Salonkultur
Weitere Informationen zur Salonkultur um 1800 in Berlin und in Hoffmanns Werk finden Sie in dem Artikel Literarische Salons und Dichterkreise um E.T.A. Hoffmann von Petra Wilhelmy-Dollinger.
Künstler als Beruf
Das Verhältnis von Künstler und Außenseiter bezieht sich bereits bei E.T.A. Hoffmann – ähnlich wie später im 20. Jahrhundert bei Thomas Mann – auf das Verhältnis von Kunst und bürgerlicher Gesellschaft. Der Künstler kann in dem seit 1800 etablierten Kunstbetrieb zum Außenseiter werden, weil künstlerische Produktionen nun auch Interessen einer bürgerlichen Öffentlichkeit bedienen. Der neuartige, von kapitalistischen Kalkülen geleitete literarische Markt bringt gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Möglichkeit des freien Künstlers hervor, der mit seinen Werken bei einem anonymen Kaufpublikum entweder besteht oder sich aufgrund seiner Auffassungen von emphatischer Kunst davon abkehrt. Der Künstler stellt sich damit entweder in ästhetische Opposition zu den Wertvorstellungen einer sozialen Sphäre, der er selbst angehört; oder er bedient mit seinen Werken deren Wünsche nach Unterhaltung, Bildung und nützlicher Belehrung. Die Tätigkeit des Künstlers wird dann als Beruf anerkannt. Verweigert er sich den damit verbundenen Anforderungen, wird er dagegen ausgegrenzt.
Stefan Scherer, Prof. Dr. phil., Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie, Geschäftsführer des Instituts für Germanistik am KIT, Wissenschaftlicher Leiter des Schreiblabors des House of Competence am KIT; Teilprojektleiter der DFG-Forschergruppe Ästhetik und Praxis populärer Serialität (zus. mit Claudia Stockinger). (→Forscherprofil)
Orientierung am bürgerlichen Publikum
Zum Außenseiter wird der Künstler also dann, wenn das bürgerliche Publikum wie der Kunstbetrieb seine Werke nicht anerkennen wollen, soweit sie die entsprechenden Unterhaltungs- und Ordnungsvorstellungen stören oder gar sprengen. Der Gegensatz zwischen Kunst und Leben kann gesellschaftlich oder werkbezogen begründet sein: indem das Werk das jeweils Akzeptable in einer Zeit entweder übersteigt oder indem nur die Abgrenzung von der bürgerlichen Sphäre (mit sozialen Verpflichtungen etwa auf Ehe und Familie) das Werk ermöglicht.
Geselligkeit und Einsamkeit
Bei E.T.A. Hoffmann kommt der Zusammenhang zwischen künstlerischer Geselligkeit und Bürgerlicher Alltagskultur hinzu, insoweit die ‚Geselligkeitskultur’ seit dem 18. Jahrhundert zur „bürgerlichen Identitätsbildung“ beiträgt (Lubkoll 2015, 283). Prägend sind auch für ihn die Verbindungen zwischen „Berliner Salonkultur und romantische Geselligkeit“ (ebd., 283f.), zwischen Geselligkeit und Einsamkeit. Die „Diskrepanz zwischen dem geselligen Ideal und der solitären Welt der Kunst“ wird insbesondere in den Serapions-Brüdern „markant ausgestellt“ (ebd., 286), insofern hier der Einsiedler als Vorbild dient. Aber nicht nur
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Einsiedler Serapion
„der Einsiedler Serapion, sondern letztlich alle unbedingten Künstler- und Musikerfiguren bei Hoffmann stehen an der Grenze und setzen mit ihrer buchstäblichen Asozialität einen Widerhaken nicht nur gegen die bürgerliche, sondern auch das romantische Geselligkeitsideal. Es ist diese Gesamtkonstellation bei Hoffmann – die Kontrafaktur der (ebenso konformen wie mediokren) zeitgenössischen Geselligkeitskultur mit dem romantischen Gemeinschaftsideal, aber auch der ‚Sympoesie’ mit einsamer, bis in den Wahnsinn führender Künstlerschaft –, mit der der Autor eine ganz eigene, letztlich auf das Aporetische zielende Position im Geselligkeitsdiskurs seiner Zeit einnimmt.“ (ebd., 286)
Rolle als Außenseiter und Wahnsinn
Bei E.T.A. Hoffmann wird der Künstler dann zum Außenseiter, wenn sein Kunstenthusiasmus in der Idee der absoluten Kunst die Erwartungen seiner Umwelt nicht teilt. Ich-Dissoziation und Wahnsinn sind die psychischen Konsequenzen. Ob eine Figur allerdings tatsächlich wahnsinnig wird, ist oft kaum zu entscheiden, weil sie – so im Falle Kreislers – aus der Perspektive anderer Figuren beurteilt wird. Dass Kreisler tatsächlich wahnsinnig ist, kann mit Gewissheit nicht gesagt werden, dass ihn die soziale Welt nicht anerkennt und für verrückt erklärt, allerdings sehr wohl.
Künstlererzählungen
E.T.A. Hoffmann hat eine ganze Reihe dezidierter Künstlertexte geschrieben, darüber hinaus Erzählungen, die Probleme der Kunst verhandeln, ohne dass sie sich damit ausschließlich für Fragen der Kunst interessieren. Dies ist dort etwa der Fall, wo der Liebeskonflikt im Vordergrund steht. Zu den dezidierten Künstlererzählungen zählen Ritter Gluck, Kreisleriana und Don Juan aus den Fantasiestücken; aus den Nachtstücken gehört dazu Die Jesuiterkirche in G., und auch in Der Sandmann begegnen künstlerische Exaltationen. Die Künstlerproblematik häuft sich dann in den Serapions-Brüdern, hier in Rat Krespel, Die Fermate, Der Artushof, Der Kampf der Sänger, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das Fräulein von Scuderi und Signor Formica. Nicht zuletzt umkreisen die beiden Romane – Die Elixiere des Teufels, Lebens-Ansichten des Katers Murr – das Problemfeld.
Kunst und privates Leben
Hoffmanns Künstlertexte bilden das Verhältnis des Künstlers zur Sphäre des sozialen und privaten Lebens im Spektrum der Varianten ab: einerseits in den negativen Konsequenzen des Wahnsinns und des Außenseitertums, andererseits aber auch – verstärkt im Spätwerk – in den positiven Folgen einer möglichen Verbindung von Kunst und Leben: etwa im bürgerlichen Beruf (Handwerk) oder gar in Form einer Versöhnung des Lebens, insofern die Kunst im Leben praktische Geltung erlangt und so dessen Konflikte löst (Signor Formica, Prinzessin Brambilla).
Fantasie gegen Kleinbürgerlichkeit
Im Frühwerk bleiben Künstler wie Ritter Gluck ‚Sonderlinge’ (SW II/1, 28), weil sie sich gegen die philiströse Kunstkritik wenden und das innere Reiche der Träume dagegen setzen. Wie bei Kreisler ergeben sich daraus spezifische Konsequenzen im Exzentrischen und Verrückten. In Ritter Gluck erfolgt die Verklärung des Künstlers durch den zwar inkompetenten und unzuverlässigen, selbst aber doch auch phantasiebegabten Ich-Erzähler. Sie bleibt aber, wie bei Hoffmann überhaupt, stets perspektivisch gebrochen: Der Ich-Erzähler bleibt besonnen, verfällt also nicht den Phantasien und hält sich fern von den Exaltationen Glucks, auch wenn im Blick auf das narrative Verfahren die Sphären selbst ineinander fließen.
So ergibt sich eine Polarität zwischen Bedrohung durch die/in der Kunst im Wahnsinn (Rat Krespel) und Rettung durch die Kunst kraft ihrer Versöhnung im Humor (vgl. dazu Scherer 2009). Die Fantasiestücke zeigen mit den Möglichkeiten und Problemen des Künstlers mehr die Gefährdungen, dies öfter an Musikern und bildenden Künstlern als an Schriftstellern. Meist scheitern sie an den Erwartungen der bürgerlichen Gesellschaft: den Forderungen nach Unterhaltung und Zerstreuung, denen ihre Auffassung von der absoluten Kunst entgegensteht. Der Bürger erweist sich im passiven Genuss als Banause. Der Kunstenthusiasmus erscheint ihm als ‚Exaltation’, als übersteigerte, krankhafte Erregung. Hoffmanns frühe Texte stellen so die Thematik von Künstlertum und Krankheit, Genie und Wahnsinn als Irritationen, Leiden und Gefährdungen des Künstlers dar.
Mehr zu Humor bei Hoffmann bietet der Artikel zu Komik und Ironie.
Bürgerlichkeit und Künstlertum
In späteren Werken versuchen Künstler wie Berthold in Die Jesuiterkirche in G. mit der Frau, die ihnen als Ideal begegnet, zu leben. Die Heirat ist Verrat an der Kunst und zieht den Verlust des Künstlertums nach sich. Der Konflikt erscheint damit unlösbar: Berthold verstößt Frau und Sohn, bricht zusammen und kann nur noch als Wandmaler arbeiten. So zeigt sich auch hier noch eine geheimnisvolle Macht im Hintergrund, die das Künstlertum in seiner Entfaltung wie in seinem Verlöschen bestimmt.
Wahnsinn oder Heilung
Zwei Folgen der Kunst sind bei E.T.A. Hoffmann demnach idealtypisch zu unterscheiden: Nathanael wird in den Wahnsinn getrieben, während der Held in Das öde Haus oder die Sängerin in Das Sanctus geheilt wird. Die Heiligkeit der Kunst gefährdet den/r Künstler auch dann, wenn er bereit ist, den Wünschen der Gesellschaft entgegenzukommen. Konfliktlinien laufen zwischen Kunst und Liebe, zwischen der wunderbaren Traumwelt und den Anforderungen und Grenzen der Wirklichkeit. In Meister Martin der Küfner und seine Gesellen dagegen entwickelt sich der bürgerliche Friedrich im Handwerk zum Künstler, so dass hier die Spannung zur autonomen Kunst aufgehoben erscheint. In der letzten, fragmentarischen Erzählung Der Feind wird Nürnberg zum historischen und utopischen Ort, an dem Kunst und Handwerk mit Dürer als Bild eines idealen Künstlertums
konvergieren – und so auch der bürgerliche Stand mit dem freien Sinn.
Außenseiter oder Integration
Anspruch des Künstlers gegen Erwartung der Zuhörer
Insgesamt bleibt die Darstellung des Künstlers in die Polarität zwischen beharrendem Außenseitertum und gelingender Integration eingespannt. Kreisler ist eine Gestalt voller Abgründe und exzentrischer Stimmungen. Er kennt und durchleidet die unüberbrückbare Kluft zwischen sich und seiner Umwelt, zwischen Kunst und Leben, zwischen irdischem und höherem Sein. Er spielt der Welt Verrücktheit und Wahnsinn vor, und er ängstigt und belustigt sie mit seinen seltsamen Scherzen als genialer Künstler, der sich ganz der Phantasie überantwortet. Weil er sensibel und reizbar ist, wirkt er auf seine Umwelt verrückt, so dass sein Leben und seine Kunst zwischen schrillen Dissonanzen und abruptem Wechsel vom Erhabenen zum Lächerlichen, von Pathos und Ernst zur Tollheit oszillieren. Seine Vorstellungen von der höchsten Kunst als Ideal sind unter den gegebenen Umständen nicht zu verwirklichen. Hauptursache des Konflikts zwischen Kreisler und der bürgerlichen Gesellschaft sind die gegensätzlichen Einstellungen zur Kunst: Für Kreisler das höchste Prinzip, das Absolute, ist sie für die Gesellschaft nur Mittel zu untergeordneten Zwecken. Solange sich Kreisler in den Dienst dieser Sphären stellt, ihr als Kapellmeister dient, fühlt er sich und seine Kunst korrumpiert. In den frühen Kreisleriana werden die Konflikte mit der Gesellschaft gelöst, indem der Künstler sich von der Welt abwendet, sich also ausschließlich der ‚überirdischen’ Kunst widmet. In Kater Murr wird dieser Standpunkt modifiziert. Kreisler vernichtet seine Musik nicht mehr, um sie vor dem Missbrauch durch die Welt zu schützen: Er schreibt seine Kompositionen auf und spielt sie seiner Umwelt vor.
E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. von Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen, Friedrich Auhuber, Hartmut Mangold, Jörg Petzel und Ursual Segebrecht, Frankfurt/M. 1985ff. (Sigle: SW)
Lubkoll, Christine: Künstlerische Geselligkeit/Bürgerliche Alltagskultur. In: E.T.A.-Hoffmann-Handbuch. Epoche – Werk – Wirkung. Hg. Christine Lubkoll/Harald Neumeyer, Stuttgart 2015, S. 282-287.
Scherer, Stefan: Ironie/Humor. E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Hg. Detlef Kremer, Berlin/New York 2009, S. 493-496.