Der Sandmann
Die Erzählung Der Sandmann, in ihrer ersten handschriftlichen Fassung mit dem Vermerk versehen: „d. 16. Novbr. 1815 Nachts 1 Uhr“[1], leitet den ersten Band des zweiteiligen Zyklus Nachtstücke ein. Es ist ein finsteres Nachtstück über die Abgründe der Seele, das E.T.A. Hoffmann geschrieben hat, und doch ist es mittlerweile von unzähligen Analysen unterschiedlichster Disziplinen nahezu taghell ausgeleuchtet.
Marion Bönnighausen ist Professorin für Literatur- und Mediendidaktik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
(→ Forscherprofil).
Psychologische und parapsychologische Deutungen
der Figur Nathanael
Es geht um den Studenten Nathanael, der in einen Sog merkwürdiger Ereignisse gerät, aus dem er nicht wieder herausfindet. Er scheint von dämonischen Gewalten verfolgt zu werden, die sich an der Figur des Sandmanns festmachen lassen. Dieser dringt in unterschiedlichen Gestalten und Namenvariationen immer wieder in das Leben Nathanaels ein und bringt dieses allmählich soweit durcheinander, dass Nathanael sich aus dem Bann der Ereignisse nicht mehr lösen kann und an ihnen zugrunde geht.
Der erste Teil der Erzählung besteht aus drei Briefen, von denen der erste zurückblickend die Begegnungen mit dem Sandmann darstellt, ausgehend von dem traumatischen Kindheitserlebnis Nathanaels, bei dem dieser mit ansehen muss, wie sein Vater bei einem alchimistischen Experiment mit dem Advokaten Coppelius, dem Sandmann, ums Leben kommt. Diesen Coppelius vermeint Nathanael später als einen „piemontesischen Mechanicus“[2] unter dem Namen Coppola wiederzutreffen, ein Wiedersehen mit schwerwiegenden Folgen, das den zweiten Teil der Erzählung einleitet: Nach einem durch ein Feuer im Laboratorium des Hauses erzwungenen Umzug, der seine deutliche Parallelisierung in der Todesszene seines Vaters hat, erblickt Nathanael mithilfe eines von Coppola gekauften Fernrohrs im Zimmer gegenüber eine mechanische Puppe, Olimpia, ein Produkt wiederum unter anderem dieses „Mechanicus“. Die beiden großen Motivkomplexe des Auges und der Automate treffen hier aufeinander, wenn Nathanael aufgrund einer perspektivisch verzerrten Wahrnehmung in einer fatalen Liebesbeziehung der Puppe verfällt. Während der bürgerlichen Welt Olimpia als Maschine „ganz unheimlich“ geworden ist[3], beharrt Nathanael in völliger Verblendung darauf, dass sich ihre zwei Worte „Ach – Ach“[4] nur dem „poetischen Gemüt“ als „echte Hieroglyphe der innern Welt voll Liebe und hoher Erkenntnis des geistigen Lebens“[5] erschließen könnten – eine typisch Hoffmann’sche Ironisierung des zeitgenössischen künstlerischen Selbstverständnisses. Als Nathanael Zeuge eines heftigen Streites zwischen den beiden Schöpfern der Automate wird und erkennen muss, dass es sich um eine Puppe handelt, verfällt er dem Wahnsinn. Davon genesen, holt ihn sein Schicksal in Gestalt des Coppelius/ Coppola wieder ein und er stürzt sich – möglicherweise im magischen Bann des Sandmanns – von einem Turm in den Tod.
Der Leser bleibt im Ungewissen, ob der unheimliche Sandmann tatsächlich existiert, der, wie Nathanael es formuliert, „überall, wo er einschreitet, Jammer – Not – zeitliches, ewiges Verderben bringt“.[6] Es wäre möglich, dass Nathanael an Verfolgungswahn leidet und als psychisch Kranker gesehen werden muss, der sich in seinen inneren Einbildungen verliert. So zumindest sieht es seine vernünftige Verlobte Clara, die in ihrem Brief an Nathanael darauf hinweist, dass „alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon Du sprichst, nur in Deinem Innern vorging“[7], die „dunkle Macht“[8], die vom Sandmann ausgehe, sei „das Fantom unseres eigenen Ichs.“[9] Sie vertritt mit dieser rationalen Position den zeitgenössischen psychiatrischen Diskurs, dessen berühmteste Repräsentanten, Johan Christian Reil[10] und Philippe Pinel[11], abnorme Vorstellungen, fixe Ideen oder Angst vor Nachstellungen als Symptome des Wahnsinns diagnostizierten. Hier liegt der Ursprung der modernen Psychologie begründet, Freud wird später u.a. auf die romantische Literatur insbesondere E.T.A. Hoffmanns zurückgreifen, um aus ihr seine psychoanalytischen Theorien abzuleiten. Ihm zufolge reproduziert Nathanael die traumatische Situation seiner Erstbegegnung mit dem Sandmann, einem Besucher und gewissermaßen Kollegen seines Vaters, so dass der Sandmann als gefürchtete Instanz eine Macht in Nathanael selbst darstellt.[12]
Es gibt aber auch Indizien im Text, die darauf verweisen, dass Nathanael als Künstler die Gabe besitzt, Verborgenes und Übernatürliches zu schauen und damit an eine höhere, äußere Macht gebunden ist. Mit dieser parapsychologischen Deutungsmöglichkeit schließt Hoffmann an die romantische Naturphilosophie, namentlich an die Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) an, in denen Gotthilf Heinrich Schubert natur- und geschichtsphilosophische Einheitsvisionen postuliert, die in Grenzsituationen wie im Schlaf, im Traum, im Wahnsinn erfahren werden können. Eingebettet in Schuberts Theoriegebäude der Naturgesetzlichkeiten wäre Nathanaels Wahrnehmung äußerer Mächte Ausdruck von „gewisse[n] tiefe[n] Kräften unseres Wesens […], welche an geistigem Umfange weit über die Gränzen unserer jetzigen Fähigkeiten hinausgehen.“[13]
Perspektivierungen des Unheimlichen
Über das Unheimliche, das für Nathanael von dem Sandmann ausgeht, lassen sich beide Deutungsmöglichkeiten verbinden, wenn man die inhärenten Bedeutungsdimensionen des ‚Heimlichen‘ und ‚Heimischen‘ mitbedenkt. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling hatte in seiner Philosophie der Mythologie festgehalten, dass man unter dem Begriff ‚unheimlich‘ alles verstehen könne, „was ein Geheimnis im Verborgenen […] bleiben sollte und [nun] hervorgetreten ist“.[14] Um die durch den Dualismus verloren gegangene ‚Heimat‘ des Menschen als ursprüngliche Identität von Natur und Geist zu erfahren, bedarf es aus naturphilosophischer Sicht eines besonderen Vermögens der Seele, die innersten Kräfte der Natur anzuschauen. Aus psychologischer Sicht wiederum wird die Erfahrung des ‚Heimischen‘ als etwas Unheimliches erlebt, indem Freud zufolge an „etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes“ gerührt werde, das „nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.“[15]
In der Erzählung bleibt die Existenz des unheimlichen Sandmann ungeklärt: Nathanael und der Leser stehen gleichermaßen auf einer Schwelle, die innen und außen voneinander trennt, beide Sichtweisen bzw. Lesarten jedoch gleichermaßen zulässt, ja, die Doppeldeutigkeit der Geschichte sogar erzählstrategisch bewusst steuert.[16] Die polyperspektivische Erzählweise veranlasst den Leser einmal, die Bewusstseinsvorgänge Nathanaels und damit auch die Bedrohung durch den Sandmann mitfühlend nachzuvollziehen. Dann aber wieder muss der Leser aus der Außenperspektive einen Blick auf einen nahezu Wahnsinnigen werfen. Die Geschichte bleibt dadurch doppeldeutig: Als rationalisierbares Geschehen kann sie als Darstellung einer psychischen Erkrankung gedeutet werden, durch die emotionale Einfühlung des Lesers liest sie sich als das Eingreifen äußerer, irrationaler Mächte in das Leben eines sensiblen Künstlers (wobei dieses Stereotyp sofort wieder ironisiert wird).
Die Motivkomplexe des Auges und der Automate, die eng aufeinander bezogen sind, sind in das rätselhafte Geflecht aus Widersprüchlichkeit und Doppelbödigkeit eingewoben. Alle bedeutungsvollen Ereignisse in der Lebensgeschichte Nathanaels sind mit optischen Phänomenen verknüpft, wobei vor allem die Macht der Blicke auf die Doppeldeutigkeit der Wahrnehmung verweist. Nathanael (und mit ihm der Leser) unterliegt fortwährend der Gefahr von Sinnestäuschungen, die er gleichzeitig jedoch auch selbst auszulösen vermag. So gründet seine Liebe zur Automate Olimpia auf der Macht der Blicke: Er ist es, der ihre Blicke kraft des „Lichtstrahls“ seiner Augen erschafft und anschließend der Täuschung erliegt, es seien „Liebesblick[e]“. Die Variation dieser früh- und hochromantisch geprägten Vorstellung, das ursprünglich passive Auge sei von Seelenzuständen abhängig, wirke gleichzeitig jedoch auch an Seelenveränderungen aktiv mit[17], wird im Sandmann durch die Anwendung auf eine Automate sofort wieder ad absurdum geführt.
Die gesamte Erzählung stellt sich in diesem Sinne dar als ein virtuoses Spiel mit Perspektivierungen, Verfremdungen und Verrätselungen, das die philosophisch-psychologischen Entwürfe seiner Epoche widerspiegelt und ironisch bricht.
Quellen
Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud. Bd. XII. Werke aus den Jahren 1917-1920. Frankfurt am Main 1966, S. 227-268
E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 3. Frankfurt am Main 1985
Reil, Johann Christian Rhapsodien über die Anwendung des psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803
Pinel, Philippe: Philosophisch-medicinische Anhandlung über Geistesverwirrungen oder Manie. Halle 1801
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Mythologie, Bd. 2. Darmstadt 1990
Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden 1808. Photomechanischer Nachdruck Eschborn 1992
Anmerkungen
[1] Ulrich Hohoff: E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Textkritik, Edition, Kommentar. Berlin 1988, S. 1
[2] E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 3. Frankfurt am Main 1985, S. 20
[3] Der Sandmann, S. 42
[4] Der Sandmann, S. 40
[5] Der Sandmann, S. 42
[6] Der Sandmann, S. 16
[7] Der Sandmann, S. 21
[8] Der Sandmann, S. 22
[9] Der Sandmann, S. 23
[10] Johann Christian Reil: Rhapsodien über die Anwendung des psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803
[11] Philippe Pinel: Philosophisch-medicinische Anhandlung über Geistesverwirrungen oder Manie. Halle 1801
[12] Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud. Bd. XII. Werke aus den Jahren 1917-1920. Frankfurt am Main 1966, S. 227-268
[13] Gotthilf Heinrich Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden 1808. Photomechanischer Nachdruck Eschborn 1992, S. 308
[14] F.W.J. Schelling: Philosophie der Mythologie, Bd. 2. Darmstadt 1990, S. 649
[15] Freud 1966, S. 254
[16] Jürgen Walter: Das Unheimliche als Wirkungsfunktion. Eine rezeptionsästhetische Analyse von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann. In: MHG (30) 1984, S. 15-33
[17] Vgl. Hohoff 1988, S. 284
Literatur
Bönnighausen, Marion: E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. In: dies./Jochen Vogt (Hg.): Literatur für die Schule. Ein Werklexikon zum Deutschunterricht. Paderborn 2014, S. 380-382
Hohoff, Ulrich: E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Textkritik, Edition, Kommentar. Berlin 1988
Walter, Jürgen: Das Unheimliche als Wirkungsfunktion. Eine rezeptionsästhetische Analyse von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann. In: MHG (30) 1984, S. 15-33