Wie der Untergang der Titanic mit E.T.A. Hoffmann zusammenhängt
Die Advents- und Weihnachtszeit ist traditionell die Zeit des Geschichtenerzählens. Auch heute noch? Vielleicht nicht mehr so ganz? Wir nehmen den Faden jedenfalls auf und erzählen Ihnen heute eine Geschichte – eine wahre Geschichte, die spannende Geschichte eines Buches. Denn im Projekt E.T.A. Hoffmann-Portal arbeiten wir gerade daran, die Bücher des großen Geschichtenerzählers Hoffmann digital zu präsentieren. In vielen Bänden können Sie in Zukunft online blättern, sich in die Illustrationen unterschiedlichster Künstlerinnen und Künstler vertiefen, die Entstehungsgeschichte des Werkes oder das individuelle Schicksal eines einzelnen Exemplars im Laufe der Zeit nachverfolgen, ehemalige Besitzerinnen und Besitzer kennenlernen, Details der Einbände erkunden und vieles mehr…
Darauf geben wir Ihnen heute einen kleinen Vorgeschmack und erzählen die Geschichte eines besonderen Kleinods aus unserer Sammlung Künstlerischer Drucke: Es ist ein einzigartiges Sonderexemplar der Nachtstücke, aus einer Vorzugsausgabe in Ganzleder, die 1913 im Münchner Verlag Georg Müller erschienen ist.
Von der Nachtseite der menschlichen Seele
Die Geschichte beginnt mit der Entstehung der Texte. In den Jahren 1815-1817 arbeitete E.T.A. Hoffmann als Richter in Berlin. Der verantwortungsvolle Posten sicherte seinen Lebensunterhalt, bedeutete aber auch eine große Belastung, von der er sich des Nachts befreite, indem er seiner literarischen Phantasie freien Lauf ließ – möglicherweise, und nicht ganz unwahrscheinlich, unterstützt durch ausgiebigen Opiumgenuss. Anregungen für seine phantastischen Erzählungen und den sprechenden Titel Nachtstücke hatte Hoffmann dabei in Fülle vor Augen. So bezeichnet der Begriff in der Malerei Gemälde mit nächtlichen, schauerhaften Szenen, die nur spärlich durch Fackellicht beleuchtet werden. Die einschlägigen Werke von Künstlern wie Pieter Breughel dem Jüngeren oder Antonio Correggio kannte und liebte Hoffmann sehr. Auch die aus England bekannten Gothic Novels inspirierten ihn zu seiner unvergleichlichen Schauerromantik.
Ein kleines Juwel der Druckkunst
So verwundert es nicht, dass die Meister der Druckkunst zahlreich versuchen, Hoffmanns Geschichten in ihren Ausgaben weiterzuerzählen, indem sie die Atmosphäre der Texte auf die Materialität des Buches übertragen. Der nummerierte Nachtstücke-Band Nr. 45, den wir Ihnen hier präsentieren, wurde beispielsweise erschaffen als eines von nur 100 Exemplaren einer Liebhaberausgabe, die auf edles holländisches Bütten gedruckt und in Ganzleder gebunden wurde. Als Schrift setzte die Spamer’sche Druckerei in Leipzig ihre Hausfraktur ein – eine gebrochene Schrift, die den Charakter des Unheimlichen auf eindrückliche Weise verkörpert. Für die Buchillustration wurde kein geringerer als der österreichische Grafiker, Schriftsteller und Buchillustrator Alfred Kubin verpflichtet, dessen Zeichenstil Christoph Brockhaus als „von geheimen Kräften getrieben“ und als „märchenhaft, phantastisch und grotesk“ beschreibt, der „den grenzenlosen Strom psychischen Erlebens“ auffängt (Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 158-160). Wer könnte Hoffmanns Geschichten also besser weitererzählen als Alfred Kubin? So schuf er denn auch 48 Zeichnungen, die als teils ganzseitige Illustrationen in die Ausgabe aufgenommen wurden.
Statt Futura ein Stilleben mit Totenschädel und brennender Kerze – Die Buchausstattung von Paul Renner
Auch der unikale Einband nimmt die unheimliche Atmosphäre aus Hoffmanns phantastischen Erzählungen auf. Das beeindruckende Stück schöner Schauerlichkeit entstand in der bedeutenden Leipziger Buchbinderei Hübel und Denck. In ihrem Auftrag schuf der Typograph Paul Renner die Buchausstattung, zu der vermutlich auch die individuelle Gestaltung dieses Sondereinbandes gezählt werden kann, die ganz im Gegensatz zu dem Schriftentwurf steht, für den Renner 1927 berühmt wurde: die Antiqua-Schrift Futura, die sich durch klare, gleichmäßige Formen auszeichnet. Der Einband dagegen erzählt in Bildern von den Geschichten Hoffmanns: Die Leserinnen und Leser können das leichte Unbehagen bereits spüren, das die traumatischen Szenen bei der Lektüre hervorrufen werden. Ein Totenschädel greift das alte Vanitasmotiv auf und spielt auf die Vergänglichkeit des Lebens an, oder ist es eine Maske, die auf Identitätsprobleme und den Wandel zwischen Traum und Wirklichkeit hindeutet? Der nächtlich dunkle Hintergrund wird knapp von einer kaum dem Wind widerstehenden Kerze beleuchtet, deren Rauchschwaden Gedanken an den möglichen Opiumrausch des Autors hervorrufen. Die Natur überdauert mit grell-roten Blüten und rankenden Pflanzen. Ganz individuelle Merkmale unseres Exemplars Nr. 45 sind zudem auch der edle textile Vorsatz aus geometrisch-ornamentalen Mustern in Silber und Schwarz sowie der passend verzierte Schnitt, die die Komposition des Einbandes abrunden.
Die Titanic kommt ins Spiel
Das Gefühl der Vergänglichkeit bleibt, wenn man den Band Nr. 45 aufschlägt und das Exlibris der ehemaligen Besitzer betrachtet: Baron Curt von Faber du Faur und seine 14 Jahre ältere Ehefrau Emma erwarben dieses Exemplar. Der Baron war Barockforscher, Mitbegründer des traditionsreichen Auktionshauses für Kunst und antiquarische Bücher Karl & Faber in München und Bibliothekar und Germanist an der Yale University Library – so wundert man sich ebenso wenig über sein Interesse an E.T.A. Hoffmann wie über das liebevoll gestaltete und sorgfältig eingeklebte Exlibris mit dem Familienwappen der Faber du Faur. Mit seiner Gattin Emma Faber du Faur begegnen wir dagegen einer ungewöhnlichen Biographie – spannend nicht nur wegen ihrer ereignisreichen Familiengeschichte (die geborene New Yorkerin Emma Mock war nicht nur die verheiratete Frau Faber du Faur, sondern auch die reiche Witwe des 44 Jahre älteren Rufus Blake, die geschiedene Ehefrau des Hamburger Militärhauptmanns Paul Schabert und Mutter zweier Kinder, die auf den besten Schiffen der Zeit zwischen Europa und den USA hin- und herreiste), sondern weil sie als eine der wenigen Überlebenden der RMS Titanic in die Geschichte einging. Ihre Aussagen trugen dazu bei, den Hergang von Untergang und Rettung in der Aprilnacht 1912 ein Stück weiter nachzuvollziehen. Unser schönes Exemplar Nr. 45 wurde zwar erst 1913 gedruckt und gelangte vermutlich erst irgendwann nach der Hochzeit mit Baron von Faber du Faur im Jahr 1928 in den Besitz des Ehepaars (ein genaues Datum ist nicht überliefert), doch ist es nun unlösbar mit der Geschichte des Untergangs der Titanic verbunden.
Schließlich erwarb die Staatsbibliothek zu Berlin über eine Auktion den außergewöhnlichen Band für ihre Sammlung Künstlerischer Drucke. Damit endet unsere kleine Geschichte, obwohl die Geschichte des Buches noch lange nicht ihren Abschluss gefunden hat und vielleicht eines Tages weitererzählt wird…
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