Von Steampunk über Graphic Novel zu Disney – Bericht über die Abschlusskonferenz zum Projekt E.T.A. Hoffmann Portal 2
Berlin, November 1819: Ein halbes Jahr nach dem Mord an August von Kotzebue durch den Heidelberger Studenten Sand arbeitet vor allem das Königreich Preußen hart an der Überwachung und Bekämpfung liberaler und nationaler Tendenzen. Zahlreiche Studenten stehen auch in Berlin unter dem Verdacht „revolutionärer Umtriebe“ und werden seit dem Vormonat durch die „Immediat-Untersuchungs-Kommission zur Ermittlung hochverräterischer Verbindungen“ befragt. Eines ihrer prominenten Mitglieder ist E.T.A. Hoffmann, der im November 1819 alle Hände voll damit zu tun hat, Studenten zu verhören und Gutachten zu schreiben, in denen er sich vehement für die Unbestechlichkeit der Justiz unter anderem im Falle des bekannten Turnvaters Jahn einsetzt – sehr zum Missfallen des Polizeidirektors Kamptz. Die langwierigen und anstrengenden Verhöre verlangen nach Ausgleich, also setzt sich Hoffmann nach getaner Arbeit ans Klavier und komponiert einen heute nicht mehr erhaltenen Nachtgesang. Bevor er tags darauf zur nächsten Vernehmung eilt, schaut er noch schnell in der Königlich Preußischen Kalender Deputation vorbei, denn dort erscheint diese Tage der Berlinische Taschenkalender auf das Jahr 1820 mit seiner Erzählung „Die Brautwahl“, einem Text mit reichlich Berliner Lokalkolorit und Figuren, die an reale Vorbilder wie Wilhelm Hensel und die Familie Mendelssohn erinnern. Am Abend bietet das Nationaltheater die nötige Erholung, doch auch hier bleibt E.T.A. Hoffmann produktiv, setzt sich nach der Aufführung in die Weinstube Lutter & Wegner und zeichnet aus seinem Gedächtnis eine Karikatur der hochschwangeren Schauspielerin Auguste Stich in ihrer Glanzrolle als Donna Diana, die er im Lokal aufhängen lässt, wo sie bis zum Zweiten Weltkrieg an den unermüdlichen malenden und musizierenden Dichterjuristen erinnert.
So ungefähr kann man sich Hoffmanns Leben im November 1819 vorstellen. Genau zweihundert Jahre später, im November 2019, werden die Akten der Immediat-Untersuchungs-Kommission digitalisiert und im E.T.A. Hoffmann Portal der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (SBB-PK) online gestellt. Interessierte können sich seitdem komfortabel selbst ein Bild von diesen und anderen juristischen Geschehnissen um E.T.A. Hoffmann machen – und zwar ohne einen persönlichen Besuch im Geheimen Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz (GStA), das die Originalakten bewahrt.
Die Digitalisierung der Akten ist Teil des dreijährigen Projekts E.T.A. Hoffmann Portal 2, das auf ein erstes einjähriges Projekt zum Aufbau der Infrastruktur und zur Entwicklung der ersten Portalinhalte folgte, und dessen erfolgreicher Abschluss nun am 28. November 2019 mit einer Konferenz in der Staatsbibliothek gefeiert wurde.
Dr. Ulrich Kober vom GStA erläuterte dem Publikum in seinem Tagungsbeitrag die Aufgaben dieses überwiegend historischen Archivs des Brandenburg-Preußischen Staates und stellte die insgesamt 19 Akten vor, in denen Schriftstücke von und über E.T.A. Hoffmann enthalten sind. Neben den Unterlagen der Immediat-Untersuchungskommission finden sich hier auch Entwurf und Reinschrift der Urkunde zur Bestallung Hoffmanns zum Regierungsrat im südpreußischen Posen von 1802 und Akten zur Beschlagnahmung seiner späten Erzählung „Meister Floh“ (1822), in der er den Polizeidirektor Kamptz verunglimpfend darstellt. Auch ein achtseitiger Probeabdruck und die zensierten Manuskriptseiten haben sich in den Akten erhalten.
Ziel des Projektes war es aber nicht nur, die juristische Karriere Hoffmanns zu beleuchten, sondern die ganze Vielfalt seiner Begabungen und Aktivitäten für Forschung und Kultur zu bewahren und zugänglich zu machen, wie sie sich beispielsweise auch im November 1819 zeigten und in unzähligen Rezeptionsformen weiterlebten. Im Rahmen des Projekts wurden deshalb alle rechtefreien Materialien von und über E.T.A. Hoffmann sowie zu seinen Einflüssen und seiner Rezeption aus dem Bestand der Staatsbibliothek und darüber hinaus digitalisiert. Dafür konnte neben dem GStA auch die Wienbibliothek für eine Kooperation gewonnen werden, die eine der drei erhaltenen Erstausgaben der erotischen Erzählung „Schwester Monika“ (1815) besitzt.
Längere Zeit wurde sie von der Forschung fälschlicherweise E.T.A. Hoffmann zugeschrieben. Prof. Dr. Markus Bernauer von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften untersucht das Werk im Rahmen seines Forschungsprojekts zum Libertinismus in der deutschen Literatur um 1800 und berichtete über seine Erkenntnisse zur Autorschaft, nach denen er eher ein Verfasserkollektiv aus dem böhmischen Raum vermutet, das im Stile Jean Pauls schreibt. Klare Vorbilder der augenscheinlich belesenen Verfasser lassen sich in der libertinen Literatur Frankreichs aus dem 18. Jahrhundert finden.
Etwa die Hälfte der insgesamt rund 2.500 geplanten Objekte ist inzwischen bereits in Hoffmann digital verfügbar, die zweite Hälfte folgt sukzessive in den nächsten Monaten. Neben Hoffmanns eigenen Werken wurden auch seine Lesestoffe aufgenommen, d.h. Werke und Autoren, von denen man weiß oder mit größerer Sicherheit annehmen kann, dass Hoffmann sie kannte und gelesen hat. Ergänzt wurden diese Materialien noch möglichst umfänglich um Verlagsproduktionen von Carl Friedrich Kunz und Julius Eduard Hitzig, zwei befreundeten Verlegern Hoffmanns, an deren Lektürestoffen er sich gerne bedient hat, sowie um alle wesentlichen Publikationen von Personen aus seinem Umfeld, darunter zum Beispiel Carl Wilhelm Salice-Contessa oder Karl August Varnhagen von Ense.
Einen weiteren Baustein bilden biografische Arbeiten und frühe Forschungsliteratur, zum Teil auch Werke bis zum Erscheinungsjahr 1965, wenn sie im Buchhandel vergriffen sind und entsprechende Lizenzen erworben werden konnten. Und schließlich wurde auch die literarische, künstlerische, musikalische und naturwissenschaftliche Rezeption berücksichtigt, so finden sich im E.T.A. Hoffmann Portal beispielsweise auch digitalisierte Werke von Guy de Maupassant, Edgar Allan Poe, Gustav Meyrink, Walter Scott, Charles Nodier, Nikolai Gogol, Heinrich von Kleist und Angela Carter.
Ein zweiter Schwerpunkt des Projekts war der Ausbau der Textbeiträge und interaktiven Elemente im Portal. Inzwischen zählen mehr als fünfzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu den ehrenamtlichen Autoren des Portals. Ihre einführenden Forschungsartikel zu unterschiedlichsten Themen werden besonders intensiv genutzt und tragen deshalb wesentlich zur Attraktivität des Webangebots bei. Im vergangenen Jahr bereicherten beispielsweise der Neurologe Roland Schiffter mit seinen Beiträgen zur romantischen Medizin und zu Hoffmanns Krankheit und die Literaturwissenschaftlerin Polly Dickson mit einem Artikel zur Hoffmann-Rezeption in Großbritannien das Portal. In Kooperation mit Cinegraph und mit freundlicher Unterstützung von Hans-Michael Bock konnte zudem eine umfassende Filmografie mit Daten zu rund fünfzig internationalen filmischen Adaptionen online gestellt werden.
Besonders vielfältig ist die moderne Hoffmann-Rezeption, denn E.T.A. Hoffmann erlebt eine ungebrochene internationale Aufmerksamkeit, die gerade in den letzten Jahren über verschiedene Kultur- und Wissenschaftsbereiche hinweg beobachtet werden kann. Einen sehr kleinen Ausschnitt dieser aktuellen Beschäftigung mit E.T.A. Hoffmann zeigten drei Konferenzbeiträge aus den Bereichen Comic, Oper und Film. Prof. Volker Schlecht von der University of Applied Sciences Europe stellte einige aktuelle Comicadaptionen von Hoffmanns Erzählungen vor und gab Einblicke in den assoziativen Entstehungsprozess seiner in Zusammenarbeit mit Alexandra Kardinar entstandenen Graphic Novel zu „Das Fräulein von Scuderi“. Unter dem Label Drushba Pankow erschaffen sie Illustrationen und Buchgestaltungen, die sich durch Verbindungen von analogen Zeichnungen und Computergrafiken auszeichnen. Hoffmannianer erkennen im unverwechselbaren Stil der beiden Künstler Verfremdungen und Groteskes, kurz: das Hoffmanneske.
Ähnlich viel Groteskes zeigte auch der Vortrag von Dr. Stefanie Junges von der Ruhr-Universität Bochum, die das musikalische Oeuvre der Berliner Rockband Coppelius analysierte. Nicht nur der Bandname, auch Auftritt und inhaltliche Motive sowie ganze Konzeptalben weisen ausdrücklich auf E.T.A. Hoffmann als Vorbild. Höhepunkt der konsequenten Beschäftigung mit Hoffmann ist die Steampunk-Oper Klein Zaches genannt Zinnober, die in Kooperation mit der Neuen Philharmonie Westfalen entstand und am 14. November 2014 im Musiktheater im Revier (MiR) in Gelsenkirchen uraufgeführt wurde. Zudem gab Junges einen kurzen Einblick in Robert Wilsons Inszenierung des Sandmanns, die aktuell am Schauspielhaus Düsseldorf zu sehen ist: Auch der Lichtkünstler Wilson schafft durch Ton-, Farb- und Lichtgestaltung und die Musik der britischen Rocksängerin Anna Calvi ein völlig neues Hoffmann-Erlebnis.
Für harmonischere Bilder sorgte schließlich Dr. Annett Werner-Burgmann in ihrem Beitrag zu aktuellen Filmadaptionen von „Nussknacker und Mausekönig“. Die sehr unterschiedlichen Umsetzungen eines Barbie-Animationsfilms, einer ARD-Fernsehproduktion und einer Disney-Kinobearbeitung zeigten einerseits die Bandbreite der Interpretationsmöglichkeiten, andererseits die verbindenden Elemente einer zeitgemäßen Adaption: So ist die Protagonistin Marie/Clara in allen drei Bearbeitungen kein siebenjähriges Mädchen mehr, das auf ihre Rolle als umsorgende Frau und Mutter vorbereitet wird, sondern eine selbstbewusste junge Erwachsene ohne ein festgelegtes Rollenbild. Sie soll sich daran messen, was eine anständige „Person“ und eben nicht eine anständige „Frau“ ist, einige männliche Figuren werden durch weibliche Charaktere ersetzt und die Besetzung erfolgt international mit Schauspielern unterschiedlicher Hautfarben. Freilich folgen die Bearbeitungen nur lose der Vorlage, die häufig eher Tschaikowskis Ballett als Hoffmanns Erzählung ist. Trotzdem zeigen die vorgestellten Filme die steigende Attraktivität des Hoffmannschen Stoffs.
Dass diese Attraktivität bis in die Schulbildung reicht, zeigt die regelmäßige Wahl von Werken E.T.A. Hoffmanns zum Abiturprüfungsstoff und zur Lektüreempfehlung in der Mittelstufe. Um dieser Nachfrage mit einem passenden Angebot zu begegnen, entwickelte das Team E.T.A. Hoffmann Portal im Rahmen des Projekts in Kooperation mit dem Albert Einstein-Gymnasium Berlin-Neukölln drei neue Lehreinheiten zur Erzählung „Der Sandmann“. So wurden Unterrichtsbausteine für die Themenkomplexe „Augenmotiv“, „Automatenmotiv“ und „Sandmann-Ausgaben“ erstellt, die entweder als komplette Lehreinheiten in jeweils einer Doppelstunde umgesetzt oder als einzelne Module in den Unterricht integriert werden können. Je nach technischer Ausstattung der Klasse können die Lehreinheiten unter Einbeziehung des E.T.A. Hoffmann Portals am Smartboard/per Beamer oder an einzelnen Schüler-PCs durchgeführt werden oder auch ganz ohne technische Unterstützung. Für die komfortable Offline-Nutzung stehen übersichtliche Arbeitsblätter zum Download bereit. Mit diesem Angebot soll einerseits ausgelotet werden, wie bibliothekarische Sammlungen in den schulischen Unterricht integriert und somit schon früh eine Bindung zur Institution Bibliothek geschaffen werden können, und andererseits die auch bei Schülern bereits vorherrschende digitale Informationsbeschaffung sinnvoll im Unterricht angewendet werden, um Lehrkräfte und Lernende an die Arbeit mit qualitativ hochwertigen digitalen Inhalten im Internet heranzuführen.
In Kooperationen mit der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin hat das Projektteam im Sommersemester 2019 zudem zwei Seminare angeboten, um den Studierenden zum einen den Künstler E.T.A. Hoffmann und seine Rezeption bzw. das romantische Berlin und die romantischen Wissenschaften näherzubringen, und sie zum anderen an das recht neue Format von Onlinepublikationen in wissenschaftlichen Kulturportalen heranzuführen. So lernten die Studierenden, wie man Texte fürs Web formuliert und gestaltet, welche speziellen Anforderungen wie Visualisierungen, Lesehilfen und Verlinkungen zu berücksichtigen sind und wie man mit der entsprechenden Software umgeht. Die besten Beiträge der Studierenden wurden inzwischen im E.T.A. Hoffmann Portal veröffentlicht.
Folgeprojekt E.T.A. Hoffmann Portal 3 gestartet
Mit dem Ende des Jahres 2019 endete nun auch offiziell das Projekt E.T.A. Hoffmann Portal 2. Aber dieses Ende ist zugleich ein neuer Anfang: Im Januar 2020 startete bereits ein drittes, wiederum dreijähriges Projekt mit zwei ganz unterschiedlichen Schwerpunkten: der Erstellung einer Online-Bibliografie und der Organisation einer großen Ausstellung zum 200. Todestag E.T.A. Hoffmanns im Jahr 2022. Aktuelle Informationen zu diesem Projekt erhalten Sie auf etahoffmann.net.
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