Berlin als literarisches Motiv
Bevor E.T.A. Hoffmann 1814 endgültig nach Berlin zog, um dort seine Doppelexistenz als Jurist Künstler fortzusetzen, hatte er bereits 1798/99 und 1806/08 die Gelegenheit, sich mit der Topographie der preußischen Hauptstadt und auch mit seinen Bewohnern vertraut zu machen. Der in Königsberg geborene Hoffmann hatte eine begründete Abneigung gegen Provinznester und Kleinstadt-Idyllen, denn als Künstler benötigte er die vielfachen Anregungen der Metropole, den geselligen Umgang und geistigen Austausch mit den dort lebenden Künstlerkollegen.
Hoffmanns endgültiger Umzug nach Berlin im Jahre 1814 und dem Wiedereintritt in den Justizdienst, beschleunigte auch seine Schriftsteller-Karriere. Das Berliner Kulturleben mit all seinen dort lebenden Künstlern wirkte intensiv auf Hoffmanns künstlerische Produktion.
Für seinen Bamberger Verleger Carl Friedrich Kunz hat Hoffmann am 18. Juli 1815 einen Stadtplan seiner näheren Wohnumgebung am Gendarmenmarkt gezeichnet, den „Kunzischen Riß“. Darauf finden sich Berliner Realien wie Stadtbewohner, Gebäude, Straßen, Lokale, lebende Zeitgenossen und Schriftstellerkollegen, denen aber Phantastika wie exotische Tiere sowie Figuren aus Hoffmanns „Fantasiestücken in Callots Manier“gleichberechtig zugeordnet werden.
Dieses Muster grundiert auch seine in Berlin spielenden Erzählungen, die in ihrer alltäglichen Verzauberung wohl kaum einen scheinbaren Realismus widerspiegeln, vielmehr die Wirklichkeit der preußische Hauptstadt verfremden.
Jörg Petzel hat nach langjäriger Arbeit als Buchhändler und Antiquar Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaften in Bamberg studiert. Er ist Vize-Präsident der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft und Mitherausgeber sämtlicher Werke E.T.A. Hoffmanns im Deutschen Klassiker Verlag; Arbeiten zu E.T.A. Hoffmann, Friedrich de la Motte-Fouqué, Arno Schmidt und Franz Fühmann (→ Forscherprofil).
„Für Hoffmann ist die Realität Berlins nicht das Produkt von Determinanten, Straßennamen repräsentieren kein ‚Milieu’, sondern sie zeigen an, daß die Brüchigkeit und Doppelbödigkeit der Wirklichkeit gleichsam an jeder Straßenecke mit Händen zu greifen sind.“
Wulf Segebrecht in: E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs [in sieben] Bänden. Hg. v. Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht, unter Mitarbeit von Gerd Allroggen, Friedhelm Auhuber, Hartmut Mangold, Jörg Petzel und Ursula Segebrecht. Frankfurt am Main 1985- 2004, Bd. IV, 2001, S. 1309
Hoffmann postuliert einen Teil seiner Poetik, bekannt als „serapiontisches Prinzip“ in den Gesprächen der „Serapions-Brüder“:
„Jeder prüfe wohl, ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verkünden unternommen, ehe er es wagt laut damit zu werden.Wenigstens strebe jeder recht ernstlich darnach, das Bild, das ihm in Innern aufgegangen recht zu erfassen mit all seinen Gestalten, Farben, Lichtern und Schatten, und dann, wenn er sich recht entzündet davon fühlt, die Darstellung ins äußere Leben
SW IV, S. 69
Hoffmann verlockte sein zeitgenössisches Lesepublikum in Parallelwelten, in fremde Zauberreiche, deren seltsame Gestalten in das“ äußere Leben“ der Leser traten.
In den Gesprächen der „Serapions-Brüder“ erläuterte Hoffmann seine Methode:
„Du hattest, sprach Theodor, bestimmten Anlaß, die Szene des Stückes nach Berlin zu verlegen und Straßen und Plätze zu nennen. Im Allgemeinen ist es aber auch meines Dünkens gar nicht übel den Schauplatz genau zu bezeichnen. Außerdem, daß das Ganze dadurch einen Schein historischer Wahrheit erhält der einen trägen Fantasie aufhilft“
SW IV, S. 176
Öffentliche Orte, wie Cafés, Biergärten, Restaurants oder Weinkeller zählten zu Hoffmanns bevorzugten Aufenthaltsorten in Berlin und bilden nicht selten Ausgangspunkt für den Handlungsverlauf seiner Erzählungen.
Die Erzählung „Ritter Gluck. Eine Erinnerung aus dem Jahre 1809“ beginnt mit einem Konzert im Tiergarten, in den Zelten bei Klaus und Weber.
In den „Abenteuern der Sylvester-Nacht“ besucht der Erzähler einen Bierkeller nahe dem Gendarmenmarkt und mit seinem Eintritt wechselt die Szenerie ins Fantastische, denn die weiteren Besucher heißen Peter Schlemihl (der Held aus Chamissos gleichnamiger Erzählung) und General Suwarow, der sich aber später als Erasmus Spikher entpuppt, denn der reale russische General Suwarow war schon 1800 verstorben.
Das Webersche Zelt im Tiergarten dient, wie schon im „Ritter Gluck“, als Treffpunkt für drei Freunde im „Fragment aus dem Leben dreier Freunde“, die sich dort in ein und dieselbe Frau verlieben.
Die Geschichte der „Fermate“ beginnt im Herbst 1814 mit dem Besuch einer Berliner Kunstausstellung. Ein Gemälde Hummels tritt ins „äußere Leben“ der zwei Freunde, die sich dann im italienischen Lokal Sala Tarone, Unter den Linden / Ecke Charlottenstraße, unter Weingenuss über das Sujet des Bildes und dessen eigentliche Geschichte unterhalten.
Ein Charakteristikum der später entstandenen Erzählungen, die im zeitgenössischen Berlin spielen, ist der Einbezug der Berliner Lokalhistorie, die sich Hoffmann zumeist aus Chroniken erarbeitete. Sein aufgeklärtes Lesepublikum wurde mit historischen Persönlichkeiten konfrontiert, die ungeniert im Berlin der Restaurationszeit herumgeistern und den Handlungsverlauf der Geschichte dominieren. Das Komische und das Gemütliche vermischt sich unversehens mit dem Grauenhaften. (Marianne Thalmann, Romantiker entdecken die Stadt. München 1965, S. 134)
Die präzisen Ortsangaben wiegen die zeitgenössischen Leser in Sicherheit, denn sie kennen ja die genannten Straßen, Gebäude und Lokale. Die gleichzeitige Verunsicherung durch das Unheimliche, das Unbegreifliche und Grauenhafte gehört zum Arsenal der Hoffmannschen Erzählstrategie.
Hoffmann gehörte nun zu den beliebtesten Autoren und konnte sich vor Aufträgen der Almanach- und Taschenbuchverleger kaum retten. So bestellte 1819 die Redaktion des Berlinischen Taschen-Kalenders eine Erzählung für den aktuellen Kalender auf das Schalt-Jahr 1820 und Hoffmann lieferte als Beitrag „Die Brautwahl“, deren Untertitel schon die Tendenz dieser Erzählung signalisierte: „Eine Berlinische Geschichte, in der mehrere ganz unwahrscheinliche Abenteuer vorkommen“. Wie schon im Nachtstück „Das öde Haus“ formte Hoffmann einen Teil seiner Protagonisten nach lebenden Vorbildern, „celebre Namen aus der Berliner Kunstwelt“ (SW, Bd. IV, S. 720). Waren es dort die mit Hoffmann befreundeten Koreff und Pückler, so versteckt sich hinter Edmund Lehsen ,dem Helden der „Brautwahl“, der Maler Wilhelm Hensel, von dem ein zeitgenössisches Hoffmann-Porträt überliefert ist. Beim Wiederabdruck im dritten Band der Erzählsammlung „Die Serapions-Brüder“ strich Hoffmann etliche seiner lokalen Anspielungen. Die Redaktion des Taschenkalenders bat Hoffmann darauf, „sich künftig doch im Gebiet der Möglichkeit zu halten“. (SW, Bd. IV, S.720), was diesen nur amüsierte und ihn animierte, „die Lokalität noch lokaler zu machen“ (SW, Bd. IV, S. 720)
Die beiden ebenfalls für den Berlinischen Taschen-Kalender produzierten Erzählungen „Die Irrungen“, mit dem Untertitel „Fragmente aus dem Leben eines Fantasten“ und deren Fortsetzung „Die Geheimnisse“ offenbaren im Handlungsverlauf ein fantastisches Feuerwerk, die parallel mit topographischer Genauigkeit Berliner Gebäude, Restaurationen, aber auch mit realen Persönlichkeiten der Hauptstadt aufwarten.
Am Ende seines Lebens verblieb dem gelähmten Schriftsteller nur der Ausblick aus dem Fenster seiner Wohnung am Gendarmenmarkt, was seiner Fantasie jedoch keinerlei Grenzen setzte; die diktierte Erzählung „Des Vetters Eckfenster“ belegt es eindeutig.
Hoffmanns Berliner Geschichten
„Ritter Gluck. Eine Erinnerung aus dem Jahre 1809“
„Die Abenteuer der Sylvester-Nacht“
„Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde“
„Die Fermate“
„Die Brautwahl“
„Das öde Haus“
„Die Irrungen / Die Geheimnisse“
„Des Vetters Eckfenster“
Eine Auswahl an
Werkinterpretationen
Anmerkungen
Quellen
- E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs [in sieben] Bänden. Hg. v. Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht, unter Mitarbeit von Gerd Allroggen, Friedhelm Auhuber, Hartmut Mangold, Jörg Petzel und Ursula Segebrecht. Frankfurt am Main 1985- 2004 = SW I-VI
- E. T. A. Hoffmann: Gespenster in der Friedrichstadt.Berlinische Geschichten. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Günter de Bruyn. Berlin 1986
- E.T.A. Hoffmann: Briefwechsel. Gesammelt und erläutert von Hans von Müller(†) und Friedrich Schnapp, hg. v. Friedrich Schnapp, 3 Bde., München 1967-1969 = Schnapp, Bw I-III
- E.T.A. Hoffmann: Juristische Schriften. Herausgegeben und erläutert von Friedrich Schnapp = Schnapp, Juristische Schriften
- E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten. Eine Sammlung [hg.] von Friedrich Schnapp, München 1974 = Schnapp, Aufzeichnungen
- Der Musiker E. T. A. Hoffmann. Selbstzeugnisse, Dokumente und zeitgenössische Urteile. Zusammengestellt und hrsg. Von Friedrich Schnapp. Hildesheim 1981 = Schnapp, Musiker
- Heine, Heinrich: Und grüß mich nicht Unter den Linden. Heine in Berlin. Gedichte und Prosa. Hg. u. Nachwort von Gerhard Wolf. Berlin 1980 [Märkischer Dichtergarten] = Heine in Berlin
- [Hitzig, Julius Eduard], Aus Hoffmann’s Leben und Nachlaß, hg. von dem Verfasser des Lebens-Abrißes Friedrich Ludwig Zacharias Werners, 2 Theile, Berlin 1823. = Hitzig I, II
- Hitzig, Julius Eduard, E.T.A.Hoffmann’s Leben und Nachlaß, 3 Bde., vermehrte und verbesserte Auflage, Stuttgart 1839 = Hitzig 1839
- Varnhagen von Ense, Karl August: Blätter aus der preußischen Geschichte. Zweiter Band, Leipzig 1868 = Varnhagen, Blätter
weiterführende Literatur
- Benjamin, Walter: Das dämonische Berlin. In: Aufklärung für Kinder. Rundfunkvorträge. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main 1985, S. 27-32
- Bienert, Michael: E.T.A. Hoffmanns Berlin. Literarische Schauplätze. Berlin 2015
- de Bruyn, Günter: Unter den Linden. Berlin 2002
- de Bruyn, Günter: Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807. Frankfurt a. M. 2006
- de Bruyn, Günter: Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 bis 1815. Frankfurt a.M. 2010
- de Bruyn, Günter: Die Somnambule oder Des Staatskanzlers Tod. Frankfurt am Main 2015
- Demps, Laurenz: Der Gensd’armen-Markt. Gesicht und Geschichte eines Berliner Platzes. Berlin 1987
- Deterding, Klaus: Der Kunzsche Riß als zeichnerische Gestaltung von Hoffmanns poetischer Weltsicht. In: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 28 (1982), S. 25-32 = Deterding
- Deterding, Klaus: Magie des poetischen Raums. E.T.A. Hoffmanns Dichtung und Weltbild. Heidelberg 1999
- Günther, Hans: E. T. A. Hoffmanns Berliner Zeit als Kammergerichtsrat. Berlin 1976
- Kanzog, Klaus: Berlin-Code. Kommunikation und Erzählstruktur. Zu E. T. A. Hoffmanns ‚Das öde Haus’ und zum Typus „Berlinische geschichte“. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie. [Sonderheft] 95 (1976), 42-63
- Mangold, Hartmut: „Heillose Willkühr“. Rechtsstaatliche Vorstellungen und rechtspraktische Erfahrungen E. T. A. Hoffmanns in den Jahrender preußischen Restauration. In: E.T.A. Hoffmann. Herausgegeben von Hans Ludwig Arnold (Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur, Sonderband), München 1992, S. 167-176 = Mangold
- Miller, Norbert: E. T. A. Hoffmanns Berlin – eine Stad im Umbruch 1814-1821. In: Walter Höllerer zu Ehren. TUB-Dokumentation Kongresse und Tagungen 62 (1994), S. 43-75 = Miller
- von Müller, Hans: Gesammelte Aufsätze über E. T. A.Hoffmann, hg. v. Friedrich Schnapp. Hildesheim 1974 = von Müller, Aufsätze
- Petzel, Jörg: Teufelspuppen, brennende Perücken, Magnetiseure, Hüpf- und Schwungmeister. E.T.A. Hoffmann in Berlin. (Frankfurter Buntbücher 57) Frankfurt (Oder) 2015
- Pniower, Otto: E. T. A. Hoffmanns Berlinische Erzählungen. In: Archiv der Brandenburgia. Gesellschaft für Heimatkunde der Provinz Brandenburg zu Berlin. 12. Bd., Teil II (1907), S. 6-25
- Thalmann, Marianne: Romantiker entdecken die Stadt. München 1965
- Wirth, Georg: Taubenstrasse No. 31- III. Etage. Hoffmanns Wohnung in Berlin. In: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 28 (1982), S. 39-43= Wirth
- Wirth, Irmgard: E.T.A. Hoffmann in Berlin. Beispiele der Architektur und bildenden Kunst in der preußischen Hauptstadt. In: E.T.A. Hoffmann in seiner Zeit. [= Ausstellungskatalog Berlin Museum], Berlin 1976, S. 35-39.
- Ziolkowski, Theodore: Berlin. Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810. Stuttgart 2002