Das Phantastische und das Wunderbare
In einer vorrationalen Welt war das Wunderbare noch von begriffsloser Selbstverständlichkeit – Mythen und Märchen bildeten die Archive, in denen sein Wissen aufbewahrt war. Aber die Einsicht in die Unumkehrbarkeit des historischen Verlaufs, die sich im Aufklärungszeitalter durchsetzte, hatte die einfachen Formen als Anschauungsformen eines anderen Wissens anachronistisch werden lassen. Wenn das Wunderbare in der Romantik wieder aktiviert wird, nimmt es nicht selten phantastischen Charakter an. Was vormals wunderbar ist, erscheint jetzt nur noch schrecklich, „wo keine Götter sind, walten Gespenster“ (vgl. Novalis 1978,746).
Hans Richard Brittnacher, Prof. Dr., geb. 1951; nach Studium in Marburg und Berlin Promotion 1994, Habilitation 2002; Gastprofessuren in Bern, Wien, Durham und Chapel Hill/North Carolina; Stipendiat des Hamburger Instituts für Sozialforschung; lehrt am Institut für Deutsche Philologie der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Intermedialität des Phantastischen; die Imago des Zigeuners in der Literatur und den Künsten; Literatur- und Kulturgeschichte des Goethezeitalters und des Fin de siècle ( →Forscherprofil)
I. Märchen und Kunstmärchen
Volksmärchen vs. Kunstmärchen
Die spannungsreiche Beziehung von Wunderbarem und Phantastischem lässt sich am Verhältnis von Volksmärchen und Kunstmärchen veranschaulichen. Im Volksmärchen haben die Helden, mögen sie auch allein sein, in sprechenden Tieren und übernatürlichen Gestalten mächtige Helfer; sie leben in einer geschichtslosen Zeit, immer schon und immer noch, und kennen keine psychologischen Probleme. Die Helden des Kunstmärchens hingegen sind nicht allein, sondern einsam, tragen schwer am Wissen um die Irreversibilität ihres Tuns und stehen einer unbegreiflichen, oft mit dem Bösen verbündeten Welt gegenüber.
Romantik: zwischen Vernunft und Übernatürlichem
Doppelköpfige Phantastik
Die Phantastik
Für den problematischen Status des Wunderbaren in einer nicht länger dem Wunderbaren kommensurablen Welt hat sich der Terminus Phantastik eingebürgert, der seit einigen Jahrzehnten intensiv diskutiert wird. Insbesondere über die Frage, welche Texte als phantastisch zu gelten haben, wurde und wird erbittert gestritten. Konsensfähig ist in der Phantastikdiskussion nur die Annahme eines konflikthaften Verhältnisses zweier unterschiedlicher, miteinander grundsätzlich unverträglicher Ordnungen, in denen sich die Denk- und Deutungsmuster von Vernunft und Realität einerseits, von Arkanem und Übernatürlichem andererseits abbilden (vgl. Brittnacher/May 2013a). Die Romantik ist der literarhistorisch exemplarische Schauplatz dieser Diskussion, E.T.A. Hoffmann ihr bekanntester Vertreter. Denn in seinem Werk werden die Konsequenzen eines Zeitenbruchs, der ein Zeitalter der Vernunft von einer metaphysisch überdachten Welt trennt, in ihrer ganzen Brisanz empfunden und diskutiert (vgl. Brittnacher/May 2013b).
Das in den romantischen Texten immer wieder reflektierte Wissen um die Unwiederbringlichkeit des Wunderbaren verleiht der Romantik ihr spezifisch doppelköpfiges phantastisches Profil: Zum einen will die Romantik das Volkstümliche und seinen naiven, ungenierten Begriff des Wunderbaren beerben, zum anderen soll eine neue Poesie entstehen, die gleichsam durch ein Unendliches durchgegangen ist und so bei einer neuen, potenzierten Mythologie ankommt. Phantastisch sind beide Tendenzen: sei es in der Exuberanz phantastischer Gestalten, sei es in der Extravaganz entgrenzter ästhetischer Formen.
Definitionen des Phantastischen
Das Wirkliche scheint phantasiert und das Phantasierte wirklich
Die Logik des Widerspruchs
Tzvetan Todorov hat den lange Zeit die Diskussion dominierenden – und tatsächlich suggestiven – Vorschlag entwickelt, die Definition des Phantastischen an den Moment einer unschlüssigen Entscheidung zu binden, die darüber befindet, ob das vom Text geschilderte Geschehen aus der Perspektive eines impliziten Lesers mit natürlichem (rationalen) oder übernatürlichen (wunderbaren) Mitteln zu erklären sei. So einladend ein solcher Vorschlag – gerade in Konkurrenz zu motivorientierten Definitionen des Phantastischen – auch sein mag, so muss er doch an Texten scheitern, die beide Deutungsmöglichkeit ins Recht setzen, weil die von ihnen geschilderten Vorgänge augenscheinlich doppelt codiert sind: E.T.A. Hoffmanns Erzählungen etwa erlauben, wie schon früh in einer immer noch verbindlichen Darstellung von Wolfgang Preisendanz (vgl. Preisendanz 1964) festgestellt wurde, häufig eine doppelte Deutung, die sowohl eine psychologisch erklärende wie eine vom Wirken übernatürlicher, vom Menschen nicht beeinflussbarer Kräfte überzeugte Lektüre erlauben. Diese Lektüren stellen sich nicht etwa nacheinander ein, so dass die erste verworfen wird, kaum dass die zweite an Plausibilität gewinnt, sondern sind oft für die Dauer der Lektüre gleichzeitig oder auch immer wieder alternierend in Geltung.
In Hoffmanns Geschichten herrscht eine eigentümliche Logik des Widerspruchs (Kremer 1998, 72); ihr zufolge kann etwa eine Figur zugleich sie selbst und ein anderer sein, kann eine Szene Traum und doch auch Erlebnisrealität bezeichnen, können zwei Figuren zugleich identisch und different sein (wie Coppelius und Coppola im Sandmann). Verdopplungen und Korrespondenzen entsprechen dem poetischen Vorhaben, eine Welt darzustellen, die normal und gleichzeitig undurchsichtig ist, in der die Personen selbstbestimmt zu handeln glauben, aber vielleicht auch dem Diktat einer geheimen Verabredung der Geister und Dinge folgen. Im literarischen Kosmos Hoffmanns erscheint oft das Wirkliche phantasiert, das bloß Phantasierte in fast überdeutlicher Zeichnung als das eigentlich Wirkliche und so entsteht eine Welt, die sich vor dem Satz vom Widerspruch nicht zu verantworten hat (vgl. von Matt 1994, 130).
Tzvetan Todorov
(bulgarisch Цветан Тодоров, 1939 – 2017) war ein bulgarisch-französischer Schriftsteller und Wissenschaftler. Seine Forschungstätigkeit lässt sich der Soziologie, Politik, Philosophie, Geschichte, Linguistik, Literaturwissenschaft und Semiotik zuordnen. In seinem Werk Einführung in die fantastische Literatur (1970) beschäftigt sich Tzvetan Todorov mit der Gattung der fantastischen Literatur. Todorovs Theorie ist der Ausgangspunkt fast aller seither aufgestellter Bestimmungsversuche des Fantastischen.
Elemente einer verzerrten Komik
Das Phantastische und das Groteske
Zudem berührt sich das Phantastische bei E.T.A. Hoffmann sehr viel stärker als bei anderen Romantikern mit dem Grotesken, d.h. auch das Schauerromantische und Unheimliche bei Hoffmann ist selten ganz frei von Elementen einer verzerrten Komik. Hoffmanns Erzählungen zaubern aus dem Thesaurus der Volkspoesie die bewährten Märchen- und Sagenstoffe von Nixen und Gnomen, von Ungeheuern und Salamandern, von Unterweltfahrten und Teufelspakt hervor, aber sie formulieren auch jene poetischen Ermächtigungsgesetze, die sich mit dem Übermut der Moderne über die traditionellen Gattungskonventionen hinwegsetzen. In den Erzählsammlungen Hoffmanns, in seinem Roman und in den Märchen erhält die hoffmanneske Phantastik ihr je eigenes, spezifisches Profil.
II. In Callots Manier
Fantasie
Die erste größere Veröffentlichung E.T.A Hoffmanns versammelt unter dem Titel Fantasiestücke in Callot’s Manier. Blätter aus dem Tagebuch eines reisenden Enthusiasten formal sehr heterogene Texte, darunter aber einige, die zum eisernen Bestand der phantastischen Literatur zählen wie Ritter Gluck, Don Juan, Der Magnetiseur, Der goldene Topf sowie die Abenteuer der Sylvester-Nacht. Der Sammlungstitel liefert fünf Stichworte, die das hier erzählerisch ausgemessene Terrain des Phantastischen abstecken:
Dass Hoffmann seine Erzählungen im Untertitel Fantasiestücke nennt, verweist zwar einerseits auf die Phantasie als beseelendes Prinzip in Opposition zur Verstandesdominanz des aufgeklärten Zeitalters, mehr noch aber auf die musikalische „Fantasie“ als ein frei komponiertes Musikstück, das den Eindruck von Improvisation erweckt und ihn mit Tempo- und Rhythmuswechseln noch unterstreicht. In der „Fantasie“ gewinnt die Figur des Künstlers gegenüber der Partitur an Bedeutung. Mit der Anlehnung seiner Prosa an ein Musikstück markiert E.T.A. Hoffmann expliziter noch als andere Romantiker den transgressiven bzw. intermedial inspirierten Charakter seiner Erzählungen, die am klangvollen Mehrwert und der überwältigenden Eindrucksmacht anderer Künste partizipieren wollen.
Verbindung von Kunst und Literatur
Die zweite Berufungsinstanz stellt Jacques Callot dar, der lothringische Kupferstecher aus dem frühen 17. Jahrhundert. So, wie sich in den Grotesken Callots die Grenzen zwischen Mensch und Tier aufheben, geraten auch in Hoffmanns Prosa die Dinge in Bewegung und verbinden Ernstes und Heiteres, Furchtbares und Derblustiges. Im expliziten Bezug seiner Prosa auf die Verfahrensweisen der bildenden Kunst revidiert Hoffmann damit die von Lessing empfohlene scharfe Trennung zwischen bildender Kunst und Literatur (vgl. Kaiser 1988, 33).
Jacques Callot (1592–1635)
war ein lothringischer Zeichner, Kupferstecher und Radierer. E.T.A. Hoffmann sah Anfang 1813 in Bamberg Blätter Callots und glaubte in dessen phantastischem Realismus eine tiefe Seelenverwandtschaft zu spüren, die ihn zu einem Aufsatz über den Graphiker anregte. Seinen Fantasiestücken (1814–15) gab er den Untertitel „in Callot’s Manier“ und stellte ihr die Hommage Jacques Callot als Einleitung voran.
Verzerrung und Deformation
Dem defigurierenden und diskontinuierlichen Anliegen der Phantastik entspricht auch, drittens, der Begriff der „Manier“, der spätestens seit der Frühen Neuzeit als Abbreviatur für ein ästhetisches Verfahren der Verzerrung und Deformation und der Ermächtigung zu subjektiver Willkür gilt.
Der Wanderer, der Reisende
Die vierte Anspielung schließlich gilt dem vorgeblichen Autor, dessen Tagebuch die nachstehenden Erzählungen entnommen seien: Im „reisenden Enthusiasten“ verbindet sich der romantische Zentraltopos des Wanderers bzw. des Reisenden mit dem Enthusiasten, also dem von einer höheren Macht Besessenen oder Ergriffenen, von dem mithin außerordentliche Geschichten zu erwarten sind.
Das Fragmentarische
Dass es sich dabei, fünftens, um „Blätter“ handelt, verweist zuletzt auch noch auf das genuin romantische Konzept des Fragmentarischen, das auf etwas in seiner Unabgeschlossenheit erst noch Werdendes verweist, sich damit einem Denken der Integration und der Abschließung verweigert und sich statt dessen die Einsicht des Scheiterns und des Provisorischen gestattet.
Zwischen zwei Welten
Das Terrain des Phantastischen in Hoffmanns Fantasiestücken
So erzählen die 19 Fantasiestücke von Raum- und Zeitverschiebungen, wenn etwa in Ritter Gluck. Eine Erzählung aus dem Jahre 1809 der längst verstorbene Komponist sich materialisiert. Die Nachricht von den neusten Schicksalen des Hundes Berganza über einen sprechenden, mit dem kulturellen Tagesgeschehen bestens vertrauten Hund dient der ausdrücklich im Einleitungstext Jacques Callot namhaft gemachten „Ironie, welche (…) das Menschliche mit dem Tier in Konflikt setzet“ (18), um damit den Menschen „in seinem ärmlichen Tun und Treiben“ (18) zu verhöhnen. Von Metamorphosen und Defigurationen von Menschen, von Spiegelbildern und Doppelgängern, einem eminent phantastischen Thema, das Hoffmann mehrfach beschäftigen wird, handelt die Erzählung Die Abenteuer einer Sylvesternacht, mit der Hoffmann ein Gegenstück zu Chamissos Geschichte vom verlorenen Schatten geschrieben hat. Der Magnetiseur erzählt die Abbreviatur eines Schauerromans über die Kraft der Träume und ihren Missbrauch durch dämonische Gestalten wie den Magnetiseur Alban. Sie erlaubt Hoffmann sowohl, das Wissen der Zeit über eine apokryphe Wissenschaft dichterisch zu bearbeiten und in der Figur Albans einen unheimlichen, aber auch faszinierenden, von der (sexuellen) Macht über andere besessenen Wissenschaftler auszuphantasieren, der nicht nur in anderen Erzählungen Hoffmanns eine Rolle spielt, sondern als mad scientist in der Literatur- und Filmgeschichte der Phantastik großen Einfluss gewinnen wird.
Der goldene Topf, die vielleicht wichtigste, sicherlich die am meisten interpretierte Erzählung der Sammlung, trägt den paradoxen Untertitel Ein Märchen aus der neuen Zeit. In ihm steht der linkische Student und Kopist Anselmus zwischen zwei Welten, der wirklichen, karikaturhaft verhässlichten, und der magischen, in glühende Farben getauchten, und gleichzeitig zwischen zwei Frauen, die diese Welten bewohnen: die wirkliche Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt, und der als grünes Schlänglein in Erscheinung tretenden, bezaubernden Serpentina, mit der Anselmus zuletzt ein Rittergut im untergegangenen Königs- und Phantasiereich Atlantis bewohnen wird. Dem Topos der Romantisierung des Lebens entspricht die Erzählung durch den Übergang aus der einen Welt in die andere.
Adelbert von Chamisso (1781–1838)
Der Dichter und Naturforscher beschreibt in seiner Märchenerzählung „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ (1813) die Erlebnisse eines Mannes, der seinen Schatten verkauft.
III. Elixiere des Teufels
Schauerroman
Das in Die Abenteuer der Sylvesternacht mit furioser Lust betriebene Spiel von Identitätswechseln und ihrem Gewinn, aber mehr noch ihren Gefährdungen setzt sich fort in E.T.A.Hoffmanns erfolgreichstem Werk, dem Roman Die Elixiere des Teufels. Nachgelassene Papier des Bruders Medardus eines Capuziners. Einerseits handelt es sich bei diesem Roman um einen virtuosen Beitrag zum Genre des Schauerromans, dessen exaltierteste Ausführung, M.G. Lewis‘ The Monk, von Hoffmann auch ausdrücklich (als Nachtlektüre von Aurelie) zitiert wird. Aber während dieser Roman, mit einer Fülle von drastischen Ekel- und Splattereffekten den Höhepunkt einer zuletzt doch sehr handfesten Schauerromantik darstellt, schreibt Hoffmann mit seinem Beitrag die psychologische Expertise der Gattung, die tief in die seelischen Abgründe seiner Protagonisten hineinleuchtet. Hoffmann bedient sich der suggestiven Ich-Form, die den Leser zum Komplizen einer Figur macht, die Heiliger und Mörder zugleich ist.
M.G. Lewis: The Monk
Matthew Gregory Lewis (1775 – 1818) war ein britischer Schriftsteller und Bühnenautor. Sein anonym publizierter Schauerroman The Monk (Der Mönch, 1796) wurde sein erster großer Erfolg.
Das Motiv des Doppelgängers
Wegen der ausgefeilten psychologischen Dekonstruktion seiner Akteure lassen sich die Elixiere auch als Parodie auf den Bildungsroman und des von ihm so forciert vorgetragenen Anspruchs auf Entwicklung einer stabilen Identität lesen. Für Hoffmann ist Identität längst nicht mehr der sichere Besitz der Subjektivität, ein im Lebensvollzug allmählich zu erwerbender oder zu gewinnender Besitz, sondern bestenfalls der äußerliche Schein der Person, die innerlich mit sich im Kampf liegt und von widersprüchlichen Energien zerrissen wird.
Dieses Bild einer taumelnden, heteronom bestimmten Identität findet seine Bekräftigung im Motiv des Doppelgängers. Zwar erlaubt die Selbstmultiplikation in andere die Erfahrung unerhörter Genüsse, die Liebe zu der reinen Aurelie wie die zu der sündigen Euphemie, aber vollstreckt auch die schlimmste Strafe, die eine an der affektiven und sexuellen Disziplinierung ihrer Subjekte interessierte Gesellschaft dafür vorsehen kann: den totalen Selbstverlust.
Gestaltung des Wahnsinns
In der Gestaltung des Wahnsinns und seiner Ansprüche an das Subjekt gelingt es E.T.A Hoffmann, ein neues Idiom, die von Konventionen freigesetzte delirierende Sprache des Begehrens und seiner panischen Visionen, in der Literatur zu etablieren. Wenn Medardus mit einem unlösbar an ihn geklammerten Aufhockerdämon durch den Wald hetzt oder fiebrige Visionen einer surrealen Welt ausphantasiert, in der Kopffüßler umhertanzen, die auf dem eigenen Brustkorb Geige spielen (vgl. Kaiser 1988, 47), hat Hoffmann ein literarisches Esperanto für Wahn und Delirium gefunden, deren fieberhafte Rhetorik ihren Eindruck auf den Leser kaum verfehlt haben dürfte (vgl. von Matt 1994, 122).
IV. Nachtstücke
Die in den Elixieren entwickelte düstere Anthropologie einer entmachteten, von außen bestimmten Subjektivität schlägt sich nieder im Faible Hoffmanns für Marionetten, Puppen, Automaten, Somnambule und anderen Metaphern der Fremdbestimmtheit, die das dominierende Erzählfeld in Hoffmanns zweitem großen Erzählzyklus, Nachtstücke herausgegeben von dem Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier abgeben. Explizit nimmt Hoffmann Bezug auf die erste Erzählsammlung (und deren Erfolg), korrigiert aber deren an musikalischer Verspieltheit orientierte phantastische Stimmung durch die vom neuen Titel namhaft gemachte Eindunkelung.
Begriff aus der Malerei
Der Begriff Nachtstück entstammt der Malerei und meint zunächst Bilder nächtlicher Szenerien, die durch künstliche Lichtquellen wie Lagerfeuer oder Blitze extreme Hell-Dunkel-Kontraste generieren, denen sich spektakuläre Effekte abgewinnen lassen. Die Nacht bildet den Schauplatz der meisten Erzählungen, ihre bevorzugte Handlungszeit und ihre stimmungstragende Kulisse sind als geistige Umnachtung allgegenwärtig.
Hilfreich sind Hoffmann bei der Darstellung der dem Ich unbewussten seelischen Energien die Einsichten, die Gotthilf Heinrich Schubert in seinem damaligen Wissenschaftsbestseller Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft niedergelegt hatte, in dem er Phänomenen wie Visionen, Krämpfen, Magnetismus, Mesmerismus und Somnambulismus besondere Aufmerksamkeit widmete.
Die zwei Teile der Nachtstücke mit je vier Erzählungen sind achsensymmetrisch angeordnet. Am Beginn steht Hoffmanns Der Sandmann, eine der meistinterpretierten Erzählungen der Weltliteratur, was mit der extremen semiotischen Dichte und dem raffinierten narrativen Arrangement dieses Textes zu tun haben dürfte, der nahezu alles, was vermeintlich gesichert gelten kann, radikal perspektiviert. Auffällig ist der zentrale Stellenwert des Mesmerismus und Magnetismus in den Nachtstücken: (Das Gelübde; Das öde Haus; Das Majorat)
Gotthilf Heinrich Schubert
(1780–1860) war ein deutscher Arzt, Naturforscher, Mystiker und Naturphilosoph der Romantik.
V. Das serapiontische Prinzip
Dass E.T.A Hoffmanns dritte und größte Erzählsammlung Die Serapionsbrüder mit 28 Erzählungen sich mit dem schlichten Untertitel Gesammelte Erzählungen und Märchen begnügt, deutet eine Korrektur der bislang verbindlichen ‚Callotschen Manier‘ an. Die Sammlung verbindet vorab bereits verstreut veröffentlichte Erzählungen mit nur zwei gänzlich neu geschriebenen Texten und orientiert sich am Vorbild der großen europäischen Novellentradition: Die Serapionsbrüder sind als gegliederter Zyklus von Erzählungen eines erst vier-, dann sechsköpfigen, geselligen Freundeskreises angelegt, der im Anschluss an den Vortrag die Texte im Gespräch kommentiert – bei dieser Gelegenheit wird anlässlich der ersten (titellosen) Erzählung über den Abt Serapion im Freundesgespräch das sogenannte ‚serapiontische Prinzip‘ als poetologische Strukturformel entwickelt, die so beschaffen ist, dass sie die thematisch zum Teil weit auseinander liegenden Texte zueinander in Beziehung setzt.
Rückbindung an die Wirklichkeit
Der wahnsinnige, im Wald lebende Graf P., der sich für den frühchristlichen Einsiedler Serapion in der Wüste der Thebais hält, vermag zwar eindringlich Geschichten zu erzählen, deren Kohärenz und Überzeugungskraft sich ihrer Entstehung in seiner erhitzen Einbildungskraft verdankt. Dieses visionäre Konzept wird von den Freunden als gesteigertes Dichtertum begriffen: Als genuin serapiontisch lassen die Kunstrichter der Rahmenhandlung „nur eine solche Erzählung gelten, die auf der Vision eines inneren Bildes beruht und die Suggestivkraft dieser Vision auch vermittelt.“ (Kremer 1998, 155) Allerdings verlangen die Freunde solchen Erzählungen auch die Fundierung in der Lebenswirklichkeit ab, weil nur so die Einsicht in die Duplizität von irdischem Sein und extremer Phantasie als unerlässliche Bedingung des Dichtens gewährleistet werden kann. Mit dieser poetischen Frontbegradigung, die vor allem das aus der entfesselten Phantasie gespeiste Erzählen, das bis dahin Hoffmanns Phantastik bestimmte, wieder an die Wirklichkeit zurückbindet, widerruft Hoffmann die mit der ‚Callotschen Manier’ erteilte Lizenz zur radikalen Transgression des Wirklichen. Die in den Gesprächen erwogenen Reflexionen verpflichten die neue serapiontische Phantastik auf eine Diätetik des Schrecklichen und verleihen damit der wieder in Zucht genommenen Phantastik eine besondere Eignung zur Epochendiagnostik, der es gelingen kann, die Entfremdungserfahrungen der Modernisierung nicht in haltloser Panik, sondern in wohldosiertem Schrecken auszumessen.
Motive der Erzählsammlung
Bewährten Themen seiner Poetik bleibt E.T.A. Hoffmann auch in den Serapionsbrüdern treu und entfaltet das ihnen immanente phantastische Kapital weiter aus, so mit dem Thema des Magnetismus oder jenen Spuk- und Revenantgeschichten, die immer wieder eine unheimliche Unabgeschlossenheit der Vergangenheit thematisieren (Der unheimliche Gast, Die Brautwahl). In Vampyrismus wird nicht nur das um 1800 aufblühende Motiv der Untoten eigenwillig adaptiert, in dem es mit der Tradition der leichenfressenden Ghoule kurzgeschlossen wird, sondern zugleich auch eine Reflexion über die Ausgrenzung und Ästhetisierung des Todes geliefert, die nach dem von Freud beschriebenen Mechanismus der Wiederkehr des Verdrängten zur schrecklichen Rache an den Lebenden wird.
Ghoule
Ein Ghul (englisch ghoul; von arabisch غُول) ist üblicherweise ein leichenfressendes Fabelwesen und erscheint in verschiedenen mythologischen und literarischen Formen. Der Ghul ist im persisch-arabischen Kulturkreis ein gefährlicher Dämon. In zahlreichen Mythen und Märchen, vor allem in den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, spielen Ghule eine Rolle. In der klassischen europäischen Literatur und Mythologie ist der menschen- und leichenfressende Ghul im eigentlichen Sinn nicht anzutreffen. Erst nach der Veröffentlichung der Erzählungen aus Tausendundeine Nacht in Europa wurde der Ghul dort zum Begriff; im 20. Jahrhundert erlangte er mehr Bekanntheit, besonders durch die Schauerliteratur des amerikanischen Schriftstellers H. P. Lovecraft, der stark durch diese Sammlung von Erzählungen beeinflusst wurde.
Literatur
- Brittnacher, Hans Richard; May, Markus: Art. “Phantastik-Theorien“, in: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von H. R. Brittnacher und M. May, Stuttgart 2013, S. 189-197 (2013a).
- Brittnacher, Hans Richard; May, Markus: Art. „Romantik. Deutschland“, in: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, a.aO., S. 59-67 (2013b).
- Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: S. Freud Studienausgabe Bd. 4, hg. von A. Mitscherlich u.a., Frankfurt/Main 1970, S. 2412-274.
- Kaiser, Gerhard R.: E.T.A. Hoffmann. Stuttgart 1988.
- Kremer, Detlev: E.T.A. Hoffmann zur Einführung. Hamburg 1998.
- Kremer, Detlev: E.T.A. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Berlin 1999.
- Matt, Peter von: Der Roman im Fieberzustand. E.T.A. Hoffmanns „Elixiere des Teufels“. In: P.v. Matt: Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur. München 1994, S. 122-133.
- Novalis (d.i. Friedrich von Hardenberg): Die Christenheit oder Europa. In: Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe. Hg. von Hans-Joachim Mähl u, Richard Samuel. Bd. 2, München 1978, S.731-750.
- Preisendanz, Wolfgang: „Eines matt geschliffnen Spiegels dunkler Widerschein“ E.T.A. Hoffmanns Erzählkunst“ (1964). In: E.T.A. Hoffmann. Wege der Forschung. HG. von Helmut Prang. Darmstadt 1976., S. 270-291.