Automaten
Weitere Informationen zum Themenkomplex Automaten bieten die Artikel zu Automaten in der Zeit der Romantik und zum Automatenmotiv bei Hoffmann.
E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann, 1816 in der Sammlung Nachtstücke erschienen, handelt von dem Studenten Nathanael, dem eine Holzpuppe den Kopf verdreht. Zunächst glaubt der unter einem Kindheitstrauma leidende Nathanael den mutmaßlichen Mörder seines Vaters, den Advokaten Coppelius, in der Person eines Wetterglashändlers namens Coppola wiederzuerkennen, bevor er sich Hals über Kopf in Olimpia, einen musizierenden Automaten, verliebt und dabei die eigene Geliebte Clara vernachlässigt. Nach einem verfehlten Mordversuch an Clara begeht der von einem Wahnsinnanfall gepackte Nathanael am Ende Selbstmord.
Christophe Koné ist Assistant Professor für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft am Williams College, Williamstown (MA)/USA (→ Forscherprofil).
Fällt Nathanael dämonischen Mächten zum Opfer oder leidet er unter Verfolgungswahn? Sieht allein er die lauernde Gefahr, stößt aber seine Kassandrarufe vergeblich aus? Oder ist diese Gefahr bloß das Produkt seines gestörten Geistes und seiner wilden Vorstellungskraft? Nach der Lektüre des Sandmannes bleiben diese hermeneutischen Fragen unbeantwortet, da der Text beide Interpretationsmöglichkeiten anbietet. Gerade dadurch rückt er in die Nähe des Fantastischen.
Kassandrarufe
(aus der griechische Mythologie: Die mit der Gabe der Weissagung ausgestattete Kassandra warnte die Trojaner im Trojanischen Krieg mehrfach, fand aber niemals Gehör); Warnungen vor drohendem Unheil, denen kein Glauben geschenkt wird
Zwar ist das Auge ein wiederkehrendes Motiv in der Geschichte, und anscheinend spielt der Sehsinn eine tragende Rolle, wie mehrere Literaturwissenschaftler nach Sigmund Freud es nachdrücklich gezeigt haben. Jedoch ist dieses Motiv so auffällig, dass man sich auch fragen sollte, ob es tatsächlich einen Schlüssel zum Werk liefert, oder ob das nur ein Erzähltrick des Romantikers Hoffmann ist. Bringt das Augenmotiv Licht in diese undurchsichtige Geschichte, oder dient es bloß als Trompe-l’œil-Effekt?
Irreführung des Lesers durch das Augenmotiv
Wenn das tragische Beispiel Nathanaels als Warnung für den Leser dient, dass der Schein trügt und dass man den eigenen Augen nicht trauen kann, dann sollte der Leser auch das Augenmotiv mit Obacht verfolgen. Dieses wiederkehrende Motiv ist nämlich insofern irreführend, als es eigentlich keinen tiefen Einblick in die Geschichte gewährt, sondern als Leitmotiv stets auf eine weitere Textstelle verweist und somit an der Textoberfläche bleibt. In diesem Sinne fungiert das Augenmotiv als Trompe l’œil. Dieser Effekt vermittelt die Illusion von Tiefe und Perspektive, und genau das bezweckt auch das Augenmotiv im Sandmann. Statt der Frage nachzugehen, was das Augenmotiv bedeutet, wäre es also wichtiger zu fragen, was es im Text bewirkt.
Trompe l’œil
eine illusionistische Maltechnik, die mittels perspektivischer Darstellung Dreidimensionalität vortäuscht
Allgegenwärtiges Augenmotiv
Vom Anfang bis zum Ende lässt die Erzählung ihre Fixierung auf das Sehorgan deutlich erkennen, und anscheinend verleiht gerade dieses Leitmotiv der Geschichte eine gewisse Kohärenz. Zunächst nimmt Der Sandmann vorübergehend die Form eines Briefromans an, bevor der Text sich auf eine auktoriale Erzählperspektive festlegt. Die Erzählung beginnt mit drei Briefen: zwei Briefen von Nathanael an Lothar und einem von Clara an Nathanael, da der erste Brief an den Ziehbruder aus Versehen an die Geliebte geschickt wurde. Von Anfang an wird auf die Einschränkung von Nathanaels Sehkraft hingedeutet, während das Sehvermögen des Lesers erweitert wird: bei der Lektüre der drei Briefe gewinnt er einen voyeuristischen Einblick in das Innere der Hauptfigur.
Diese Ambivalenz verkörpert die legendenhafte Figur des Sandmannes in den Augen Nathanaels, da die bloße Beschwörung seines Namens mit einem Sehverbot einhergeht, zugleich jedoch die Schaulust des Knaben erregt. Einerseits verbietet die Mutter Nathanael den Anblick des Advokaten Coppelius, den Nathanael für den Sandmann hält, jedes Mal, wenn dieser abends den Vater besucht, und schickt ihn stattdessen ins Bett. Dies wiederum treibt Nathanael dazu, sich in einem Schrank im Studienzimmer des Vaters zu verstecken, um nach dem Sandmann zu spähen.
Sandmann-Erzählung der Amme
Andererseits kristallisiert die Sandmann-Figur die Furcht vor dem Sehverlust heraus, wie das grausame Sandmann-Märchen der Amme oder die schreckliche Erfahrung mit Coppelius es andeuten. Die Amme erzählt, der Sandmann sei ein böser Mann, der unartigen Kindern die Augen ausreiße und seine Kinder damit füttere:
„Es ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.“
E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, S. 5.
Im Beitrag wird aus folgender Textausgabe zitiert: E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Hrsg. von Max Kämper. Stuttgart: Reclam 2015. (Reclam XL – Text und Kontext, Reclam Universal Bibliothek 19237). Alle genannten Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.
Der Advokat Coppelius droht, Nathanel die Augen für sein alchemistisches Experiment zu rauben, nachdem er ihn aus seinem Versteck beim Spähen ertappt hat: „‚Nun haben wir Augen – Augen – ein schön Paar Kinderaugen’ So flüsterte Coppelius, und griff mit den Fäusten glutrote Körner aus der Flamme, die er mir in die Augen streuen wollte.“ (S. 9)
Trotz der mit dem Sandmann einhergehenden drohenden Warnung vor Sehverlust verspürt aber der Protagonist den unwiderstehlichen Drang, den Sandmann zunächst anhand von Zeichnungen zu veranschaulichen und dann mit Gedichten zu verbildlichen. In seinem Brief an Lothar gesteht er seine kindliche Besessenheit durch den Sandmann ein, „[…] den [er] in den seltsamsten, abscheulichsten Gestalten überall auf Tische, Schränke und Wände mit Kreide, Kohle zeichnete.“ (S. 6)
Später schildert der allwissende Erzähler, wie der Student Nathanael nun mit Hilfe der Lyrik das furchterregende Bild des Sandmannes in der Gestalt Coppelius’ zu beschwören versucht, und zwar in der Hoffnung, dass seine Vorstellungskraft sich dadurch wieder entzündet:
„Die Gestalt des hässlichen Coppelius war, wie Nathanael selbst es sich gestehen musste, in seiner Phantasie erbleicht, und es kostete ihm oft Mühe, ihn in seinen Dichtungen, wo er als grauser Schicksalspopanz auftrat, recht lebendig zu kolorieren.“
E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, S. 23
In dem gruseligen, Coppelius als dem Sandmann gewidmeten Gedicht, das er Clara vorträgt und das wegen ihrer Missbilligung zu Zank zwischen den Liebenden führt, greift Nathanael das aus dem Ammenmärchen herstammende Motiv des Augenverlustes wieder auf. Diesmal aber überträgt er es auf die Geliebte.
In Nathanaels Neubearbeitung der Sandmann-Legende fällt anscheinend Clara Coppelius/dem Sandmann zu Opfer und verliert das Augenlicht, wie der Erzähler beschreibt: „[…] erscheint der entsetzliche Coppelius und berührt Claras holde Augen; die springen in Nathanaels Brust wie blutige Funken sengend und brennend […]“ (S. 23) Ihre Blindheit ist aber eine Vortäuschung, wie sie ihrem Liebhaber erklärt: „Coppelius hat dich getäuscht, das waren nicht meine Augen, die so in deiner Brust brannten, das waren ja glühende Tropfen deines eignen Herzbluts – ich habe ja meine Augen, sieh mich doch nur an!“ (S. 23). Das Gedicht hat ein düsteres Ende mit Clara als Personifizierung des Todes, dem Nathanael nun ins Auge blickt: „Nathanael blickt in Claras Augen; aber es ist der Tod, der mit Claras Augen ihn freundlich ansieht“ (S. 23).
Detaillierte Beschreibung der Augen
Obwohl Der Sandmann den Primat des Visuellen betont, indem er sich der Sehkraft als Leitmotiv bedient, deutet die Erzählung immer wieder auf die Beschränkung und Unzuverlässigkeit der visuellen Wahrnehmung hin. In seinen detaillierten Personenbeschreibungen schildert der Erzähler die Augen seiner Figuren wie ein begabter Portraitmaler. So hat zum Beispiel der Advokat Coppelius „ein Paar grünliche Katzenaugen, [die] stechend hervorfunkeln,“ (S. 7) der Wetterglashändler Coppola hat ebenfalls „kleine Augen unter den grauen langen Wimpern, [die] stechend hervorfunkeln,“ (S. 27) genauso wie der Professor der Physik Spalanzani, der „kleine stechende Augen“ (S. 17) hat. Im Gegensatz dazu werden Claras Augen „mit einem See von Ruisdael“ (S. 20) verglichen, während Olimpias Augen „etwas Starres [haben], […] keine Sehkraft, […] als schliefe sie mit offnen Augen“ (S. 17). Auffallend an dieser Figurenbeschreibung ist, dass die vermeintlich Bösen in der Geschichte (Coppelius, Coppola und Spalanzani) dieselbe Augencharakteristik aufweisen, d.h. stechende Augen als Merkmal, während die Frauenfiguren durch die Starrheit ihres Blicks gekennzeichnet werden. Die einzige Gestalt ohne Augenschilderung im Text aber ist Nathanael – erst am Ende erfährt der Leser, wie „Feuerströme [ihm] durch die rollenden Augen glühten und sprühten“ (S. 41) – so als brächte ihn der Erzähler absichtlich um die Sehfähigkeit, um dadurch auf die Sehbehinderung der Hauptfigur hinzudeuten.
Nathanaels Sehbehinderung
Vielleicht ist diese Sehbehinderung sogar auf Nathanaels Verkehr mit Menschen mit „stechenden Augen“ zurückzuführen und als Nebenwirkung zu betrachten. Diese Sehlücke erklärt dann, warum sich der Protagonist ein Perspektiv vom Wetterglashändler Coppola anschafft, um damit seine Sehkraft zu verbessern und seinen Blick auf den Automaten Olimpia zu schärfen. Paradoxerweise jedoch erfolgt genau das Gegenteil: je mehr Nathanael Olimpia und seine Umwelt durch Coppolas Fernrohr beobachtet, desto mehr verzerrt sich seine Perspektive, bis er den Überblick völlig verliert, wie der Erzähler berichtet:
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„Doch wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es als gingen in Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke.“
E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, S. 29.
Anstatt Nathanael den Durchblick zu verschaffen, verändert und verschönert dieses Perspektiv (zu lateinisch perspicere = mit dem Blick durchdringen, deutlich sehen) seine visuelle Wahrnehmung der Außenwelt in der Art eines Kaleidoskops (zu griechisch kalós = schön, eĩdos = Gestalt, Bild und skopeĩn = betrachten, schauen).
Weitere Informationen zur Optik in der Zeit Hoffmanns finden Sie in den Wissenschaften der Romantik
Irreführung des Lesers
Nicht ohne einen Anflug von romantischer Ironie versetzt das Ende des Sandmannes den Leser in den gleichen Zustand wie „den unglücklichen Nathanael:“ nach der Lektüre kann er ebenfalls seinen Augen nicht glauben und auch nicht trauen, und er ist nicht einmal imstande, sich anhand des Augenmotives Klarheit über die Erscheinung der bösartigen Sandmann-Figur sowie über den Geisteszustand des Protagonisten zu verschaffen (S. 38). In einem Wort, der Leser verliert völlig den Überblick, und je mehr er versucht, seinen Blick auf Hoffmanns Prosatext zu schärfen, desto kurzsichtiger wird jener und desto unklarer erscheint dieser. Obwohl der Erzähler in seiner Anrede am Anfang der Geschichte dem Leser verspricht, die Gestalten so darzustellen, „als hättest du die Person recht oft schon mit leibhaftigen Augen gesehen,“ (S. 19) kann man sich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass dieser Erzähler dem Leser Sand in die Augen streut. Falls die Geschichte von Nathanael tatsächlich als Allegorie zu verstehen ist, wie der Professor für Poesie und Beredsamkeit es gegen Ende anmuten lässt: „Das Ganze ist eine Allegorie – eine fortgeführte Metapher!“ (S. 39), dann stellt sich Der Sandmann als lehrhafter und performativer Text heraus. Überwältigt von diesem wiederkehrenden Augenmotiv, wie Nathanael einst von Coppolas zahlreichen Brillen übermannt wurde, wird der Leser davon verblendet. Er guckt sich die Augen aus dem Kopf, bis er durchschaut, dass dieses Leitmotiv sich eigentlich als Trugbild entpuppt und insofern den Leser irreführt.
Einen ausführlichen Beitrag zum Roman Der Sandmann finden Sie in den Werkinterpretationen.