Théophile Gautier
Mehr zu Théophile Gautier und seiner Rezeption von Hoffmanns Werken erfahren Sie im Beitrag Von Künstlern, Fantasten und Vampiren von Nikolas Immer.
Hoffmann als fantastiqueur, als Anhänger des Fantastischen
E.T.A. Hoffmann ist in Frankreich durch seinen ersten Übersetzer Adolphe-François Loève-Veimars[1] um 1830 und durch Jacques Offenbachs Oper Les Contes d’Hoffmann (1881) bekannt geworden. Zudem beeinflusste er im 19. Jahrhundert Autoren wie Charles Baudelaire – welcher die „absolute Komik“ der Hoffmannschen Schriften hervorhob (De l’Essence du rire, 1855) –, Charles Nodier, Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Gérard de Nerval[2] oder Théophile Gautier[3]. Im Märchen Onuphrius ou les vexations fantastiques d’un admirateur d’Hoffmann[4] (1832) setzt Théophile Gautier einen jungen Mann in Szene, dessen Leidenschaft für die Hoffmannsche Fantastik ihn in den Wahnsinn treibt. Mit Ironie und Bewunderung zugleich betont Gautier in seinen Souvenirs de théâtre d’art et de critique seinen Hang zu dem Werk Hoffmanns: Hoffmann sei logisch und konsequent, als Maler, Poet und Musiker würde er alle Töne, alle Farben und alle Gefühle unter drei Aspekten ins Auge fassen.[5] Hoffmann symbolisiert den „fantastiqueur“ – den Anhänger des Fantastischen –, wie Gautier es zu sagen pflegt. Den Theorien der deutschen Frühromantik Schlegels oder Novalis’ folgend entspricht der Künstler einem metaphysischen Mittler, dessen Hang zum Unendlichen nach einem Ideal des Absoluten strebt und dessen Schicksal und utopische Weltanschauung ihm Kindesaugen verleihen.
Dr. phil. habil. Ingrid Lacheny ist Dozentin (Maître de conférences) am UFR Arts, Lettres et Langues der Université de Lorraine in Metz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. deutsche Romantik, Narratologie und Fantastik. In zahlreichen Artikeln und Monographien hat sie sich mit dem Werk E.T.A. Hoffmanns beschäftigt. (→ Forscherprofil)
Mehr zu Théophile Gautier und seiner Rezeption von Hoffmanns Werken erfahren Sie im Beitrag Von Künstlern, Fantasten und Vampiren von Nikolas Immer.
Fantastik
Die intertextuellen Bezüge bei den französischen Autoren des 19. Jahrhunderts stimmen größtenteils mit den linguistischen Mechanismen (der Art und Weise, wie der Erzähler seinen Leser[6] in der Geschichte manipuliert und diesen in die Irre führt) und den Thematiken der Fantastik überein, die eng mit dem Wahn und den (geheimen) Wissenschaften („romantischer Medizin“, Mesmerismus) gekoppelt sind. Zurzeit handelt es sich mehr um die Kunstkorrespondenzen zwischen Fantasie und romantischem Groteskem und um die Verwandlungen in der Schrift (Anamorphosen, „serpentine line“, arabeske Motive). Die französischen Autoren ließen sich immerhin von der unheimlichen Dualität und der ästhetischen Vielfalt inspirieren. Andrea Hübener[7], Aurélie Hädrich[8] und Ute Klein[9] haben diese Aspekte in ihren Rezeptionsarbeiten detailliert analysiert.
Weitere Informationen zu „romantischer Medizin“ und Mesmerismus können Sie auf den Seiten zur Medizin und zu Elektrizität und Magnetismus in der Romantik erhalten.
Übersetzungskritik
Loève-Veimars, der erste Übersetzer Hoffmanns ins Französische, stellt als Mittler zwischen Frankreich und Deutschland[10] zwischen 1829 und 1833 eine interkulturelle Instanz dar. Hoffmann wurde damals in Frankreich populärer als in Deutschland und löste eine echte Mode für das fantastische Genre aus. Wenn der Zugang zu Hoffmanns Welt dadurch erleichtert wurde, sind die Übersetzungen von Loève-Veimars und später von Madeleine Laval etwas irreführend. Die Übersetzer hätten laut Philippe Forget auf „eine stilistisch-linguistische Reinigung“[11] rekurriert und den Stil Hoffmanns durch widersinnige Absätze, Ungenauigkeiten, Streichungen mancher kulturellen Bezüge französiert, karikiert und deshalb missverstanden: Die lexikalischen Felder, die Klänge der Wörter, die Zeichensetzung und die notwendigen Wiederholungen hätten berücksichtigt werden sollen. Treue (oder zumindest dem Original nahe) Übersetzungen wirken als präzise Vorlagen zu den Texterläuterungen, für die wissenschaftlichen Arbeiten und die ausländische Rezeption. Die Übersetzungsarbeiten Loève-Veimars’ und Lavals dürfen natürlich nicht verachtet werden, aber diejenigen von Philippe Forget[12] (im 20. und 21. Jahrhundert) und Jean-Jacques Pollet[13] haben den Stil „à la Hoffmann“ sorgfältig gepflegt und ästhetisch wiedergegeben.
Mehr über die Hoffmann-Rezeption in Deutschland können Sie im Artikel zur Rezeption in Deutschland lesen.
Beliebte Werke
Die ersten Forschungsarbeiten in Frankreich bezogen sich meistens auf das Unheimliche und das Fantastische. Allmählich kamen die Gattung und die Kunstästhetik auch in Frage. Besonders beliebt waren in diesem Bereich Die Elixiere des Teufels, Der Sandmann und Der Nußknacker [14].
Ästhetik des Bösen
Was die Franzosen fasziniert und fasziniert hat, ist das stetige Unheimliche im Gang: Etwas Dämonisches ist in jeder Erzählung festzustellen und eine Ästhetik des Bösen verklärt die meisten Figuren und ihre Werke. Der Wahn(sinn) liegt dem Genie nahe: Die medizinischen Fälle, die hypnotisierenden (Alp)träume, die leicht manipulierbaren Psychen irren wie Gespenster herum.
Der Dichter als Seher
Aus dieser Perspektive spielt der Erzähler – und dabei der Leser – eine bedeutende Rolle. Der Leser nimmt an dem Erzählen teil, und er soll nicht nur auf die Schrift, auf den besonderen Stil aufmerksam sein, sondern auch auf das, was die Geschichte zu verstehen gibt Die Augenproblematik stellt also eine wichtige Thematik dar: Der Dichter ist im Rimbaldischen Sinne ein „Seher“[15], ein anderes Ich, das ein ästhetisches Ideal, das Ideal eines Gesamtkunstwerks erstrebt. Seher werden setzt die introspektive Arbeit eines Virtuosen voraus, welche die Vernunft trotz eines kreativen, originellen und wohl notwendigen Fantasiegeistes anspornt, was Albert Béguin (L’âme romantique et le rêve. Paris 1963), Louis Vax (Le Principe sérapiontique. Origine romanesque et mise au point critique. Nantes 2002)[16] oder Christophe Bouriau (Qu’est-ce que l’imagination? Paris 2003) unterstrichen haben. Die Seelenzustände, der Traum und die Einbildungskraft verweisen auf das Innere und auf die Dualität: Wie kämpfen Hoffmann und seine Figuren um die Identität und gegen sogenannte dämonische Kräfte: Handelt es sich um Teufelswesen oder um aus dem Unbewussten entsprungene Wesen? Die französische Sekundärliteratur behandelt dieses Problem immer noch. Die Elixiere des Teufels, Der Sandmann und Die Bergwerke zu Falun sind in dieser Perspektive die meist untersuchten Erzählungen (Vgl. Christine Maillard[17], Jean-Marie Paul[18], Erika Tunner[19], Aline Le Berre[20], Augustin Dumont[21], Françoise Knopper[22], Laurent Cantagrel[23], Jean-Jacques Pollet[24], Nicole Fernandez-Bravo[25], Dominique Iehl[26], Alain Montandon[27], Alain Muzelle[28] oder Ingrid Lacheny[29], um einige Beispiele zu erwähnen). Hoffmann verkörpert den Autor der Kunstheterogenität nicht nur als Erzähler, sondern auch als Person.
Fantasiewelt
Das Künstliche bei Hoffmann
Um 1980 interessiert sich die französische Hoffmann-Forschung allmählich für den Mehrfachkünstler, den Hoffmann durch seine Schriften verkörpern wollte. Dieses Interesse bezieht sich auf die Erzähltheorien und die Technik des „als ob“ oder des „wie“: Hoffmann schreibt wie… ein Musiker komponiert, wie … ein Maler malt. Die Fantasiewelt als Unort und das Streben nach einem nur in der Kindheit fortbestehenden Kunstideal entsprechen ästhetischen und wissenschaftlichen Diskursen, was z.B. in den Fantasiestücken oder in den Serapionsbrüdern einleuchtend behandelt wird, obwohl die meisten Erzählungen oft gescheiterte, depressive Künstler auftreten lassen. Der poetische Blick Hoffmanns deutet aber auf eine Art von Gesamtkunstwerk hin: die Grafik, die Karikatur, die Radierung, das Gemälde auf der einen Seite, der Kontrapunkt, die Fuge, die Polyphonie auf der anderen[30]. Das Künstlerische nähert sich dem Künstlichen an (Vgl. Michel Cadot oder Philippe Forget[31]): Der Automatenmensch und das Anorganische rivalisieren mit dem sich irrenden und nach dem Ideal strebenden Künstler: Die Grenze zwischen dem Sein und dem Schein ist verschwommen, das Auge wird getäuscht durch den Schleier einer bald anorganischen (Die Bergkönigin aus den Bergwerken zu Falun[32]), bald künstlichen Muse (Olimpia im Sandmann). Die Schönheit der Kunst und jede Art von Inspiration repräsentieren die Farben des Teufels[33].
Weitere Informationen bieten die Artikel zu Automaten in der Zeit der Romantik und zum Automatenmotiv bei Hoffmann.
Rahmenerzählung und Bilderrahmen
Hoffmann als Autor der Ambivalenz
Witz und Groteskes
Maler als Hauptfiguren oder der Schreibeprozess als eine Art von visueller Kunst erweisen sich als typisch für Hoffmanns Erzählweise. Das malerische Schreiben besteht in der Technik der Camera obscura, der Hypotypose oder der Ekphrasis, die das innere, serapiontische Auge, die Einbildungskraft (mentale Bilder) und die Subjektivität eingreifen lassen. Der Leser ist dazu geneigt, sich in dem Rahmen der Erzählung wie im Rahmen eines Bildes zu bewegen oder sich von diesem verengten Bilderrahmen zu befreien. Der Rahmen besitzt – wie in den Serapionsbrüdern mit den Binnen- und Rahmenerzählungen – drei Funktionen: eine narrative, eine sinngebende und eine komplementäre. In einem metaphorischeren Sinne erlaubt der Rahmen eine Überwindung, eine Transgression. Dies entscheidet der Erzähler, der die Fäden seiner Marionetten magnetisch zusammenzieht. Ein Bruch mit dem „Rahmen“ spitzt den Erzählprozess zu und funktioniert wie ein Hebel. Dieser Malprozess bereitet den Weg zur abstrakten Kunst: Was gut geordnet zu sein scheint, tendiert zu einem großen Chaos und was sehr heterogen ist, zielt auf eine absolute Einheit hin. Hoffmann ist der Autor der Ambivalenz, der Dualität schlechthin. Seine vortäuschende Erzählkunst bettet sich in das Groteske, das Humorvolle und das Ironische ein: Weder die pure Aufklärung mit ihrer Straffheit und ihren strikten Regeln noch die reine Romantik mit ihrem Mangel an Sehvermögen und Vernunft sind im Stande, das ästhetische Ideal Hoffmanns mit Würde zu vertreten. Die Malerei hängt mit dem Bildnerischen, der Satire und der Karikatur eng zusammen: Sie gehört zu dem Erzählverfahren selbst (Vgl. u.a. Jean Giraud, Ingrid Lacheny[34]). Alain Muzelle[35] hat im Jahre 2005 eine Parallele zwischen der Arabeske und der Fantastik gezogen: Schrift und Malerei, Zeichen, Farben und Konturen. Hoffmann als Karikaturisten gefiel schon immer die Beziehung zwischen Schreibe- und Malprozessen: Ein verschlüsselter Zugang zum Textverständnis erweist sich dadurch als geheimnisvoller und interessanter und ermöglicht zugleich vielseitige Interpretationen, was an die serpentinische, schlangenhafte Linie der Arabeske denken lässt (Vgl. Alain Montandon, Alain Muzelle, Dominique Peyrache-Leborgne[36]). Alain Muzelle[37] untersucht die Arabeske vor allem bei Friedrich Schlegel und hebt zwei Formen von Arabesken hervor: die einfache Arabeske und die Kunstarabeske. Bei Hoffmann begreifen wir die Bewegung der Arabeske im eigentlichen und im übertragenen Sinne: Durch Körperausdrücke (von Tänzern oder Malern, z.B.), durch die Verstrickung von Erzählperspektiven oder Binnenerzählungen oder durch die Bewegungen der Schlange (Serpentina im Goldenen Topf). Eng mit dem Begriff der Arabeske verbunden misst die Hoffmann-Forschung dem Witz und dem Grotesken Wichtigkeit bei. Nach Friedrich Schlegel im Gespräch über die Poesie entspricht die Arabeske einem „witzigen Spielgemälde“. Dass Malerei und Poesie, das Groteske und das Fantastische ineinanderfließen, verwundert also nicht. Auf einer Seite weist das Groteske auf eine Gesellschaftssatire hin. Es verkörpert zugleich eine Kritik und eine Distanznahme, eine Form von Originalität und lächerlicher Komik. Wenn die grotesken Züge in der wunderbaren Sphäre verankert sind, handelt es sich mehr um die pessimistische Vision eines unerreichbaren oder zumindest prekären Atlantis’. Auf der anderen Seite wird das Groteske vom Kind als Selbstkritik benutzt (Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy[38]). Hier wird die Ironie als Verklärung des Witzes begriffen: Das Kind weiß, dass die Erwachsenenwelt ihm kein Gefühl der Vollendung zu bescheren vermag.
Hoffmanns Neigung zur Musik hat die französische Forschung sehr gerne thematisiert. Am Anfang sind Hoffmanns Schriften zur Musik analysiert worden: Was bedeuten seine Musikauffassungen? Inwiefern hat er zu der Musikforschung seiner Epoche beigetragen? Welche Komponisten haben seine Schriften beeinflusst und wie sind solche Werke rezipiert worden? Zu erwähnen sind z.B. Offenbachs Oper Les Contes d’Hoffmann oder Petipas Libretto für das Ballett Der Nussknacker. Von 1990 bis heute wird die Musik im Erzählprozess näher analysiert. Die französischen Forscher hegen ein höheres Interesse an der musikalischen Schrift, d.h. an dem Schreibeakt – als einem „Komponieren“ – als an der Wiederaufnahme des Hoffmannschen Textes und dessen Umwandlung in ein anderes Medium.
Vergänglichkeit von Musik
Laut Lessing, Schelling oder der Gebrüder Schlegel ist die Musik die Kunst der Zeit und die Malerei die Kunst des Raums. Bei Hoffmann gelten solche Messpunkte nicht mehr. Hoffmann assoziiert also die malerische Unmittelbarkeit mit der schriftlichen und musikalischen Mittelbarkeit. Ein musikalisches Opus ist immer im Werden, nur die Partitur ist konkret und verfügbar, das Vorspielen aber ist vergänglich und hinterlässt nur Eindrücke (Vgl. Jean-Charles Margotton[39], Jean Giraud[40], Stéphane Lelièvre[41], Alain Montandon, Susanne Lulé[42] oder Victoire Feuillebois[43]). In seinen Fiktionen beabsichtigt Hoffmann nicht, eine Theorie der Musik zukommen zu lassen. Es geht mehr um eine direkte Aufwendung ihrer Effekte: Die Vernehmung der Töne und der Empfindungen des Musikers werden in die Erzählungen integriert: Entweder wird die Musik personifiziert (Kreisler in den Fantasiestücken) oder sie schreibt sich in den Erzählprozess ein (Die Serapionsbrüder): Das sind die Diskurse, die Haltungen der Figuren und die Atmosphäre, die Musik werden wollen. In diesem zweiten Falle interagiert die Musik mit den anderen Künsten.
Zuschauer wird Mitschöpfer
Die performativen Künste wie das Theater, das Ballett und die Oper verbinden die Kunst des Raums und die Kunst der Zeit und können sehr gut Hoffmanns Ideal wiedergeben bzw. ausdrücken (Siehe u.a. die Untersuchungen von Stéphane Lelièvre[44]). Das haben Regisseure wie Sylvain Maurice begriffen: Sylvain Maurice, Regisseur und Direktor des Théâtre de Sartrouville, inszenierte 2007 im Théâtre Firmin Gémier den Sandmann. In diesem Fall spielt die Übersetzung des Originaltextes eine wesentliche Rolle, damit der Geist und der Stil Hoffmanns genau vorgeführt werden. Den Platz der Musik, die Bildpolysemie und die zentrale Rolle des Erzählers hat er konsequent und unmittelbar hervorgehoben. Die Inszenierung als bewegendes Gemälde, als ein sich nach außen entfaltendes Innere: ein ambivalentes Ich, dem Wahnsinn und dem urteilenden Blick des Anderen ausgesetzt. Die Theaterbühne kommt einem Bilderrahmen gleich: Der Zuschauer (wie der Leser) wird in der Hoffmannschen Ästhetik Mitschöpfer. Das Werk lebt durch das Lesen und durch das Zuschauen fort. Wir gehen also von der einfachen Betrachtung bis zu der Kontemplation, die Erzählung wird dadurch in Perspektive gesetzt.
Eine Besprechung der Inszenierung des Sandmann am Schauspielhauses Düsseldorf (2019) von Robert Wilson können Sie in diesem Blog-Beitrag von Stefanie Junges lesen: Eine Vision der ästhetischen Groteske – »Der Sandmann« am Schauspielhaus Düsseldorf
Zeitlosigkeit Hoffmanns
Gesellschaft als schrecklicher Spiegel
Die französische Rezeption versucht immer wieder, Hoffmann als „modern“[45] zu bezeichnen: Das Adjektiv „modern“ verstehen wir hier als „zeitgenössisch“, d.h., dass Hoffmann die Epochen zu überbrücken vermag[46]. Sein zugleich utopischer und skeptischer Geist[47] macht ihn zeitlos. Hoffmanns Ästhetik und Werke zielen nämlich hauptsächlich auf eine Wiederaufwertung der menschlichen Seele und auf eine Erforschung des Innersten hin. Diese ästhetische, gesellschaftskritische und psychoanalytische Vorgehensweise ist sowohl der Frühromantik als auch der Moderne eigen. Hinter dem Chaos und der Heterogenität gibt Hoffmann seinem Leser die Möglichkeit, sich mit der Kunst, dem Fantastischen und dem Wahnsinn durch die Ironie und durch den Witz – also durch die Mittel der Besonnenheit – zu befassen. Die Frage nach dem Platz des Künstlers und nach dem Blick der Gesellschaft auf seine Arbeit ist immer noch aktuell und kann nicht altern: Nach Hoffmann bildet die Gesellschaft einen schrecklichen Spiegel, dessen Spiegeleffekte die Menschen täuschen, deshalb muss der Mensch bzw. der Künstler seine Fantasie schätzen und schonen.
Hoffmann integriert die Untersuchungen der Frühromantiker, macht sie sich zu eigen und überwindet sie zugleich. Indem er seine eigenen Regeln befolgt und keine Hierarchie unter den Künsten schafft, bezieht er sich unmittelbar oder implizit auf die Denker seiner Zeit, um zu zeigen, wie die Kunstsphäre von der Gesellschaft pervertiert werden kann, da sie weder die Originalität noch den kreativen Geist korrekt bewertet. In einer immer mehr industrialisierten und vernetzten Umgebung scheinen die Schriften Hoffmanns eine privilegierte Stelle einzunehmen: Das Künstliche, das Maschinenhafte darf die künstlerischen und die imaginären Kräfte nie ersetzen. Die überreizte Fantasie, die dunklen Seiten des Ichs sind zwar oft gebrandmarkt worden, aber die heutige französische Hoffmann-Forschung versucht, die Gewalt der Ironie, den satirischen Geist zu unterstreichen, damit die zeitgenössischen Leser ihre Urteilskraft und Sehvermögen nicht unterschätzen. Hoffmanns Werke schaffen also einen dialogischen, polyphonischen Raum, wo die Schrift sich als ein Kunstmedium erweist und ein intermediales Reich sichtbar macht.
[1] Brückner, Leslie: Adolphe-François Loève-Veimars (1799-1854). Der Übersetzer und Diplomat als interkulturelle Mittlerfigur. Berlin 2013.
[2] Malandain, Gabrielle: Récit, miroir, histoire – Aspects de la relation Nerval-Hoffmann. In: Romantisme 20 (1978), S.79-93.
[3] Vgl. Montandon, Alain: Théophile Gautier et E.T.A. Hoffmann. Affinités entre Spirite et Le Vase d’Or. In: Wolfgang Drost und Marie-Hélène Girard (Hg.): Gautier et l’Allemagne, Siegen 2005, S. 43–59; Lacheny, Ingrid: Le conte fantastique d’E.T.A. Hoffmann (1776-1822) à la lumière de Théophile Gautier (1811-1872). In: Anne Gaëlle Weber (Hg.): Belles lettres, sciences et littérature, www.epistemocritique.org 2015, S. 162–177.
[4] Gautier, Théophile: Contes fantastiques. Paris 1962.
[5] Gautier, Théophile: Souvenirs de théâtre d’art et de critique. Paris 1903, S. 43-44: „Hoffmann […] est un des [auteurs] les plus habiles à saisir la physionomie des choses et à donner les apparences de la réalité aux créations les plus invraisemblables. Peintre, poète et musicien, il saisit tout sous un triple aspect, les sons, les couleurs et les sentiments. Il se rend compte des formes extérieures avec une netteté et une précision admirables. […] Sa manière de procéder est très logique, il ne chemine pas au hasard dans les espaces imaginaires, comme on pourrait le croire“.
[6] Vgl. Knopper, Françoise: Anthropologie négative et critique de l’exorcisme dans le roman Die Elixiere des Teufels (1815-1816) d’E.T.A. Hoffmann. In: Le Texte et l’Idée 17 (2002), S. 41-59.
[7] Hübener, Andrea: Kreisler in Frankreich. E.T.A. Hoffmann und die französischen Romantiker (Gautier, Nerval, Balzac, Delacroix, Berlioz). Heidelberg 2004
[8] Hädrich, Aurélie: Die Anthropologie E.T.A. Hoffmanns und ihre Rezeption in der europäischen Literatur im 19. Jahrhundert. Eine Untersuchung, insbesondere für Frankreich, Russland und den englischsprachigen Raum, mit einem Ausblick auf das 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2001.
[9] Klein, Ute: Die produktive Rezeption E.T.A. Hoffmanns in Frankreich. Frankfurt am Main 2000.
[10] Brückner (s. Anm.1), S. 137.
[11] Forget, Philippe: Présentation. Narcisse au miroir du texte. In: Philippe Forget (Hg. und Üb.) E.T.A. Hoffmann: Tableaux nocturnes. Paris 1999. Bd. 1, S. 34.
[12] Forget, Philippe (Hg. u. Ü.): E.T.A. Hoffmann: Tableaux nocturnes (2 Bde). Paris 1999/2002; Forget, Philippe (Hg. u. Ü.): Présentation. Narcisse au miroir du texte. In: Philippe Forget (Hg. u. Üb.): E.T.A. Hoffmann, Tableaux nocturnes II. Paris 2002, S. 7–72; Forget, Philippe (Üb.): E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, Le marchand de sable, mit einem Vorwort von Dorian Astor. Paris 2005.
[13] Pollet, Jean-Jacques (Üb.): E.T.A. Hoffmann: Les Elixirs du diable. Paris 2013.
[14] Fink, Gonthier-Louis: Casse-Noisette et le Roi des Souris de Hoffmann, un conte pour enfants? In: Jean-Louis Bandet (Hg.): Les Contes allemands. Grimm – Hoffmann – Mörike. Nantes 2002, S. 59–86; Jacquelin, Evelyne: Mein Name sei Droßelmeier…: Réflexions sur l’art du conte dans Casse-Noisette et le Roi des Souris. In: Jean-Louis Bandet (Hg.): Les Contes allemands. Grimm – Hoffmann – Mörike. Nantes 2002, S. 133–150; Jacquelin, Evelyne: Musäus, Tieck, Grimm, Hoffmann. Notes sur quelques recueils de contes allemands, entre Lumières et Romantisme. In: Anne Besson und Evelyne Jacquelin (Hg.): Le Merveilleux et son bestiaire. Paris 2008, S. 55–73.
[15] Vgl. Brief an Georges Izambard (Mai 1871).
[16] Vax, Louis: Le Principe sérapiontique. Origine romanesque et mise au point critique. In: Jean-Louis Bandet (Hg.): Les Contes allemands. Grimm – Hoffmann – Mörike. Nantes 2002, S. 201–224.
[17] Maillard, Christine: Die Bergwerke zu Falun d’E.T.A. Hoffmann: le moi et l’inconscient. In: Recherches germaniques 22 (1992), S. 73-102.
[18] Paul, Jean-Marie (Hg.): E.T.A. Hoffmann et le fantastique. Nancy 1992.
[19] Tunner, Erika: Le fantastique n’est qu’une dimension du réel. In: Jean-Marie Paul (Hg.): E.T.A. Hoffmann et le fantastique. Nancy, 1992, S. 55-66.
[20] Le Berre, Aline: Criminalité et justice dans les Contes Nocturnes d’E.T.A. Hoffmann. Une image noire de l’homme. Bern 1996.
[21] Dumont, Augustin: E.T.A. Hoffmann ou le rêve à la limite. Perspectives frontalières sur la critique. In: Mosaïque 8 (2013), S. 114–142.
[22] Knopper, Françoise: Anthropologie négative et critique de l’exorcisme dans le roman Die Elixiere des Teufels (1815-1816) d’E.T.A. Hoffmann. In: Le Texte et l’Idée 17 (2002), S. 41-58.
[23] Cantagrel, Laurent: De la maladie à l’écriture. Genèse de la maladie romantique. Tübingen 2004.
[24] Pollet, Jean-Jacques: Wort und Bildsinn in Hoffmanns Nachtstücken. In: Jean-Marie Paul (Hg.): Dimensionen des Phantastischen. Studien zu E.T.A. Hoffmann. St Ingbert, 1998.
[25] Fernandez-Bravo, Nicole: Le Double. Emblème du fantastique. Paris 2009.
[26] Iehl, Dominique: E.T.A. Hoffmann. In: Valérie Tritter (Hg.): Encyclopédie du fantastique. Paris 2010, S. 415.
[27] Montandon, Alain: Les yeux de la nuit: Essai sur le romantisme allemand. Clermont-Ferrand 2010.
[28] Muzelle, Alain: Merveilleux et étrange dans l’œuvre fantastique d’E.T.A. Hoffmann. In: Anne Besson und Evelyne Jacquelin (Hg.): Le merveilleux entre mythe et religion. Arras 2010, S. 181–190.
[29] Lacheny, Ingrid: Der Schauerroman, ein Genre der Trivialliteratur? Zur Rezeption von E.T.A. Hoffmanns Groteskem und Unheimlichem in Frankreich. In: Annie Bourguignon u.a. (Hg.): Zwischen Kanon und Unterhaltung/ Between Canon and Entertainment. Berlin 2016, S. 209–221.
[30] Lacheny, Ingrid: Les Frères de Saint-Sérapion d’E.T.A. Hoffmann: Une œuvre d’„art total“? Saarbrücken 2010.
[31] Cadot, Michel: Art et artifice dans quelques „Nachtstücke” de Hoffmann. In: Jean-Marie Paul (Hg.): E.T.A. Hoffmann et le fantastique. Nancy 1992, S. 193-204; Forget, Philippe: Interprétations de l’automate. In Bulletin de littérature générale et comparée 25 (1999), S. 163-188; Forget Philippe: Des tours d’écriture. Topique, tropismes et rhétorique dans Le Marchand de sable d’E.T.A. Hoffmann. In: Béatrice Didier und Gwenhaël Ponnau (Hg.): L’homme artificiel : les artifices de l’écriture ? Paris 1999, S. 19-38; Krzywkowski, Isabelle (Hg.): L’homme artifciel: Hoffmann, Shelley, Villiers de L’Isle-Adam, Paris, Ellipses.
[32] Montandon, Alain: Eros et minéralisations. À propos des Mines de Falun d’E.T.A. Hoffmann. In: Revue de Littérature Française et Comparée 1/ 11 (1992), S. 211-221.
[33] Costantini, Michel, Jacques Le Rider und François Soulages (Hg.): La couleur réfléchie. Paris 2000; Le Rider, Jacques: E.T.A. Hoffmann. Le peintre fantastique et les couleurs du diable. In: Ebd., S. 59-74.
[34] Giraud, Jean: E.T.A. Hoffmann et son lecteur. Procédés d’écriture et initiation à la poésie dans une page du Sandmann. In : Recherches germaniques 3 (1973), S. 102-124; Remy-Lacheny, Ingrid: Füsslis Nachtmahr und der serapiontische Erzählprozess im Vergleich. In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch 16 (2008), S. 139-143.
[35] Muzelle, Alain: Arabeske und Phantastik bei Friedrich Schlegel und Hoffmann. In: Jean-Marie Valentin (Hg.): Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005: Germanisten im Konflikt der Kulturen. Bern 2008, S. 81-88.
[36] Muzelle, Alain: Théorie de la peinture et fantastique dans L’église des jésuites de Hoffmann. In: Bernard Banoun und Delphine Bechtel (Hg.): Merveilleux et fantastique dans les littératures centre européennes, Cultures d’Europe centrale 2 (2002), S. 39–50; Peyrache-Leborgne, Dominique: Grotesques et arabesques dans le récit romantique. De Jean Paul à Victor Hugo. Paris 2012; Peyrache-Leborgne, Dominique: Le Romantisme allemand ou l’invention d’une nouvelle mythologie, de Friedrich Schlegel à E.T.A. Hoffmann. In Emmanuel Bouju (Hg.): Littérature et contrat. Rennes 2002, S. 137–155.
[37] Muzelle, Alain: L’Arabesque. La théorie romantique de Friedrich Schlegel dans l’Athenäum. Paris 2006.
[38] Lacoue-Labarthe Philippe und Jean-Luc Nancy: L’Absolu littéraire. Théorie de la littérature du romantisme allemand. Paris 1978, S. 78.
[39] Margotton, Jean-Charles: Musique et folie. Le Conseiller Krespel de Hoffmann. In: Alain Montandon (Hg.): E.T.A. Hoffmann et la musique. Bern 1987, S. 268-283.
[40] Giraud, Jean: Éléments musicaux dans l’œuvre littéraire d’E.T.A. Hoffmann. In: Ebd. S. 207-238; Giraud, Jean: Hoffmanns Vergangenheitswendung in der Kirchenmusik: zu dem grundlegenden Buch von Werner Keil. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 3 (1995), S. 31-47.
[41] Lelièvre, Stéphane: Hoffmann, la musique et la France. In: Silène 5 (2010), http://www.revue-silene.com/images/30/extrait_146.pdf
[42] Lulé, Susanne: L’opéra comme modèle esthétique chez Goethe et E.T.A. Hoffmann. In: Michel Espagne und Jacques Le Rider (Hg.): Entre classicisme et romantisme autour de 1800, Revue germanique internationale 16 (2001), S. 123-139.
[43] Feuillebois, Victoire: Pourquoi des fictions autour de la musique? L’exemple du Sanctus d’E. T. A. Hoffmann. In: Revue de Littérature comparée 3 (2014), S. 259– 285.
[44] Lelièvre, Stéphane: Présence de E.T.A. Hoffmann sur les scènes lyriques françaises, du Don Juan de 1834 aux Contes d’Hoffmann d’Offenbach. In: Alexandre Dratwicki und Agnès Terrier (Hg.) : Le surnaturel sur la scène lyrique, du merveilleux baroque au fantastique romantique. Lyon 2012.
[45] Muzelle, Alain: E.T.A. Hoffmann, lecteur de Wackenroder. In: Albert Meier (Hg.): Kunstreligion, ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Bd.1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Berlin 2011, S. 253–263.
[46] Feuillebois, Victoire (Hg.): Hoffmann contemporain: Réceptions et réécritures aux XXE & XXIE siècles. In: Otrante (2016).
[47] Viallet, Patricia: Image(s) actuelle(s) d’E. T. A. Hoffmann: un „utopiste sceptique“. In: Cahiers d’Études Germaniques 65 (2013), S. 189–212.