Nachtstücke
Die acht Erzählungen der Nachtstücke erscheinen 1816 und 1817 in zwei Bänden. Der Titel der Erstausgabe lautet Nachtstücke herausgegeben von dem Verfasser der Fantasiestücke in Callot’s Manier. Hoffmann bezieht sich damit auf seine 1814 veröffentlichten Fantasiestücke, denen ein großer Erfolg beschieden war.[1] Angesichts ihrer exponierten Position innerhalb der modernen Hoffmann-Rezeption mag es überraschen, dass die Nachtstücke bis zu Hoffmanns Tod wenig erfolgreich waren und nur einmal aufgelegt wurden.[2] Die zeitgenössischen Rezensionen sprechen für sich: So urteilt der anonyme Kritiker der Allgemeinen Literatur-Zeitung, man habe es bei den Nachstücken mit nichts weiter als einem Konvolut von »geisterhafte[m] Spuk«[3] zu tun. Erst Sir Walter Scott findet in seinem Aufsatz On the supernatural in fictitious composition (1827) anerkennende Worte für die Erzählungen, was die Auslandsrezeption zu weiten Teilen positiv beeinflusst und das Interesse für die Wiederentdeckung von Hoffmanns Werk weckt.
Marc Klesse studierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Ältere Deutsche Philologie, Philosophie und Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth. Derzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Würzburger Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte von Prof. Dr. Roland Borgards. Forschung und Publikationen zur Wissensgeschichte um 1800, E.T.A. Hoffmann, Richard Wagner literaturwissenschaftlich, Literaturverfilmung und Gegenwartsliteratur
(→ Forscherprofil).
Das Nachtstück in der bildenden Kunst
Hoffmann entlehnt den Begriff des Nachtstücks der bildenden Kunst, die damit die Darstellung eines Szenarios bei künstlichem Licht beschreibt.[4] Die Definition in Grimms Wörterbuch bezeichnet die »bildliche oder dichterische darstellung einer nächtlichen scene«.[5] Durch die ungleichmäßige Beleuchtung kommt es zu starken Kontrasten in der Darstellung der Figuren, was sich anhand des Gemäldes Joseph als Zimmermann (1640) von Georges de la Tour exemplarisch veranschaulichen lässt.
Das Bild zeigt eine Szene mit dem jungen Jesus Christus und seinem weltlichen Vater Joseph, die allein durch eine Kerze partiell angestrahlt wird. Christi Gesicht ist durch das Licht der Kerze hell ausgeleuchtet, ebenso die Vorderseite seines Gewands. Die Flamme lässt auch das Gesicht Josephs, seine Arme und sein linkes Bein, sowie das Werkstück am Boden klar hervortreten. Die begrenzte Reichweite dieser künstlichen Lichtquelle produziert zugleich Schatten und Dunkelheit, was sich vor allem am linken und am rechten Bildrand zeigt. Die außerhalb des Lichts liegenden Bereiche erscheinen verschattet oder – wie der Rücken und die rechte Hüfte Josephs – gänzlich verdunkelt.
Nacht(stück) und romantische Literatur
Die Aufwertung der Nacht durch die Romantik ist eine oftmals polemische Reaktion auf die allzu enthusiastisch postulierte Lichtmetaphorik der Aufklärung,[6] gleichzeitig wenden sich die Romantiker verstärkt den Nachtseiten der menschlichen Psyche zu. Im Kontext dieser Hell-Dunkel-Dichotomie nimmt Hoffmann jedoch mitnichten eine exklusive Position ein. Autoren wie Ludwig Tieck (z.B. in Der blonde Eckbert, Der Runenberg und Der Liebeszauber) oder August Klingemann, dem die 1804 erschienenen Nachtwachen von Bonaventura zugeschrieben werden, bedienen sich ebenfalls dieses Konzepts.
Die im Nachtstück der bildenden Kunst manifesten Kontraste zwischen Licht und Dunkelheit werden bei Hoffmann auf das Medium der Literatur projiziert, in dem Wirklichkeit und Phantasma, Vernunft und Wahnsinn, Bewusstsein und Unbewusstes aufeinander treffen. Im Fokus steht die Kehrseite der Psyche als das »Andere der Vernunft«[7] mit allen Schattierungen und Unwägbarkeiten des Denkens und Handelns. Hoffmanns Protagonisten sehen sich einer trügerischen Wirklichkeit ausgesetzt, die das Autonomiepostulat der Vernunft abqualifiziert oder schlichtweg ad absurdum führt. Die Motive der Nachtstücke sind jedoch mitnichten bloße Fiktion; sie speisen sich vielmehr aus den zentralen Denkfiguren der Psychologie um 1800 bzw. Theorien der romantischen Naturwissenschaft, wie sie z.B. Gotthilf Heinrich Schubert in seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) formuliert.
Damit werden die Leitlinien der Aufklärung in den Nachtstücken auf subtil und mitunter auch auf rigide Weise bilanziert. Verstand und Ratio erscheinen zeitweise ›verschattet‹, die Realität trifft auf die Unwägbarkeiten individueller Wahrnehmungen und letztlich auf die psychisch unberechenbaren Befindlichkeiten des menschlichen Subjekts: »Die Nachtstücke gehen ähnlich wie Die Elixiere des Teufels über die gothic novel hinaus, indem sie die schauerlich-schreckhaften Momente mit einer ästhetischen Reflexion der Nachtseiten der menschlichen Psyche verbinden.«[8]
Kremers Fazit verdeutlicht zum einen Hoffmanns Poetologie des literarischen Nachtstücks, sie entlarvt zum anderen aber auch implizit die defizitäre Rezeption durch die zeitgenössischen Kritiker, die zwar den »geisterhaften Spuk« ausmachten, die wissenschaftliche Tiefe der Texte aber verkannten.
Nachtstücke (Bd. 1, 1816)
Bis auf Das Sanctus sind die Erzählungen des ersten Bandes der Nachtstücke von der Forschung weitgehend erschlossen. Dem Sandmann wurde dabei stets besondere Aufmerksamkeit zuteil,[9] und er ist im Grunde der Text, der die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Nachtstücken begründet hat. Im Jahr 1919 veröffentlicht Sigmund Freud mit seiner Abhandlung Das Unheimliche eine psychoanalytische Annäherung an diesen Text, zu einer Zeit also, als die Nachtstücke weitgehend in Vergessenheit geraten waren.[10]
Der Sandmann
Der wohl populärste Text Hoffmanns, der es bis in den Schulkanon geschafft hat,[11] markiert den Beginn der Nachtstücke.[12] ›Nacht‹ wird in ihm nicht nur buchstäblich als ein bedrohlicher Zeitraum fassbar, vielmehr wird sie auch figurativ als ein Leitmotiv lesbar, das die Grenzen des Erkenntnisvermögens der Sinne und der Vernunft konturiert. Der Protagonist Nathanael wird in seiner Kindheit durch das Ammenmärchen vom augenraubenden Sandmann geängstigt. Nathanael identifiziert diesen mit dem unheimlichen Advokaten Coppelius, der mit Nathanaels Vater nachts an der Konstruktion eines Automaten-Menschen arbeitet. Bei diesen Experimenten stirbt der Vater eines Nachts aufgrund einer Explosion; Coppelius verschwindet spurlos.
Im Verlauf der Erzählung erleidet Nathanael einen immer stärkeren Realitätsverlust und verliebt sich in Olimpia, die angebliche Tochter des Professors Spalanzani. Nathanael beobachtet sie durch ein kleines Fernrohr, das er dem Wetterglashändler Coppola abgekauft hat,[13] der eine seltsame Ähnlichkeit zu Coppelius aufweist. In der Folge distanziert sich Nathanael immer mehr von seiner Verlobten Clara, die im Text das personifizierte Prinzip der Aufklärung darstellt und verfällt letztlich vollends dem Wahnsinn, als sich Olimpia als Automat entpuppt, der von Coppelius und Spalanzani, der mutmaßlich als Helfer den Platz von Nathanaels Vater eingenommen hat, konstruiert wurde.
[11] Vgl. Kellner, Renate: E.T.A. Hoffmann in der Schule. In: Lubkoll, Neumeyer: E.T.A. Hoffmann, S. 435f., hier S. 435.
[12] In den literarischen Werken finden Sie ebenfalls einen Beitrag zum Sandmann.
[13] Vgl. dazu Stadler, Ulrich: Von Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen Sonnenmikroskopen. Zum Gebrauch optischer Instrumente in Hoffmanns Erzählungen. In: Hartmut Steinecke (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2006, S. 149-170.
Ignaz Denner
Die Erzählung sollte ursprünglich unter dem Titel Der Revierjäger in den Fantasiestücken veröffentlich werden, wurde allerdings von Hoffmanns Verleger Kunz abgelehnt.[14] Sie zählt zu den Texten Hoffmanns, in denen ähnlich wie im Sandmann die Bedrohung der Familie durch das Eindringen finsterer Mächte im Fokus steht. Der Revierjäger Andres lebt mit seiner Frau Giorgina in Armut. Eines Nachts bittet Ignaz Denner, der inkognito als fremder Kaufmann auftritt, um Obdach. Giorgina liegt nach der Geburt ihres ersten Sohnes geschwächt auf dem Krankenlager und erfährt Linderung durch eine rätselhafte Arznei, die ihr Denner verabreicht. Dieser besucht die Familie von nun an mehrmals und verhilft ihr zu einem »gewissen Wohlstand«,[15] obwohl Andres von unguten Gefühlen bezüglich Denner beherrscht wird. Der unheilvolle Bann, in dem die Familie steht, wird durch ein geheimnisvolles »Kästchen mit Kleinodien«[16] symbolisiert, die Andres für Denner verwahren soll.
Eine erste Wende vollzieht sich, als sich Denner als Oberhaupt einer Rotte von Räubern zu erkennen gibt und Andres dazu zwingt, sich an einem Raubüberfall zu beteiligen. Als Andres einige Jahre später verreist, schlagen Denner und seine Räuber abermals zu: Sie überfallen das Schloss von Andres’ Dienstherrn, dem Grafen von Vach, und töten ihn. Auch Georginas zweitgeborener Sohn wird von Denner ermordet, der das Blut des Jungen in einer Schüssel auffängt.
Aufgrund der Aussage der Räuberbande wird Andres nach einem durch Folter erzwungenen Geständnis des Mordes am Grafen für schuldig befunden und zum Tode verurteilt.[17] Erst in letzter Minute taucht ein Entlastungszeuge auf. Die nun folgenden Ermittlungen gegen Denner führen nach Neapel, wo ein gewisser Doktor Trabacchio einst zum Tode verurteilt wurde, da er seine eigenen Kinder tötete, um aus deren Blut Medikamente herzustellen. Auf unerklärliche Weise gelang es ihm, aus den Flammen seines Scheiterhaufens zu entkommen und unterzutauchen. Es wird enthüllt, dass Denner Trabacchios Sohn ist und dessen Experimente fortsetzte.
Auch Denner kann sich seiner Hinrichtung durch Flucht entziehen und wird von Andres verletzt im Wald gefunden. Denner berichtet, er sei der leibliche Vater Giorginas, was Andres dazu bewegt, den Räuberhauptmann bei sich aufzunehmen und zu pflegen. Fatalerweise lässt er sich von der angeblichen Läuterung seines Schwiegervaters täuschen und überrascht ihn eines Nachts im Wald, wo Trabacchio und Denner Giorginas Erstgeborenen töten wollen. Andres erschießt Denner, Trabacchio kann abermals entkommen. Der Erschossene wird an Ort und Stelle begraben, doch am nächsten Tag ist das Grab leer und Denners Körper verschwunden. Der Text endet mit Andres’ Entscheidung, Denners Juwelenkiste in eine Schlucht zu werfen, um die dunklen Mächte vollends bannen zu können.
[14] Vgl. DKV III, S. 979.
[15] Ebd., S. 61.
[16] Ebd., S. 59.
[17] Vgl. dazu Borgards, Roland und Harald Neumeyer: Familie als Exekutionsraum. E.T.A. Hoffmanns »Ignaz Denner« und die Debatten um Verhör, Folter und Hinrichtung. In: IASL (2004), S. 179-216.
Die Jesuiterkirche in G.
Zu Beginn des Textes, der als Paradigma des literarischen Nachtstücks gelten kann, wird der reisende Enthusiast, der bereits in den Fantasiestücken eine wichtige Erzählinstanz darstellt, nach dem Unfall seiner Postkutsche zu einem dreitägigen Aufenthalt in der Stadt G. gezwungen. Hier trifft er mit Professor Aloysius Walther zusammen, der sich mit ihm über die hiesige gotische Kirche unterhält, deren Innenraum neu ausgestaltet wird. Nach einem ersten Zusammentreffen mit dem beauftragten Maler Berthold sucht der Enthusiast den Künstler nachts erneut in der Kirche auf. Berthold arbeitet im Licht einer Fackel am trompe-l’œil, also der ›Augentäuschung‹, eines Marmoraltars, wodurch der Akt der Kunstproduktion selbst zum Nachtstück gerät.
Der Enthusiast befragt den Professor am nächsten Tag über die Person des Malers, den Walther als »dürftigen Wandpinsler«[18] mit einem simplen, doch guten Gemüt erachtet. Diese Informationen genügen dem wissbegierigen Reisenden nicht, so dass er nach einigem Insistieren die Lebensgeschichte Bertholds erhält, die ein Student aus dem Jesuiterkolleg des Professors aufgezeichnet hat.
Die Lektüre enthüllt, dass Berthold als Kind armer Eltern auf Empfehlung des Malers Birkner nach Italien entsendet wurde, um die Kunst der Malerei bei dem schrulligen Künstler Hackert zu erlernen. Dort verliebt sich Berthold in die Prinzessin Angiola, deren Bild ihm zuvor in einer Vision erschien und mit der nach der Hochzeit in die süddeutsche Stadt M. zieht. Dies bleibt nicht ohne Folgen; als visionäres Bild konnte Angiola noch als körperlose Muse fungieren, nach der Eheschließung ist jegliche Inspiration erloschen, und es kommt zum Erliegen von Bertholds Kunstproduktion:
[S]eine Kraft war gebrochen, all’ sein Bemühen […] nur die ohnmächtige Anstrengung des unverständigen Kindes. Starr und leblos blieb, was er malte, und selbst Angiola – Angiola, sein Ideal, wurde, wenn sie ihm saß und er sie malen wollte, auf der Leinwand zum toten Wachsbilde, das ihn mit gläsernen Augen anstierte.[19]
Die eigentliche Fehler Bertholds liegt also in dem philiströsen Entschluss, die femme inspiratrice zu heiraten. In der institutionalisierten Ehe »mündet der eheliche oder […] körperliche ›Besitz‹ der idealisierten Frau zwangsläufig in die Katastrophe.«[20] Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass Angiola und das gemeinsame Kind eines Tages spurlos verschwunden sind.
Der Enthusiast sucht nach dem Lesen der Aufzeichnungen den Maler in der Kirche auf und konfrontiert ihn mit dem Verdacht, er habe Frau und Kind getötet, um seine künstlerische Inspiration wiederzuerlangen. Berthold reagiert auf die Anschuldigungen mit Raserei, er unternimmt den Versuch, sich mit dem Enthusiasten von einem Gerüst in der Kirche zu stürzen, was allerdings misslingt.
Ein halbes Jahr nach seiner Abreise erhält der Enthusiast von Walther die Nachricht, Berthold habe »auf die herrlichste Weise das große Altarbild«[21] vollendet und sei danach verschwunden. Das Auffinden seines Huts und seines Spazierstocks »unfern des O-Stromes«[22] schüren Mutmaßungen, er habe sich im Fluss ertränkt.
[18] DKV III, S. 120.
[19] Ebd., S. 137f.
[20] Begemann, Christian: Kunst und Liebe. Ein ästhetisches Produktionsmythologem zwischen Klassik und Realismus. In: Michael Titzmann (Hg.): Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Tübingen 2002, S. 79-112, hier S. 94.
[21] DKV III, S. 140.
[22] Ebd.
Das Sanctus
Die Protagonisten der Erzählung sind ein Doktor, ein Kapellmeister und abermals der reisende Enthusiast aus den Fantasiestücken. Das Eingangsgespräch handelt von der jungen Sängerin Bettina, der stets die Stimme versagt, wenn sie zum Singen ansetzt. Der Doktor führt psychische Ursachen für den Stimmverlust an, während der Enthusiast eine eigene Erklärung äußert: Vor einem Jahr habe er Bettina in der Kirche singen hören, doch sie habe das Gotteshaus nach ihrer Darbietung noch vor Ende der Eucharastiefeier verlassen, da sie für ihren Auftritt bei einem abendlichen »Singtee«[23] üben müsse. Während das Sanctus in der Kirche erklingt, warnt der Enthusiast Bettina: »Wissen Sie denn nicht […]‚ dass es sündlich ist, dass es nicht straflos bleibt, wenn man während des Sanctus die Kirche verläßt? – Sie werden so bald nicht mehr in der Kirche singen!«[24] und gibt so eine mögliche Begründung für Bettinas Stimmkrise.
Der Enthusiast berichtet, dass es einen ähnlichen Fall von Stimmverlust gegeben habe. In den 1480er Jahren, während der Rückeroberung der iberischen Halbinsel für das Christentum durch die ›Reyes Católicos‹, sei bei der maurischen Sängerin Zulema die gleiche Krise eingetreten, als sie beim Sanctus die Kirche in Granada verlässt. In einem Kloster empfängt die bußfertige Zulema daraufhin die Taufe, sie erhält den Namen Julia und bekehrt mit ihrem betörenden Gesang fortan die Mauren zum christlichen Glauben. Die Geschichte des Enthuasiasten, die der Kapellmeister immer wieder mit Ideen zu einer Oper unterbricht, die er über die Begebenheit in Granada zu schreiben gedenkt, nimmt ein tragisches Ende. Die entsündigte Zulema/Julia stirbt bei ihrem Vortrag des Dona nobis pacem, wenngleich die missionarische Kraft ihrer Stimme fortwährt: »Alle Mohren, die ihr gefolgt, empfingen, zum Glauben bekehrt, selbigen Tages die heilige Taufe.«[25]
Die Erzählung des Enthusiasten erweist sich bei Bettina, die heimlich gelauscht hat, als Therapeutikum. Sie kann von nun an wieder singen und präsentiert »mit herrlicher Glocken-Stimme Pergoleses Stabat mater«[26] – allerdings nicht in einer Kirche, sondern lediglich im privaten Kreis.
[23] Ebd., S. 147.
[24] Ebd.
[25] Ebd., S. 159.
[26] Ebd., S. 160.
Nachtstücke (Bd. 2, 1817)
Der zweite Teil der Nachtstücke besteht aus vier weiteren Erzählungen, von denen es Das öde Haus und Das Majorat zu einer gewissen Prominenz gebracht haben. Das Gelübde und Das steinerne Herz sind hingegen weitaus weniger bekannt und wurden auch von der Forschung mit weniger Aufmerksamkeit bedacht. Es dürfte kein Zufall sein, dass Das öde Haus den zweiten Band eröffnet, weist die Erzählung doch unübersehbar strukturelle und thematische Parallelen zum Sandmann, dem ersten Text des ersten Bandes auf.
Das öde Haus
Der überaus komplexe Text nimmt das erzählerische Szenario der Serapions-Brüder vorweg,[27] indem er den Ich-Erzähler Theodor im Kreise seiner Freunde Franz und Lelio von einem unheimlichen Erlebnis in der Residenzstadt ***n (gemeint ist Berlin) berichtet lässt, das ihm dort widerfahren ist. Bei seinem Besuch in ***n fällt Theodor ein scheinbar verlassenes Haus auf, das zwischen repräsentativen Gebäuden steht. Er glaubt, beim Blick durch seinen »Operngucker«[28] eine Frauenhand an einem der Fenster wahrzunehmen, doch ein benachbarter Konditor versichert ihm, in dem Haus würde lediglich der alte Diener des Grafen von S. wohnen.
Nachdem der Versuch scheitert, in das Haus einzudringen, begnügt sich Theodor mit weiteren Beobachtungen und erblickt abermals eine Frauengestalt, die ihm bereits vorher im Traum erschienen war. Er betrachtet sie mittels eines Taschenspiegels, den er einem italienischen Händler abkauft,[29] und der Blick in den Spiegel scheint die offensichtlich leblos-starre Frau zu beleben – Theodor nimmt sie als »holde Engelsgestalt«[30] wahr.
Das Spiegel-Motiv ist nicht nur für die Geschehnisse in ***n relevant, denn es führt zurück zu einem Trauma in Theodors Kindheit, das auf der Erzählung seiner Wartefrau beruht. Diese warnte ihn davor, nachts in den Wandspiegel seines Vaters zu blicken, denn aus ihm »gucke ein fremdes, garstiges Gesicht heraus, und der Kinder Augen blieben dann erstarrt stehen.«[31] Tatsächlich glaubt Theodor in einer Nacht, »ein paar gräßliche glühende Augen«[32] aus dem Spiegel stieren zu sehen und wird ohnmächtig. Die sich anschließende Krankheit führt dazu, dass er nach seiner Genesung zeitweise in einen Zustand der Lähmung verfällt.
Beim Blick in den Taschenspiegel erinnert sich Theodor an dieses Ereignis, kann aber trotz der sich einstellenden Angst den Blick vom Fenster und der Frauengestalt nicht abwenden. Ein Passant berichtet ihm, es handle sich lediglich um das Gemälde einer Frau, das zum Abstauben ans Fenster gestellt würde, und Theodor beschließt aufgrund dieser nun scheinbar offenkundigen Sinnestäuschung, fortan dem Verlangen zu widerstehen, den geheimnisvollen Ort wieder aufzusuchen.
Dieses Ansinnen misslingt, denn die »träumerische Sehnsucht«[33] ergreift immer wieder aufs Neue von ihm Besitz; Theodor läuft Gefahr, sich psychisch und physisch vollends zu ruinieren, bis er in einem Buch[34] liest, dass er mutmaßlich am »fixen Wahnsinn«[35] leidet. Dieser Rekurs auf die zeitgenössische Psychologie, die die ›fixe Idee‹ als Krankheitsbild einer melancholisch grundierten Hypertrophie der Einbildungskraft klassifiziert, führt im Erzähldiskurs zu einer wichtigen Peripetie: Theodor erkennt seinen Wahn und begibt sich in die Behandlung eines Arztes, der den Taschenspiegel in einem ersten therapeutischen Schritt konfisziert.
Ein weiterer Rekurs auf die zeitgenössischen Wissenschaften stellt die Einführung des Mesmerismus innerhalb der Narration dar: Auf einer Abendgesellschaft wird von der magnetischen Kur berichtet, die an einem erkrankten italienischen Oberst vorgenommen wurde, der während der Behandlung Visionen von einer ihm bekannten Frau erlebte und kurz darauf verstarb – zur gleichen Stunde wie besagte Frau. Der entsetzte Theodor erkennt frappierende Parallelen zu seiner eigenen Krankengeschichte, verlässt die Zusammenkunft überstürzt und eilt zum öden Haus, zu dem er sich Zugang verschafft. Hier begegnet ihm eine offensichtlich wahnsinnige Frau, die vom herbeieilenden Hausverwalter mit einer Peitsche in Schach gehalten wird.
Dieses Ereignis beschreibt eine weitere Peripetie, die die Auflösung des Rätsels um das »öde Haus« vorbereitet. Bei einer weiteren gesellschaftlichen Zusammenkunft trifft Theodor auf eine Frau, die wie jene Frau aus seinen Halluzinationen aussieht. Es ist Gräfin Edwine von S., deren wahnsinnige Tante, Gräfin Angelika von Z., seit langer Zeit im öden Haus gefangen gehalten wird. Edwine und ihre Mutter hatten kürzlich das »öde Haus« besucht, und es war Edwine, die er im Spiegel erblickte. Anders als im Sandmann, in dem Nathanael sukzessive dem optischen Trug von Coppolas Taschenperspektiv verfällt, erkennt Theodor die Täuschung und wird von seinem Wahn kuriert.
Am Ende der Erzählung wird die außerordentliche Wahrnehmungsgabe Theodors von seinen Freunden insofern positiv bewertet, als sie das Fundament seiner poetischen Fähigkeiten sei. Damit rekurriert Hoffmann auf die frühromantische Ästhetik, lässt sich doch das Urteil der Freunde an eine Forderung von Novalis aus dem Jahr 1798 rückbinden:
Die Welt muss romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisiren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es[.][36]
Damit schließt Das öde Haus an die poetologischen Gründungstexte der Romantik an, wenngleich Hoffmann auch die Kehrseite des Novalis-Postulats aufzeigt. Theodor ist zweifelsohne als Romantiker lesbar, allerdings beschreibt die »qualit[ative] Potenzirung« seiner Wahrnehmung eine Gratwanderung zwischen Vernunft und Wahnsinn. Der »Würde des Unbekannten« wird im Öden Haus ein Bedrohungspotenzial zugewiesen, das das Individuum zeitweise zum pathologischen Fall werden lässt. Diese mögliche ›Eskalation‹ bleibt in Novalis’ Konzept einer Romantisierung der Welt klar außen vor.
[27] Vgl. dazu Pikulik, Lothar: E.T.A. Hoffmann als Erzähler. Ein Kommentar zu den »Serapions-Brüdern«. Göttingen 1987, S. 14-22, hier v.a. S. 14-19.
[28] DKV III, S. 169.
[29] Vgl. Anm. 13. Die optische Täuschung, die durch den medial gebrochenen Blick in den Spiegel produziert wird, stellt einen unverhohlenen intertextuellen Bezug zum Sandmann dar.
[30] DKV III, S. 177.
[31] Ebd.
[32] Ebd., S. 178.
[33] Ebd., S. 181.
[34] Bei dem erwähnten Buch handelt es sich um Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803.
[35] Ebd., S. 181.
[36] Novalis [Friedrich von Hardenberg]: Fragment Nr. 105, aus: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentensammlungen 1798. In: Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 2. Das philosophisch-theoretische Werk. München 1978, S. 334.
Das Majorat
Der Titel der umfangreichsten Erzählung der Nachtstücke bezeichnet die Erbfolge nach dem Erstgeborenenrecht, die im Text indirekt für den Niedergang der Adelsfamilie von R. verantwortlich ist. Auffällig am Majorat ist, dass »die fantastischen gegenüber den realistischen Elementen […] merklich zurückgedrängt«[37] sind. Das Unheil dringt nicht auf übernatürliche Weise von außen auf die Familie ein, sondern entspringt der eingerichteten Erbfolgeregelung, die die Familienmitglieder entzweit und zu Neid und Zwietracht bis zum Mord führt.
Zwei Erzählebenen schildern diese schicksalsträchtige Geschichte: Zu Beginn beschreibt der Ich-Erzähler Theodor, wie er in den 1790er Jahren zusammen mit seinem Großonkel, dem Justiziar V., das Schloss der Familie von R. besucht. Es ist ein unheimliches, in Verfall befindliches Anwesen, in dem der Geist des alten Dieners Daniel umgeht, der vom Großonkel gebannt wird. Theodor, für den der Besuch die Züge einer gesellschaftlichen Initiation aufweist, verliebt sich darüber hinaus in Seraphine, die Gattin des Barons von R., so dass die Abreise Theodors und V.s dringend geboten scheint, um eine Eskalation der Situation aufgrund der sich anbahnenden mésalliance zu verhindern.
Im zweiten Teil erfährt Theodor durch seinen Großonkel von den Hintergründen der Majoratsstiftung, das bereits Erzählte wird also in einen historischen Kontext eingebettet, der bis in das Jahr 1760 reicht. Der Ahnherr Roderich von R. hatte die damals bereits als anachronistisch erachtete Erbfolgeregelung eingerichtet, bei der stets der Erstgeborene als Alleinerbe eingesetzt wird und so in Kauf genommen, alle nachgeborenen Söhne künftiger Generationen zu benachteiligen. Er findet den Tod, als der Laborturm, in dem er astrologischen Forschungen nachgeht, in sich zusammenstürzt, was den Verfall der Familie symbolisch vorwegnimmt. Die kinderlose Ehe des letzten Majoratsherrn führt zum Erlöschen des Geschlechts, das Gut fällt an den Staat, der die Steine des Schlosses zum Bau eines Leuchtturms verwendet – eine testamentarische Verfügung des ersten Majoratsherrn.
Die Erzählung vereint auf sich übersinnliche und rechtliche Wirkkräfte, die einen gemeinsamen Telos besitzen: die Auflösung bzw. den Untergang der Familie. Die unheimliche Atmosphäre im Schloss und die Spukerscheinung des alten Daniel, der einst einen der erbberechtigten Brüder unter Mitwisserschaft des Zweitgeborenen tötete, verweisen zum einen auf das »böse Verhängnis«,[38] dem sich die Familie ausgeliefert sieht. Zum anderen hat der Ahnherr Roderich dieses »Verhängnis« durch die Einrichtung des Majorats implizit selbst herbeigeführt, da dieses die Söhne der Familie »psychisch deformiert«[39] und damit jene kriminellen Energien freisetzt, die im Menschen lauern.
[37] Mangold, Hartmut: Das Majorat. In: Kremer: E.T.A. Hoffmann, S. 203-208, hier S. 203.
[38] DKV III, S. 283.
[39] Begemann, Christian: Das Majorat. In: Lubkoll, Neumeyer: E.T.A. Hoffmann, S. 64-66, hier S. 66.
Das Gelübde
Die schwangere, stets verschleierte Nonne Cölestine wird in die Obhut des Bürgermeisters der polnischen Stadt L. gegeben. Nach der Geburt ihres Sohnes wird das Haus des Bürgermeisters von französischen Soldaten überfallen, die das Baby rauben. Ihr Anführer gibt sich als Vater des Kindes zu erkennen. Bei dem Überfall verliert Cölestine ihren Schleier, unter dem sie eine »entsetzliche[] Totenmaske«[40] trägt.
Nun erst wird die Vorgeschichte erzählt, die gleichzeitig Cölestines Lebens- und Leidensgeschichte ist. Die Nonne ist in Wirklichkeit die Comtesse Hermenegilda, die von Xaver, dem Cousin ihres Verlobten Stanislaus, im somnambulen Zustand geschwängert wird, obwohl sie in ihrem Trancezustand glaubt, dass Stanislaus ihr beiwohnt. Als der Betrug und damit auch ihre unehrenhafte Schwangerschaft offenkundig wird, legt Hermenegilda in einem Zustand der Raserei das Gelübde ab, sich von nun an nur noch in Schleier und Maske der Öffentlichkeit zu zeigen und geht in ein Zisterzienserkloster.
Kurz nach dem Überfall der Soldaten stirbt Hermenegilda, ein kurzer Epilog berichtet vom Tod des Kindes, das die Entführung nicht überlebt hat. Stanislaus’ Cousin Xaver bleibt verschwunden, erst viele Jahre später wird er in einem einsamen Kloster entdeckt, das »Antlitz […] durch tiefen Gram entstellt.«[41]
Hoffmann greift in dieser Erzählung ein Motiv aus Kleists Marquise von O… (1808/1810) auf, nämlich die Schwängerung einer sich dessen nicht bewussten Frau. Bei Kleist wird die ohnmächtige Marquise vom russischen Offizier Graf F… vergewaltigt, bei Hoffmann ist es die Comtesse, die von Xaver im somnambulen Zustand in ›andere Umstände‹ versetzt wird.
Die Forschung hat die Erzählung bislang nur randläufig behandelt, obwohl Hoffmann hier wie in vielen seiner Texte die wissenschaftlichen Theorien des Somnambulismus und des Magnetismus fiktionalisiert,[42] wodurch erneut die Rezeption zeitgenössischen Wissens durch die Literatur in den Fokus rückt.
[40] DKV II, S. 293.
[41] Ebd., S. 317.
[42] Vgl. Hunger, Julia: Das Gelübde. In: Lubkoll, Neumeyer: E.T.A. Hoffmann, S. 66-68, hier S. 67.
Das steinerne Herz
Der vom Jugendwahn besessene Hofrat Reutlinger verstößt seinen sechsjährigen Neffen Max, den Sohn seines verstorbenen Bruders. Die Gründe für diesen Beziehungsabbruch erklären zugleich den Titel der Erzählung: Reutlinger hat sich im Park seines Anwesens einen Pavillon angelegt, in dessen Marmorboden ein Herz aus rotem Stein eingelassen werden soll. Für ihn stehen dieser Ort und jenes »steinerne Herz« symbolisch für seine Bindungsunfähigkeit und die Enttäuschung über ehemalige Freundschaften. Eines Tages überrascht Reutlinger seinen Neffen, der im Pavillon mit dem dort abgelegten Stein spielt und gerät in äußerste Wut: »Bube! Du spielst mit meinem Herzen, wie dein Vater!«[43] Dies berichtet Reutlinger der alten Geheimrätin Foerd und fügt hinzu: »Mein Verwalter erhielt die nötigen Befehle ihn fortzuschaffen, ich habe den Knaben nicht wieder gesehen!«[44] Die Geheimrätin reagiert erschüttert und mit Unverständnis auf die Härte des Onkels.
12 Jahre später lädt Reutlinger zu einem ausladenden Fest, bei dem alle Gäste in der Mode des Jahres 1760 erscheinen müssen, da der Gastgeber »in Rückerinnerungen der alten Jugendzeit recht schwelgen«[45] möchte. Unter den Anwesenden macht der Hofrat einen jungen Mann aus, in dem er sein 30 Jahre jüngeres Ich zu erkennen glaubt. Es stellt sich schließlich heraus, dass es sich um Reutlingers mittlerweile 18 Jahre alten Neffen Max handelt, der seinen Onkel um Verzeihung bittet, was dieser aufgrund seines ›steinernen Herzens‹ zunächst entschieden ablehnt. Max wirft sich schluchzend an die Brust von Julie, der auf dem Fest anwesenden Tochter der Geheimrätin Foerd und klagt, dass es ihm nicht gelungen sei, den hartherzigen Onkel zu erweichen. Erst als Reutlinger erfährt, dass Max das Mädchen zu heiraten beabsichtigt, überwindet er sich und verzeiht dem verstoßenen Neffen in einer empfindsamen Szene beinahe selbsterniedrigender Versöhnung.
Die Erzählung endet mit einer Szene an Reutlingers Grab, das Max und Julie besuchen. Der Neffe hat die Worte »Es ruht!«[46] in den Grabstein meißeln lassen – ein Hinweis auf das ehemals »steinerne Herz« des Onkels, das seinen Frieden gefunden hat.
[43] DKV III, S. 323.
[44] Ebd.
[45] Ebd., S. 324.
[46] Ebd., S. 345.
Die Nachtstücke im literatur-
und kulturgeschichtlichen Kontext
Heinrich Heines Verdikt vom ›Gespenster-Hoffmann‹, dessen Werk »nichts anders [sic!] als ein entsetzlicher Angstschrei in zwanzig Bänden«[47] sei, stellt heute allenfalls eine anachronistische Anekdote dar und ist wissenschaftlich nicht mehr haltbar. Vielmehr müssen die Texte Hoffmanns als Knotenpunkt aufgefasst werden, an dem sich die wissenschaftlichen und künstlerischen Diskurse des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts kreuzen.
In den Nachtstücken greift Hoffmann auf die zeitgenössischen Wissensbestände von Psychologie, Medizin, Jurisprudenz, Musik und bildender Kunst zu.[48] Vor allem die Psychiatrie, die um 1800 mit den Schriften Johann Christian Reils einen ersten Höhepunkt erreicht, ist wesentlicher Bestandteil jener Texte Hoffmanns, in denen Sinnestäuschungen und fixe Ideen zum Tragen kommen.[49] Darüber hinaus unterzieht er die frühromantische Ästhetik, wie sie von Novalis und Friedrich Schlegel konturiert wurde, einer kritischen Bilanz, indem er deren Konzepte, z.B. das der Transzendentalpoesie als einer selbstreflexiven Poesie, ironisiert.
Der eigentliche Kunstgriff Hoffmanns besteht darin, diese Diskursfelder unter einem gemeinsamen Nenner – der Nacht – zu versammeln. Dieses nächtliche Dunkel manifestiert sich auch im Erzähldiskurs selbst, der Leerstellen produziert, die Handlungsmotivationen und die Verlässlichkeit der Sinne verschatten: »Die Nachtstücke sind ein ›nächtliches Erzählen‹, insofern sie verdunkelnd vom Dunkel erzählen.«[50] Dieses Fazit ist nur auf den ersten Blick tautologisch, tatsächlich aber rückt es die Position des Lesers in den Fokus. Wo die Narration völlige Verdunkelung produziert, kann nur der Akt der Rezeption erhellend wirken.
Anmerkungen
[1] Diese Herausgeberfiktion ist signifikant für Hoffmanns Spiel mit Herausgeber- und Autorschaft, vgl. dazu Klesse, Marc: Rahmen/Rahmung. In: Christine Lubkoll und Harald Neumeyer (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2015, S. 390-395, hier S. 392f.
[2] Vgl. Kaiser, Gerhard R.: E.T.A. Hoffmann. Stuttgart 1988, S. 51.
[3] Zit. nach Hartmut Steinecke: Kommentar. In: E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. v. Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke. Frankfurt/Main 1985-2004. Bd. 3. Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. Werke 1816-1820, S. 921-1200, hier S. 948. Zitate aus den Nachtstücken sind in den Fußnoten mit der Sigle DKV III und der entsprechenden Seitenangabe gekennzeichnet.
[4] Vgl. pars pro toto Neumeister, Mirjam: Das Nachtstück mit Kunstlicht. Petersberg 2003.
[5] Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Bd. 13, Sp. 218.
[6] Vgl. dazu den Aufsatz zur Geschichte und Funktion der Lichtmetapher von Blumenberg, Hans: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung. In: Studium Generale 7 (1957), S. 432-447.
[7] Böhme, Gernot und Hartmut Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/Main 1985.
[8] Kremer, Detlef: Romantik. Stuttgart, Weimar 2001, S. 174.
[9] Vgl. dazu den forschungsgeschichtlichen Abriss bei Lieb, Claudia: Der Sandmann. In: Detlef Kremer (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. 2., erw. Aufl. Berlin, New York 2010, S. 169-185, hier S. 173-176.
[10] Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche (1919). In: ders.: Studienausgabe in elf Bänden. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richard und James Strachey. Frankfurt/Main 1972. Bd. IV. Psychologische Schriften, S. 241-274.
[47] Heine, Heinrich: Die romantische Schule. In: ders.: Werke. 4 Bde. Frankfurt/Main 1968. 4. Bd., S. 166-298, hier S. 240.
[48] Vgl. Neumeyer, Harald: Einführung. In: Lubkoll, Neumeyer: E.T.A. Hoffmann, S. 46f., hier S. 47.
[49] Vgl. hierzu Lindner, Henriett: »Schnöde Kunststücke gefallener Geister«. E.T.A. Hoffmanns Werk im Kontext der zeitgenössischen Seelenkunde. Würzburg 2001.
[50] Neumeyer, Harald: Einführung. In: Lubkoll, Neumeyer: E.T.A. Hoffmann, S. 46f., hier S. 47.
Literatur
- Janssen, Brunhilde: Spuk und Wahnsinn. Zur Genese und Charakteristik phantastischer Literatur in der Romantik, aufgezeigt an den Nachtstücken von E.T.A. Hoffmann. Frankfurt/Main u.a. 1986.
- Kaiser, Gerhard R.: E.T.A. Hoffmann. Stuttgart 1988 (zu den Nachtstücken S. 51-63).
- Lubkoll, Christine und Harald Neumeyer (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2015 (zu den Nachtstücken S. 46-70).
- Weithin, Thomas: Nachtstücke (1816/17). In: Detlef Kremer (Hg.): E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. 2., erw. Aufl. Berlin, New York 2010 (zu den Nachtstücken S. 161-168).
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