Des Vetters Eckfenster
Entstehung
Schon schwer erkrankt und gelähmt, diktierte Hoffmann diese Erzählung im Frühjahr 1822, wenige Monate vor seinem Tod. Er zelebriert darin zum letztenmal eine Schule des Sehens und Deutens, getreu dem „serapiontischen Prinzip“, demzufolge Dichter, das, was sie als Dichtung ins Leben tragen auch wirklich geschaut haben müssen. (SW, IV, S. 69)
Jörg Petzel hat nach langjähriger Arbeit als Buchhändler und Antiquar Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaften in Bamberg studiert. Er ist Vize-Präsident der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft und Mitherausgeber sämtlicher Werke E. T. A. Hoffmanns im Deutschen Klassiker Verlag; Arbeiten zu E.T.A. Hoffmann, Friedrich de la Motte-Fouqué, Arno Schmidt und Franz Fühmann.
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Realistisches Erzählen
Zahlreiche autobiografische Elemente, Krankheit und auch Kleidung des schriftstellerischen Vetters, sowie die Lage des Schauplatzes, Hoffmanns Wohnung am Gendarmen Markt – das Schauspielhaus und die Charlottenstraße werden im Text erwähnt – haben etliche Interpreten etwas eindimensional als Hoffmanns Wendung zum realistischen Erzählen gedeutet, was dessen selbstironisches Spiel mit seinen Lesern doch verkennt.
Der Markt und das Theater sind zentrale Orte der Stadt „wie Chiffren des geselliger Zentren und Metaphern des Lebens“ (Steinecke in: SW VI, S. 1420)
Inhalt
Der gemeinsame Wohnzimmer-Blick vom Vetter und seinem Besucher auf das Berliner Volksleben und Markttreiben könnte unterschiedlicher nicht sein. Dem Besucher erscheint das Marktgewimmel zunächst als „dicht zusammen gedrängte Volksmasse“ (SW, VI, S. 471), die ihn schnell ermüdet. Doch der Vetter beginnt seine Lehrstunde mit dem „Fixieren des Blicks“, der „deutliches Schauen“ erzeugt. (SW VI, S. 472)
Ein distanzierter Blick mit Hilfe eines Fernglases ermöglicht überhaupt erst die differenzierte Wahrnehmung der Einzelszenen des Marktgeschehens. (Segebrecht, E.T.A. Hoffmanns Schule des Sehens, S. 128)
Bestärkt durch seine detaillierten Beobachtungen konstatiert der Vetter, „daß mit dem berliner Volk“, seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon „eine merkwürdige Veränderung vorgegangen ist“ (SW VI, S. 494 f.), davor erschien das Volk roh und brutal, nun hätte es an äußerer Sittlichkeit gewonnen, was sich auch an dem feinen und höflichen Benehmen der Mägde und Tagelöhner erkennen lässt.
Literatur
E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs [in sieben] Bänden. Hg. v. Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht, unter Mitarbeit von Gerd Allroggen, Friedhelm Auhuber, Hartmut Mangold, Jörg Petzel und Ursula Segebrecht. Frankfurt am Main : Deutscher Klassiker-Verlag 1985- 2004.
Segebrecht, Wulf: E.T.A. Hoffmanns Schule des Sehens. In: Segebrecht, Wulf: Heterogenität und Integration. Studien zu Leben, Werk und Wirkung E.T.A. Hoffmanns. Frankfurt a.M., Berlin, Bern 1996 (Helicon. Beiträge zur deutschen Literatur 20), S. 119-130.