Sahib Kapoor: E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1816) und seine Darstellung in expressionistischen Buchillustrationen

Neu erschienen: Sahib Kapoor: E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1816) und seine Darstellung in expressionistischen Buchillustrationen

Ende April 2024 erschien Sahib Kapoors Buch E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1816) und seine Darstellung in expressionistischen Buchillustrationen im Verlag Königshausen und Neumann. Wir hatten die Gelegenheit, den Autor zu seinem Buch zu befragen.

Herr Kapoor, wie kamen Sie auf das Thema?

Die Überschneidung von Literatur und Bildender Kunst übt seit jeher eine besondere Faszination auf mich aus. Im Rahmen meines Bachelor-Studiums hatte ich erstmals die Gelegenheit, mich mit den Werken E. T. A. Hoffmanns zu befassen. Seitdem haben mich seine Texte immer wieder aufs Neue ästhetisch erfreut und inspiriert. Besonders angetan hat es mir dabei die Textillustration zu Hoffmanns Novelle Der Sandmann.

Warum wurde E.T.A. Hoffmann insgesamt aber eben auch im besonderen Maße im Expressionismus so häufig illustriert?

Im Expressionismus erfuhr E.T.A. Hoffmann eine Renaissance. Die Expressionist*innen griffen das Unheimliche und Undurchschaubare auf, da Hoffmann bereits die Kernproblematik der Expressionist*innen thematisierte, nämlich den physischen Aufruhr und die innere Zerrissenheit in einer rationalen Lebenswelt. In Hoffmanns Texten manifestierte sich der künstlerische Ausdruck. Hoffmanns Phantasiewelt fungierte für sie als sicherer Zufluchtsort.

Warum eignet sich der Expressionismus aus Ihrer Sicht besonders für die Illustration von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann?

In der Zeitspanne zwischen 1913 und 1925 wurden 13 illustrierte Ausgaben von Hoffmanns Der Sandmann publiziert. In diesem Werk thematisiert Hoffmann die Existenzangst und den Wahnsinn, wobei der Protagonist Nathanael an der Schwelle zwischen Realität und Fantasie schwebt. Das gleiche Schicksal ereilte die Expressionist*innen, sei es, dass sie vom Krieg gestürzt wurden, sei es, dass sie die Auswirkungen des Krieges spürten. Wie Nathanael waren sie nicht imstande, ihren Alltag zu bewältigen. Insofern kann angenommen werden, dass Der Sandmann ein Werk ist, das die Psyche der Künstler visuell darstellt. Die Arbeit zeigt, dass Der Sandmann das am häufigsten illustrierte Werk Hoffmanns im Expressionismus ist.

Sind es vor allem deutsche oder auch internationale Künstler? Gibt es Künstlerinnen, die E.T.A. Hoffmann illustrieren?

Die Zahl der Künstlerinnen und Künstler, die Werke E.T.A. Hoffmanns illustrieren, ist groß. Hoffmann selbst illustrierte zahlreiche seiner Werke. Das allererste und berühmteste Bild zu Der Sandmann stammt von Hoffmann selbst. Nach der Erstausgabe wurden Hoffmanns Werk häufig in Frankreich illustriert. Anschließend wurde Der Sandmann von britischen und deutschen Illustrator*innen umgesetzt. In den Jahren zwischen 1913 und 1925 wurden zwei deutsche Künstlerinnen bekannt, die Hoffmanns Der Sandmann illustrierten. Über die beiden Künstlerinnen Gustel Königer und Trude Goldberg ist leider nur wenig bekannt. Es lässt sich jedoch feststellen, dass Männer in diesem Bereich deutlich häufiger vertreten sind.

 

Sind die Illustrationen typisch für den Expressionismus?

Die expressionistischen Künstler *innen neigten dazu, Übertreibungen und Verzerrungen zu bevorzugen. Die Künstler und Buchillustratoren des Expressionismus wiesen eine hohe Übereinstimmung in ihren Fähigkeiten und Stilen auf. In diesem Zusammenhang ist auch auf Ausgaben hinzuweisen, die von Künstlern wie Ernst Ludwig Kirchner, Oskar Kokoschka und Alfred Kubin illustriert wurden. In diesem Sinne kann postuliert werden, dass die expressionistischen Künstler*innen für die Illustrationen prädestiniert waren. Die Werke aller expressionistischen Illustrator*innen sind durch einen hohen Abstraktheitsgrad gekennzeichnet.

Viele Illustrationen sind eher nach der Blütezeit des bildkünstlerischen Expressionismus entstanden, warum?

Es lässt sich vermuten, dass die Krise der Weimarer Republik von den Verlagen als Gelegenheit genutzt wurde, um das Publikum in eine Fantasiewelt zu entführen. Zudem könnte Hoffmanns hundertster Todestag ein weiterer Grund für die intensive Auseinandersetzung sein.

Gibt es andere Autor*innen, die im vergleichbaren Maße im Expressionismus illustriert wurden?

Es gibt auch andere Autoren, die im Expressionismus illustriert wurden, allerdings nicht in dem Maße wie Hoffmann. Die Kinder- und Hausmärchen (1812) der Gebrüder Grimm wurden vielfach am Anfang des 20. Jahrhunderts illustriert. Auch Adelbert von Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814) wurde von namhaften Künstlern wie Emil Preetorius und Ernst Ludwig Kirchner illustriert.

Handelt es ich bei den Illustrationen besonders um Buchillustrationen und waren es mehr freie oder mehr Auftragsarbeiten?

Überwiegend waren es Buchillustrationen, die mit Hoffmanns Text zusammen erschienen sind. Alle Ausgaben waren Auftragsarbeiten. Es gab jedoch auch einen Künstler, Hugo Steiner-Prag, der Hoffmanns Werke aus eigenem Antrieb illustrierte. Einige seiner Illustrationen sind heute nicht mehr zugänglich.

Gibt es Verlage, die sich im besonderen Maße um künstlerische Ausgaben von Hoffmanns Werken verdient gemacht haben?

Der Kurt Wolff Verlag in Leipzig (Der goldene Topf, 1913) und der Georg Müller Verlag in München (Nachtstücke, 1913) waren die ersten deutschen Verlage, die Hoffmanns Texte illustriert herausgaben. Eine große Leistung erbrachte der Hans von Weber Verlag, in dem bis heute die meisten illustrierten Bücher erschienen sind, darunter Der Sandmann (1916) mit Ursteinzeichnungen von Gustel Königer und Der blonde Eckbert (1920) von Ludwig Tieck. Ein weiterer bedeutender Verlag ist der heute noch bestehende Ullstein Verlag.

Welche künstlerischen Techniken wurden besonders häufig verwendet?

Die meisten Illustrationen waren Federzeichnungen oder Kupferstiche; es gab keine Ausgabe von Der Sandmann mit Holzschnitten, obwohl diese damals üblich waren. In diesem Sinne unterscheiden sich Hoffmanns Illustrator*innen von anderen Expressionist*innen. Der abstrakte Charakter ihrer Bilder, verbindet die Künstler*innen miteinander. Statt einer wortgetreuen Illustration versuchten die Künstler*innen, die innere Welt des Protagonisten und seinen physischen Aufruhr zum Ausdruck zu bringen.

Gibt es Szenen des Sandmanns, die besonders häufig illustriert wurden?

Jeder Künstler und jede Künstlerin nehmen sich die Freiheit bei der Gestaltung der Szenen. Am häufigsten illustriert wurden die erste Begegnung von Coppelius und Nathanael im Labor des Elternhauses von Nathanael sowie das Weggehen von Coppola mit Olimpia in der zweiten Hälfte der Erzählung. Bemerkenswert ist auch, dass sich die Illustrator*innen in der Erzählung eher auf die Figuren Coppelius bzw. Coppola als auf die Figur des Nathanael konzentrieren. Fast die Hälfte der Illustrator*innen hat Nathanael überhaupt nicht dargestellt. Das Böse erweckt offenbar mehr Interesse als der hilflose Nathanael.

Welche Illustration hat Sie besonders beindruckend?

Besonders eindrucksvoll ist die Illustration von Hans Windisch aus dem Jahr 1924, die Coppelius surrealistisch im Labor darstellt. Diese Figur ähnelt dem Grafen Orlok aus dem Film „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens” von F. W. Murnau aus dem Jahr 1922, so dass eine Überschneidung von Text, Bild und Film zu erkennen ist.

Vielen Dank für das Interview!

 

Zum Buch

Sahib Kapoor
E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1816) und seine Darstellung in expressionistischen Buchillustrationen
Würzburg: Königshausen und Neumann
ISBN: 978-3-8260-8390-7
2024
Epistemata – Literaturwissenschaft 

Ebook (StabiKat-Link)

Zum Autor

Sahib Kapoor ist ein in Indien lehrender Literatur- und Kunsthistoriker. Er lehrt Literatur und Kunstgeschichte am Center of German Studies der Jawaharlal Nehru University. 2018 wurde er mit der Goldmedaille der University of Delhi ausgezeichnet. 2022 erhielt er das renommierte Exzellenzstipendium der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Er spezialisierte sich auf die deutsche Spätromantik und Kunstgeschichte und promovierte 2023 an der Jawaharlal Nehru University. Er sammelte umfangreiche Forschungserfahrung an verschiedenen ausländischen Universitäten und Institutionen, darunter die Universität Freiburg (Schweiz), die Universität Freiburg (Deutschland) und das Leo-Baeck-Institute (USA).

 

 

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