiken sowie die Erzählung Ritter Gluck in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung publiziert. Diese Texte bildeten in leichter Überarbeitung einen Grundstock des ersten Bands der Fantasiestücke, vor allem für die sechs sogenannten Kreisleriana, die Anekdoten und musikologischen Exkurse um die fiktive Gestalt des genialisch-überspannten Kapellmeisters Johann Kreisler. Darüber hinaus verfasste Hoffmann für sein Erstlingswerk zwischen 1812 und 1814 in vergleichsweise kurzer Zeit eine ganze Reihe weiterer Texte, von denen einige bis heute zu den bekanntesten des Autors gehören – darunter u.a. Der Magnetiseur (II), Der goldene Topf (III) oder Die Abenteuer in der Sylvester-Nacht (IV). Die vier Bände der Fantasiestücke bestanden am Ende aus insgesamt neunzehn eigenständigen Texten Hoffmanns, wobei die zwölf Texte der Kreisleriana in Band I und IV eine thematisch abgrenzbare Untergruppe bilden. Begleitet wurde der erste Band von einem Vorwort von Jean Paul, den Hoffmanns Verleger C.F. Kunz für das Projekt gewinnen konnte und dessen Name dem Erstlingswerk von vornherein ein gewisses literarisches Interesse sicherte. Auch der Band IV eröffnete mit dem Beitrag eines zeitgenössischen Autors, bzw. mit einem fiktionalen Briefwechsel zwischen Hoffmanns Kapellmeister Kreisler und Baron Wellborn, dem Helden aus der Novelle Ixion von Friedrich de la Motte Fouqué, den die beiden Autoren 1814 gemeinsam verfasst und in Fouqués Zeitschrift Die Musen publiziert hatten.
Grundsätzlich verzichtete E.T.A. Hoffmann bei seinen Fantasiestücken auf eine übergeordnete Rahmenerzählung, wie er sie später z.B. in Die Serapionsbrüder (1819–1821) einsetzen würde. Bereits die Betitelung als ,Fantasiestücke‘ bzw. ,Blätter aus dem Tagebuch eines reisenden Enthusiasten‘ weist das Erstlingswerk statt dessen als eine eher unsystematische Sammlung von Anekdoten, Aufzeichnungen und Carpricen eines umtriebigen Zeitgenossen aus. Dennoch ist der innere Zusammenhang der vier Bände durch zahlreiche motivische und strukturelle Verknüpfungen zwischen den Einzeltexten gewährleistet. So taucht der im Untertitel genannte ,reisende Enthusiast‘ in verschiedenen Texten als Handlungsträger (z.B. in Don Juan, Abenteuer der Sylvester-Nacht, Ritter Gluck) oder zumindest Randfigur (Der Magnetiseur, Der Goldene Topf) auf. Auch die Figur des Kapellmeisters Kreisler bildet ein Bindeglied zwischen einzelnen Bänden des Werks. Desweiteren thematisieren viele der Texte leitmotivisch Fragen der Kunstwahrnehmung, der künstlerischen Produktion und insbesondere der intermedialen Verknüpfung von Sprach-, Bild- und Tonkunst. Ein weiteres Strukturmerkmal ist das fortwährende Spiel mit Urheber- und Herausgeberfiktionen; so sind zahlreiche Texte als vorgefundene Aufzeichnungen von Dritten deklariert, die ganz- oder teilweise von einem Ich-Erzähler wiedergegeben oder kommentiert werden (grundsätzlich in der Figur des „reisenden Enthusiasten“, in Einzeltexten v.a. in Kreisleriana, Der Magnetiseur, „Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde“ in den Abenteuern der Sylvester-Nacht). Die Fantasiestücke erscheinen so insgesamt als ein Nebeneinander von Texten, die trotz einer heterogenen Fülle von Inhalten und erzählerischen Perspektivierungen ein dynamisch aufeinander bezogenes Gesamtwerk ergeben.
Fantasie, intermediales Verfahren, Synästhesie: Einige Leitmotive und ihr historischer Kontext
Inhaltlich und formal beschritt Hoffmanns Erstlingswerk in verschiedener Hinsicht Neuland. Die einzelnen Texte der Fantasiestücke schwankten zwischen Märchen, Charakterstudie, Gesellschaftspanorama und Kunstkritik und experimentierten mit einer Vielzahl von Erzählperspektiven und Sinnhorizonten. Dabei schlossen sie neueste Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften – etwa dem Magnetismus oder der Psychiatrie, mit denen sich Hoffmann erwiesenermaßen intensiv auseinandersetzte – ebenso ein wie aktuelle Entwicklungen in der philosophischen Ästhetik und den schönen Künsten. Trotz aller Originalität und thematischen Eigenständigkeit ist insofern auch die Zugehörigkeit der Fantasiestücke zu ihrem historischen Umfeld unübersehbar.
Bereits der Titel ruft eine Reihe von Schlagworten auf, die sich diskursgeschichtlich eindeutig verorten lassen. Als Genrebezeichnung war ,Fantasie’ bis dahin nur im Bereich der Musik gebräuchlich gewesen, d.h. der Titel stellt einerseits das Primat von Fantasie und Imagination und zugleich eine transgressive, kunst- und medienübergreifende Dynamik in Aussicht, die das nachfolgende Werk mehr als erfüllen würde. Hatte sich die philosophische Ästhetik der Fantasie im 18. Jahrhundert noch unter Maßgabe aufklärerischer Rationalisierungen eher vorsichtig angenähert bzw. die freie Einbildungskraft noch im Rahmen der „Restriktion des Unmöglichen und des Widerspruchs“[2] betrachtet, prägte sich um 1800 ein neues Interesse an den künstlerischen und epistemischen Potenzialen menschlicher Imagination aus, in der gerade auch den Nachtseiten der menschlichen Einbildungskraft, Un- und Wahnsinn, Rausch und phantastischem Exzess ein schöpferisches Eigenrecht zuerkannt wurde. Bei den Frühromantikern (z.B. bei Fr. Schlegel und Novalis) und Autoren wie Jean Paul und Hoffmann wurde die Fantasie in diesem Sinne zu einer philosophischen und ästhetischen Leitkategorie, parallel zu neuen Erkenntnissen der noch jungen Wissenschaft der Psychologie. Hieran schließen auch Hoffmanns Fantasiestückean, die sich als erzählerisches Ausloten von Grenzbereichen zwischen künstlerischer Einbildungskraft und pathologischen Gemütszuständen, faktischer Welterfahrung und Phantasmagorie beschreiben lassen. Durch die Verknüpfung von Innen- und Außenwelt, sowie objektivierbaren Gegebenheiten und verborgenen Gesetzmäßigkeiten der organischen und anorganischen Natur streben seine Fantasiestücke eine Schilderung der Wirklichkeit an, die „alle wundervollen Erscheinungen in ihrer tiefsten Bedeutung wie das Bekannteste aufnimmt und erkennt“[3], und in der das Wunderbare und Traumartige ganz selbstverständlich seinen Platz neben dem Vertrauten und Wahrscheinlichen hat. Im programmatischen Einleitungstext Jacques Callot stellt Hoffmann sein Werk explizit unter das Motto der Imagination als Medium einer derartigen fantasievoll-schöpferischen Welterschließung, wenn er den Dichter als jemanden charakterisiert, dem „die Gestalten des gewöhnlichen Lebens in seinem innern romantischen Geisterreiche erscheinen“ [4] und dessen Aufgabe die Übersetzung ihres fantastischen „Schimmer[s]“ [5] mit den Mitteln der Sprache ist.
Dass die Bezugnahme auf benachbarte Felder der Musik- und Bildkunst im allgemeinen und die detailfreudige, satirisch-groteske Druckgrafik Jacques Callots (1592–1635) im besonderen in den Fantasiestücken dazu dienen soll, diese Transformation des Imaginären in eine literarisch-künstlerische Form zu gewährleisten, macht das Werk von seinem Titel an deutlich. Ganz im Sinne der romantischen Idee einer ,Universalpoesie’, wie sie etwa bei Friedrich Schlegel oder Novalis formuliert wurde, entwerfen Hoffmanns Fantasiestücke einen erzählerischen Kosmos, der vom beständigen Wechselbezug zwischen musikalischen, bildkünstlerischen und sprachlichen Kompositionen gekennzeichnet ist. Im Vordergrund steht dabei keine systematische Gegenüberstellung der verschiedenen Kunst- und Medienformen, sondern vor allem eine möglichst vielgestaltige Erfassung von Prozessen ästhetischer Wahrnehmung und Komposition, die medienübergreifend am Beispiel von Künstlerfiguren und ihren Werken, oder aber in übertragenem Sinn anhand metaphorischer Bezüge auf Stimmungen, Klangformen oder Strukturprinzipien (wie mit dem Zyklus der Kreisleriana) unternommen werden. Dieses synästhetische Verfahren, bestehend aus der engen Verknüpfung verschiedener Arten und Medien ästhetischer Erfahrung, sowie deren Durchdringung mittels Sprache und Schrift im Rahmen des Erzähltextes würde Hoffmann in späteren Werken weiter verfolgen. Über die Figur des – so inspirierten wie unakademischen – ,Enthusiasten’ rückte der Autor in den Fantasiestücken dabei von Beginn an unmissverständlich einen Kunstbegriff ins Zentrum, der seine Gültigkeit nicht von einem klassizistischen Regelkanon bezieht, sondern für den Kunst und Künstlertum sich unmittelbar von der ästhetischen Erfahrung und den imaginativen Vermögen des Einzelnen herleiten. In Abgrenzung zur zeitgenössischen Konjunktur des Dilettantismus als privater Kunstideologie – Jean Paul spricht in seinem Vorwort diesbezüglich abfällig von der zeitgenössischen „Gefallsucht“ höherer Gesellschaftsschichten, wo jede und jeder sich ohne Rücksicht auf ästhetische Vorbildung zum Künstler und Kunstkenner berufen fühle – verfolgen die Fantasiestücke die Idee einer ästhetischen Kultur, in der individuelle Kunstbegeisterung und professionelles Verstehen ihrer inneren Gesetzmäßigkeiten einander wechselseitig bedingen.
Zur Wirkung der Fantasiestücke
Auf die intensive Rezeption des Werks bei den Zeitgenossen wurde bereits verwiesen. Dies würde sich in der Folge fortsetzen; „die von [Hoffmann] selbst mehrfach gebrauchte Bezeichnung ,Verfasser der Fantasiestücke’ wurde in der Kritik zu einer feststehenden Charakterisierung.“[6] Die Bezugnahmen späterer Autoren auf Hoffmanns Erstwerk waren zahllos; insbesondere in Frankreich verschaffte die Originalität der Fantasiestücke diesen sogar den Rang eines eigenen erzählerischen Genres, bzw. führte dazu, dass sich seit Theophile Gautier die Bezeichnung ,contes hoffmanesques’ für die ,contes fantastiques‘ der romantischen Literatur einbürgerte. Die Wirkung erstreckte sich nicht bloß auf das Feld der Literatur – die Form der ,Fantasiestücke’, die Hoffmann als Strukturprinzip des literarischen Werks gewählt hatte, würde sich wenig später in der romantischen Klaviermusik immer größerer Beliebtheit erfreuen, wobei Robert Schumanns Werkzyklus der Kreisleriana (ed. 1839) augenscheinlich direkt von Hoffmanns Fantasiestücken inspiriert wurde. Johannes Brahms bezeichnete sich selbst verschiedentlich als „Johannes Kreisler Jr.“.
Werkimmanent würden viele der in den Fantasiestücken entwickelten Themen und Strukturelemente für die Poetik seines späteren Werks bedeutsam bleiben. Auf Hoffmanns Interesse an intermedialen und synästhetisierenden Verfahren, die Zentralstellung menschlicher (Kunst-)Wahrnehmung und ihrer sprachlich-erzählerischen Durchdringung, sowie die progressive Verknüpfung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und anderen Diskursentwicklungen seiner Zeit wurde bereits verwiesen. Er selbst würde in späteren Texten immer wieder Motive seines Erstlingswerks aufgreifen, und viele seiner fiktionalen Akteure erscheinen als Wiedergänger von Figuren der Fantasiestücke – Künstlerfiguren, Esoteriker, Tierprotagonisten – oder beweisen deren Fortleben über die Grenzen der Einzeltexte hinaus, wie im Fall des erneuten Auftretens des Kapellmeisters Kreisler in den Lebensansichten des Kater Murr (1819–1821).
Die Fantasiestücke in Callots Manier bilden in diesem Sinne werkimmanent, literatur- und kulturgeschichtlich einen Kulminationspunkt von ästhetischen und diskursiven Dynamiken, brachten durch künstlerisches Kalkül und Experimentierfreude einen in vielerlei Hinsicht neuartigen Typus fantastischen Erzählens hervor und prägten den literarischen Geschmack und das Imaginäre einer gesamten Generation und weit darüber hinaus.
Anmerkungen
[1] Hartmut Steinecke: Kommentar zu E.T.A. Hoffmann: Fantasiestücke in Callots Manier. Text und Kommentar. Hg. von dems., unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen und Wulf Segebrecht. Frankfurt am Main 2006; S. 533–930; hier s. 575.
[2] Renate Lachmann: „E.T.A. Hoffmanns Phantastik-Begriff.“ In: Gerhard Neumann (Hg.): ,Hoffmanneske Geschichte’ – Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Würzburg 2005; S. 135–152; S. 138.
[3] Der Magnetiseur. In: E.T.A. Hoffmann: Fantasiestücke in Callots Manier. Text und Kommentar. A.a.O., S. 178–225; S. 179.
[4] Jaques Callot. In: E.T.A. Hoffmann: Fantasiestücke in Callots Manier. Text und Kommentar. A.a.O., S. 17–18; S. 18.
[5] ebd.
[6] Harmut Steinecke: A.a.O., S. 579.