Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen
Die Idee, alles mit dem Geschenk einer Fee beginnen zu lassen, kam Hoffmann wohl nach der Lektüre französischer Feenmärchen. Dass es unter der Herrschaft von Fürst Barsanuph gar keine Feen mehr geben darf, weil dessen Vorfahre Paphnutius die Aufklärung eingeführt und die Feen hat ausweisen lassen, ist der erste Hinweis darauf, dass es in Hoffmanns Märchen (auch) um Aufklärungskritik geht. Die konkreten aufklärerischen Maßnahmen, von denen erzählt wird – „die Wälder umhauen, den Strom schiffbar machen, Kartoffeln anbauen, die Dorfschulen verbessern, Akazien und Pappeln anpflanzen, die Jugend ihr Morgen- und Abendlied zweistimmig absingen, Chausseen anlegen und die Kuhpocken einimpfen lassen“ [1] –, stellen Aufklärung aber als bloßen Siegeszug der technischen Zweckrationalität über eine entgötterte, magiefrei gewordene Natur dar. [2]
Prof. Dr. Volker C. Dörr ist seit Oktober 2010 Inhaber eines Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er hat zur deutschsprachigen Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts publiziert – u.a. zu Lessing, Goethe, Schiller, Heine, zum Bürgerlichen Realismus und zum Mythos in der frühen Nachkriegsliteratur. Zu seinen gegenwärtigen Forschungsschwerpunkten gehören u. a. die deutsche Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts und besonders die Literatur und die Ästhetik der sog. Weimarer Klassik. (→ Forscherprofil)
Aufklärungskritik
Mit dieser Karikatur erweist sich der Text als ebenso seismographisch wie hellsichtig; denn die Tendenz der Vernunft zur Selbstverabsolutierung und zur totalitären Herrschaft der Rationalität ist der Aufklärung von Beginn an eingeschrieben, wie später Horkheimer und Adorno in Dialektik der Aufklärung (1947) gezeigt haben.[3] Und auch ein anderer zunächst widersinnig scheinender Zug dieses Porträts der Aufklärung lässt sich tatsächlich als eine überzeichnete Darstellung aufklärerischer Realität deuten: Statt aus dem mutigen freien Denken, im Sinne von Kants vielzitiertem „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“[4], entwickelt zu werden, wird hier die Aufklärung von oben oktroyiert. Dies stimmt durchaus damit zusammen, dass in Deutschland – anders etwa als im revolutionären Frankreich – die Verbesserung der Welt nur zu häufig als Verbesserung der Einzelnen durch eine Allianz zwischen Denkenden und Herrschenden gedacht worden ist.[5]
Bezug zur modernen Gesellschaft
Wahrhaft märchenhaft ist, dass Rosabelverde, die letzte verbliebene Fee, von der Missbildung Klein Zaches’ so angerührt ist, dass sie ihm die Zauberkräfte verleiht, die bewirken, dass alle in dessen Gegenwart vollbrachten beeindruckenden Leistungen nicht ihren eigentlichen Urhebern, sondern Zaches zugeschrieben werden. Die beeindruckende Karriere, die Zaches daraufhin unter dem Namen Zinnober gelingt und in der er es zum Minister bringt (dem obendrein die Professorentochter Candida als Braut versprochen wird), parodiert eigentlich ein zentrales Moment moderner Gesellschaften: eine um 1800 zunehmend etablierte, bis heute vorherrschende relative soziale Mobilität, die dem einzelnen einen Aufstieg (und freilich zugleich immer auch einen Abstieg) ermöglicht. Während man in Standesgesellschaften meist wird, was man von Geburt an ist, und Aufstiege nur schwer möglich sind, hängt in modernen, bürgerlichen Gesellschaften der Rang des einzelnen wesentlich von seiner Leistung ab. Aber nicht dieses Leistungsprinzip selbst wird bei Hoffmann grotesk überzeichnet; der Finger wird vielmehr auf die Unzulänglichkeit der Bewertungsprozesse gelegt. Zaches/Zinnober erlangt seine Anerkennung und gesellschaftliche Stellung nicht aufgrund seiner Herkunft, sondern durchaus aufgrund von Leistungen – mit dem Schönheitsfehler, dass es nicht seine eigenen sind. Wirklich unbekannt ist dieses Phänomen in modernen und gerade in (post‑)industriellen Gesellschaften aber nicht.
Wendepunkt und Ende
Ebenfalls märchenhaft ist, wie es dem in Candida verliebten romantischen Studenten Balthasar mit Hilfe des Magiers Prosper Alanus gelingt, dem Nebenbuhler Zinnober auf dessen Verlobungsfest seine drei zaubermächtigen roten Haare ausreißen zu lassen. Dass Prosper Alpanus nach Indien auswandert und Balthasar sein Landhaus überlässt, wo dieser fortan als Dichter mit Candida eine glückliche Ehe führt, wirkt wie ein Selbstzitat aus Hoffmanns Goldnem Topf. Die Brutalität, mit der Zaches aus der Märchenwelt ausgestoßen wird – nachdem der Zinnober ein Ende hat, ertrinkt er auf der Flucht in einem Nachttopf (der ebenfalls aus dem Goldnen Topf wiederzukehren scheint) –, irritiert am Ende aber doch. [6] Auch wenn Zaches mit seinem abnormen Körper wohl eher nicht das Mitleid oder gar die Sympathie des Lesers erregen soll: wie sein Tun zu bewerten ist, bleibt uneindeutig. Denn zwar lässt Zaches sich nur allzu bereitwillig von seiner Zaubermacht korrumpieren – allein: deren verantwortungsvolle Nutzung ist auch nur schwer vorstellbar. Schuld an den Verwirrungen, für die Zaches mit dem Tod bestraft wird, ist so das eigentlich falsch verstandene Mitleid der Fee. Auch darin: im kritischen Reflex auf eines der zentralen Momente aufklärerischer praktischer Philosophie, erweist sich der Text als höchst aufklärungskritisch – und damit aufklärerisch.
Anmerkungen
[1] Hoffmann, E.T.A.: Klein Zaches genannt Zinnober, in: ders.: Nachtstücke, Klein Zaches, Prinzessin Brambilla, Werke 1816-20. Hg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Frankfurt a.M. 1985 (Sämtliche Werke, Bd. 3), S. 531-649, S. 544.
[2] Vgl. Achermann, Eric: Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen (1819). In: Detlef Kremer (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Berlin u.a. 2009, S. 215-224, S. 220.
[3] Vgl. Fritz, Horst: Instrumentelle Vernunft als Gegenstand von Literatur. Studien zu Jean Pauls „Dr. Katzenberger“, E.T.A. Hoffmanns „Klein Zaches“, Goethes „Novelle“ und Thomas Manns „Zauberberg“. München 1982, S. 69, dazu auch Fuchs, Andrea: Kritik der Vernunft in E.T.A. Hoffmanns phantastischen Erzählungen „Klein Zaches genannt Zinnober“ und „Der Sandmann“. Berlin 2001, S. 40.
[4] Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1. Abt. Bd. VIII. Berlin 1912, S. 33-42, S. 35.
[5] Zur sozialhistorischen Dimension der Erzählung vgl. Walter, Jürgen: E.T.A. Hoffmanns Märchen Klein Zaches genannt Zinnober. Versuch einer sozialgeschichtlichen Interpretation. In: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 19 (1973), S. 27-45; Weglöhner, Hans Werner: Die literatursoziologische Dimension in E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen Klein Zaches genannt Zinnober. In: Études germaniques 61 (2006), S. 593-615.
[6] Vgl. dazu Joshua, Eleoma: Misreading the body. E. T. A. Hoffmann’s „Klein Zaches, genannt Zinnober“. In: ders. (Hg.): Disability in German literature, film and theater. Rochester, N.Y. 2010, S. 39-56.
Literatur
Achermann, Eric: Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen (1819). In: Detlef Kremer (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Berlin u.a. 2009, S. 215-224.
Aurnhammer, Achim: „Klein Zaches genannt Zinnober“. Perspektivismus als Plädoyer für die poetische Autonomie. In: Günter Saße (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Romane und Erzählungen. Stuttgart 2004, S. 117-134.
Dörr, Volker C.: Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen (1819). In: Christine Lubkoll und Harald Neumeyer (Hg.): E.T.A. Hoffmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2015, S. 71-75.
Fritz, Horst: Instrumentelle Vernunft als Gegenstand von Literatur. Studien zu Jean Pauls „Dr. Katzenberger“, E.T.A. Hoffmanns „Klein Zaches“, Goethes „Novelle“ und Thomas Manns „Zauberberg“. München 1982.
Fuchs, Andrea: Kritik der Vernunft in E.T.A. Hoffmanns phantastischen Erzählungen „Klein Zaches genannt Zinnober“ und „Der Sandmann“. Berlin 2001.
Hoffmann, E.T.A.: Klein Zaches genannt Zinnober, in: ders.: Nachtstücke, Klein Zaches, Prinzessin Brambilla, Werke 1816-20. Hg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Frankfurt a.M. 1985 (Sämtliche Werke, Bd. 3), S. 531-649.
Joshua, Eleoma: Misreading the body. E. T. A. Hoffmann’s „Klein Zaches, genannt Zinnober“. In: ders. (Hg.): Disability in German literature, film and theater. Rochester, N.Y. 2010, S. 39-56.
Kaiser, Gerhard R.: Nachwort. In: E.T.A. Hoffmann: Klein Zaches genannt Zinnober. Stuttgart 1985, S. 121-150.
Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1. Abt. Bd. VIII. Berlin 1912, S. 33-42.
Uhlmann, Dirk: Dekretierte Aufklärung und poetische Klarsicht. Narrative und visuelle Konfigurationen in E. T. A. Hoffmanns Klein Zaches. In: Rainer Godel und Matthias Löwe (Hg.): Erzählen im Umbruch. Narration 1770 – 1810. Texte, Formen, Kontexte. Hannover 2011, S. 315-332.
Vitt-Maucher, Gisela: E.T.A. Hoffmanns „Klein Zaches genannt Zinnober“. Gebrochene Märchenwelt. In: Aurora 44 (1984), S. 196-212.
Walter, Jürgen: E.T.A. Hoffmanns Märchen Klein Zaches genannt Zinnober. Versuch einer sozialgeschichtlichen Interpretation. In: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 19 (1973), S. 27-45.
Weglöhner, Hans Werner: Die literatursoziologische Dimension in E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen Klein Zaches genannt Zinnober. In: Études germaniques 61 (2006), S. 593–615.