Ein Gastbeitrag von Dr. Elke Riemer-Buddecke
In Sofia, den Verlagen Cultural Perspectives Foundation und Enthusiast erschien 2019 die erste bulgarische Übersetzung von E.T.A. Hoffmanns Das fremde Kind mit farbigen Digitalillustrationen von Katina Vasileva Peeva (*1980), übersetzt von Prof. Boris Dimitrov Parashkevov, einem Germanisten und Linguisten. Das faszinierend gestaltete Buch (Design: Svoboda Tzekova), ein veritables Highlight der jüngsten Hoffmann-Illustration, ist Teil der Reihe Musik im Buch und enthält einen Zugangscode über die Webseite des Verlages zum Hörbuch, das neben der Lesung von Samuel Finzi auch eine Komposition von Ivan Shopov zu Hoffmanns Erzählungen von Jacques Offenbach (1881 uraufgeführt, hier Ausschnitt aus der Barcarolle, 3.Akt) sowie Musik von Georgi Strezov und Simeon Eduard nach Motiven von E.T.A. Hoffmanns Harfen-Quintett c-moll enthält. Die Sängerin, die auch als Mitherausgeberin fungiert, ist Ina Kancheva.[1]
Das künstlerisch anspruchsvolle Bilder- und Hörbuch mit dem Format 25,5 x 22,1 cm, das in einer Auflage von 2000 Exemplaren gedruckt wurde, ist sowohl für Kinder als auch für Erwachsene gedacht, da es als bibliophiles ‚Kunstwerk‘ angesehen werden kann und die Illustrationen als selbstständige Interpretation den Dialog mit dem dichterischen Text suchen. Das Buch enthält siebzehn ganz- und zwei doppelseitige digitale Illustrationen 2D von 2019 in den Maßen 24,8 x 21 cm u. 24,8 x 42 cm.[2] Dazu fünfzehn dekorative Majuskeln am Anfang jedes Kapitels, 4 Vignetten an manchem Kapitelende (Tondos), 3 kleine Randzeichnungen (Fliege, Brezel, Vogel). Ein Frontispiz mit dem idealisierten, verjüngten Porträt von E.T.A. Hoffmann in längsovaler Rahmung nach dessen von Ludwig Buchhorn in Kupfer gestochenem Selbstbildnis befindet sich vorn auf der achten Seite vor dem Vorwort zum Dichter. Ferner ist der vordere und hintere Bucheinband mit Ausschnitten von der ganzseitigen Illustration zum 3. Kapitel (Abb.1) geschmückt. Diese Illustration ist durch ihre besondere Symbolik und Nähe zu Hieronymus Bosch, seinem Weltgerichtstriptychon von 1504-08, sowie Pieter Brueghel dem Älteren (1525/1530-1569) und dessen Höllenbildern[3] wie der Höllensturz von 1563 und der Dullen Griet von 1562 die bedeutungsreichste von Katina Peevas Illustrationen (Abb.1) und wurde deshalb wohl zum Coverbild gewählt.
Abb. 1 Katina Peeva: Das Fremde Kind, 3. Kapitel: Wie es weiter bei dem vornehmen Besuche herging. Digitalillustration von 2019, 24,8 x 21 cm
Beeindruckende Qualität der Illustrationen
Katina Peeva[4] ist mit dieser Buchillustration von 2019 ein künstlerischer Wurf von beeindruckender Qualität gelungen. Ihre Illustrationen werden der Vielschichtigkeit der dichterischen Vorlage in besonderer Weise gerecht, sie spiegeln, vor allem durch die Hoffmann entsprechende raffinierte Technik des Zitierens anderer Werke, den konsequenten Einsatz der Möglichkeiten der digitalen Kunst, die durchgehende antinomische Grundstruktur (Segebrecht) der Erzählung wider, machen auf Hoffmanns spezifische Ironie aufmerksam, auf die Duplizität oder Vielfalt der möglichen Wahrnehmungsebenen. Denn in diesem Kindermärchen für Groß und Klein gibt es trotz scheinbar klischeehafter Vereinfachung, z.B. der Idyllisierung des Landlebens, des Schwarz-Weiß-Kontrastes zwischen Land- und Stadtleben, zwischen erfüllter Naturkindheit und seelenloser Bildungsdressur, trotz aller Phantastik und Märchenhaftigkeit wie der Verwandlung des Magister Tinte in eine scheußliche Fliege, der Erscheinung des fremden Kindes, der Stimmen der Natur und des weggeworfenen Spielzeugs etc. das Teufelchen auf der Schulter Hoffmanns und damit die für ihn bezeichnende ironische Brechung und dieser entspricht Peeva in ganz besonderer Weise.
Überzeichnete und deshalb fragile Idylle zu Märchenbeginn
Das 1.Kapitel des Märchens, das wie ein Volksmärchen mit Es war einmal ein Edelmann… beginnt, zeichnet eine Idylle mit vielen Diminutiven und Euphemismen, dass dieser Edelmann … Herr Thaddäus von Brakel hieß und in dem kleinen Dörfchen Brakelheim wohnte … in einem niedrigen Häuschen mit wenigen kleinen Fenstern, umgeben von einem Wäldchen … mit schönen schlanken Birken mit ihren belaubten Ästen, wie mit zum Gruß ausgestreckten Armen uns freundlich zugewinkt, hatten sie im frohen Rauschen und Säuseln uns zugewispert: Willkommen, willkommen unter uns! So war es nun vollends bei dem Hause, als riefen holde Stimmen aus den spiegelhellen Fenstern … süßtönend heraus: Komm doch nur herein, du lieber müder Wanderer, hier ist es gar hübsch und gastlich! Das bestätigten die Nest hinein Nest hinaus lustig zwitschernden Schwalben und der alte stattliche Storch schaute ernst und klug vom Rauchfange herab …[5] Einen solchen idyllischen Schutzraum, der ‚himmlische‘ Geborgenheit spiegelt, malte Katina Peeva mit ihrer Illustration zum 1. Kapitel:
Abb. 2 Katina Peeva: Das fremde Kind. 1. Kapitel: Der Herr von Brakel auf Brakelheim, Digitalillustration von 2019, 24,8 x 21 cm
Künstlerische Zitate und Einflüsse in Peevas Digitalillustrationen
Der Herr von Brakel auf Brakelheim (Abb. 2). Sie ‚zitierte‘, verfremdete und kombinierte dabei Werke berühmter Künstler, vor allem die des belgischen Surrealisten René Magritte (1898-1967), seine Verfremdungs- und Kombinationsbilder mit geheimnisvollem Durchblick, wie z.B. Le double Secret von 1927, The Great Familiy von 1963, A friend of order von 1964, L’Heureux Donateur von 1966 sowie Decalcomanie von 1966, und zugleich die Dschungelbilder Henri Rousseaus (1844-1910), Meisterwerke der Naiven Malerei. Auch der Einfluss kroatischer sowie serbischer Vertreter der Naiven Malerei wie Ivan Stefanek (*1942), Milan Generalić (1950-2015) und Ivan Generalić (1914-1992) ist deutlich zu erkennen. Ähnlich Magritte malte Peeva einen kopflosen männlichen Oberkörper mit dunkelbraunem Sakko, dessen Brust den Blick auf eine Landschaft mit Haus freigibt. Sowohl im Brustbild als auch hinter der männlichen Gestalt breitet sich der Himmel mit Schäfchenwolken aus. Das Fachwerkhaus ist das Häuschen des Thaddäus von Brakel und das Dörfchen Brakelheim ist eine verträumte Paradieslandschaft, gemalt in dunklen Farben der Braun-Grün-Skala im narrativen, reihenden Stil der naiven Malerei. Selbst der Storch, der ernst und klug vom Rauchfange herabschaut, fehlt nicht. Die umgebende männliche Gestalt, in deren Oberkörper diese ländliche Idylle eingeschrieben ist, könnte der Edelmann Thaddäus sein als Garant für diese geschützte, intakte Welt (Gegenentwurf zur Realität wie für die naive Malerei typisch) oder ein Symbol der Geborgenheit, in der Familie von Brakel lebt und ihre Kinder aufwachsen. Die fremdartigen Kakteen und Pflanzen und die Tiere im Vordergrund, die an Rousseaus Dschungelbilder erinnern, unterstreichen das Verträumte dieser Welt mit ihrer paradiesischen Harmonie, die nicht von dieser Welt ist und bald verloren gehen wird. Auch das werden Peevas Illustrationen eindringlich widerspiegeln.
Abb. 3 Katina Peeva: Das fremde Kind, 2. Kapitel: Der vornehme Besuch, Digitalillustration von 2019
Illustration zum ‚vornehmen Besuch aus der Stadt‘
Komisch und unheimlich zugleich wirkt der vornehme Besuch der Familie des Grafen Cyprianus von Brakel bei Peeva (Abb. 3). Ihre Illustration folgt zwar Hoffmanns Beschreibung bis ins Detail, verändert jedoch Wesentliches. Graf Cyprianus, dessen weiter Pelerinenmantel Frau und Kinder dominant umschließt, ist textentsprechend ein großer hagerer Mann mit einem großen silbernen Stern …auf der Brust, seine Frau eine kleine dicke Dame, Sohn Herrmann trägt lange Pumphosen und ein Jäckchen von scharlachrotem Tuch … einen kleinen Säbel an der Seite, auf dem Kopf …eine seltsame rote Mütze mit einer weißen Feder und Tochter Adelgundchen …ein weißes Kleidchen…mit erschrecklich viel Bändern und Spitzen …ihre Haare [waren] ganz seltsam in Zöpfe geflochten und spitz in die Höhe heraufgewunden, oben funkelte aber ein blankes Krönchen, die Kutsche im Hintergrund ist blank und mit goldenen Zierraten reich geschmückt [6], aber Peeva verdunkelte die eigentlich bei heller und freundlicher Sonne sich abspielende Szene zu einem nahezu nächtlichen Geschehen: Fledermäuse hängen von Bäumen herab, der Himmel ist ein Abendhimmel mit bedrohlichen Wolken und alle Familienmitglieder haben schläfrige, blöde Glubschaugen[7] und wirken in ihrer absurden Kostümierung steif und unfrei wie Automaten, wie Gefangene ihrer Geltungssucht und Repräsentanten einer sich überlegen fühlenden Gesellschaftsschicht, die rücksichtslos in die ländliche Idylle der anderen Brakels einbricht. Deren Welt wird durch Pflanzen an den Bildrändern, gemalt im Stil der naiven Malerei, symbolisiert. Der Auftritt der Grafenfamilie bedeute Unheil und Böses, so die Botschaft Peevas.
Überforderung von Kinderseelen durch Wissensballast
Dass dieses Untergangsszenarien im Stil von Hieronymus Bosch und Pieter Brueghel evozieren kann, zeigt die zentrale Illustration zum 3. Kapitel (Coverbild!): Wie es weiter bei dem vornehmen Besuche herging (Abb. 1). Ganz unten am Rand tauchen wie Untergehende in einer heillos chaotischen, ja höllischen Welt die Köpfe der bedauernswerten Grafenkinder Hermann und Adelgund auf, bedrängt von fremdartigen, teils exotischen Zwitterwesen in irrealen Größenverhältnissen, von Meerestieren, gefräßigen Raubtieren mit offenen Mäulern. Fressen und Gefressen-Werden als Gesetz solcher unheilvollen Welten. Bosch und Brueghel lieferten die Vorlagen. Konkret illustriert wird eigentlich das, was Herrmann und Adelgund auf Knopfdruck als sinnlos angelerntes Wissen reproduzieren:
Da war von vielen Städten, Flüssen und Bergen die Rede, die viele tausend Meilen ins Land hinein liegen sollten und die seltsamsten Namen trugen. Eben so wußten beide genau zu beschreiben, wie die Tiere aussähen die in wilden Gegenden der entferntesten Himmelsstriche wohnen sollten …Herrmann beschrieb ganz genau wie es vor dreihundert Jahren in einer großen Schlacht zugegangen und wußte alle Generale die dabei zugegen gewesen mit Namen zu nennen. Zuletzt sprach Adelgunde sogar von den Sternen und behauptete, am Himmel säßen allerlei seltsame Tiere und Figuren. Dem Felix wurde dabei ganz Angst und bange, er näherte sich der Frau von Brakel und fragte leise ins Ohr: Ach, Mama! liebe Mama! Was ist denn das Alles was die dort schwatzen und plappern? [8]
Felix reagiert auf das Schwatzen und Plappern der dressierten Grafenkinder mit gesundem Menschenverstand, während sich seine Eltern blenden lassen. Dass Herrmann und Adelgundchen mit so viel unverdautem Wissensballast in ihren Köpfen bedauernswerte Kreaturen sind und als Kinder darin untergehen, spürt nicht nur Felix, dem angst und bange wird. Das soll auch Peevas ‚Höllenbild‘ vermitteln, denn es nimmt Hoffmanns kulturkritischen Ansatz auf, seine unverkennbare Abrechnung mit der Aufklärungsepoche.
Wie fern von kindlicher Seele und Auffassungsbereitschaft, ja als feindlicher Übergriff zu werten aufoktroyiertes Wissen sein kann, demonstriert eindringlich Peevas Illustration (Abb. 2) zum Kapitel: Wie der Hofmeister angekommen war und die Kinder sich vor ihm fürchteten. Übermächtig und körperlich aufdringlich türmt sich Magister Tinte hinter den Kindern auf Abb. 4).[9]
Abb. 4 Katina Peeva: Das fremde Kind. Kapitel: Wieder der Hofmeister angekommen war und die Kinder sich vor ihm fürchteten, Digitalillustration von 2019, 25 x 21 cm
Wie von Hoffmann beschrieben, ist er eine abscheuliche Missgestalt mit langem Rüssel als Nase, schrecklichen Glubschaugen, dicken Backen, halslosem viereckigen Kopf auf kugelrundem Körper und spinnenhaften Fingern. Die Kinder sind seine Opfer, er bewacht sie auf engem Raum vor Fenstern, die in die schöne Natur und damit in die Freiheit locken. Felix‘ sehnsuchtsvollem Blick ist anzusehen, dass er in den Wald fliehen will, während Christlieb sich scheinbar fügt: Ach! Nun war an kein in den Wald laufen mehr zu denken! – Statt dessen mußten die Kinder beinahe den ganzen Tag zwischen den vier Wänden sitzen und dem Magister Tinte Dinge nachplappern, die sie nicht verstanden. Es war ein wahres Herzeleid!- Mit welchen sehnsuchtsvollen Blicken schauten sie nach dem Walde …[10] Hosemann, Borutscheff, Zwerger, C. Hoffmann, Goltz, Ludwig – alle Illustratoren ließen es sich nicht nehmen, Magister Tinte als Bösewicht, scheußliche Missgestalt und Fliege textentsprechend darzustellen. Katina Peevas Magister Tinte ist jedoch nahezu monströs: ein deformiertes, riesiges Ungeheuer, das die Kinder bedrängt und bewacht, selbst den Blick durch das Fenster versperrt. Aber er bleibt ein Mensch, wird in keiner ihrer Illustrationen zur Fliege. Hat sie diese Verwandlung als Verharmlosung empfunden? Wollte sie, E.T.A. Hoffmanns Kindermärchen in diesem Sinne verstehend, auf falsche Erzieher als Gefahr und Bedrohung für Kinderseelen hinweisen?
Peevas Hang zu düsteren Szenarien, den ihre überwiegend in Braun (Umbra, Walnuss, Kupferbraun, Ocker) und Grün (gebrannte grüne Erde, Moos, Grasgrün, Braungrün, Flaschengrün, Olivgrün) gehaltenen Digitalillustrationen zeigen, wird besonders deutlich in Arbeiten, die phantastischen, surrealen oder unheimlichen Szenen der dichterischen Vorlage gelten und in denen sie überwiegend surrealistisch arbeitet wie bei der Illustration zum 8. Kapitel: Was der Herr von Brakel und die Frau von Brakel zu dem fremden Kinde sagten, und was sich weiter mit demselben begab (Abb. 5).
Abb. 5 Katina Peeva: Das fremde Kind. 8. Kapitel, Was der Herr von Brakel und die Frau von Brakel zu dem fremden Kinde sagten, und was sich weiter mit demselben begab Digitalillustration von 2019, doppelseitig
Horrorerlebnisse im Wald
In dieser doppelseitigen, besonders interessanten Illustration verwandeln sich die Bäume, Wiesen, Waldtiere und Waldströme in menschliche Gesichter und die Natur wird anthropomorphisiert. Peeva verbildlicht mit dieser sowohl surrealistischen als auch naiven Illustration das Erlebnis der Kinder Felix und Christlieb, dass die Natur unter dem Einfluss des fremden Kindes lebendig wird und zu den Kindern ‚spricht‘.
Die Illustration zu dem Kapitel Was sich weiter im Walde begab, nachdem der Magister Tinte fortgejagt worden (Abb. 6), ein bevorzugtes Illustrationsobjekt auch anderer Künstler, ist ebenfalls surreal. Felix und Christlieb geraten nach der glücklichen Vertreibung des Magister Tinte aus dem Elternhaus mittels Fliegenklatsche auf der Suche nach dem fremden Kind im Wald in ein schreckliches Gewitter:
Bald türmte sich ein schwarzes Gewölk auf, der Sturm heute, der Donner begann in der Ferne zürnend zu murmeln, die hohen Tannen dröhnten und krachten … Es wurde finsterer und
zürnend zu murmeln, die hohen Tannen dröhnten und krachten … Es wurde finsterer und finsterer, dicke Regentropfen fielen herab und Blitze fuhren zischend hin und her! – Die Kinder standen an einem dicken dichten Gestrüpp …[11]
Abb. 6 Katina Peeva: Das fremde Kind. Kapitel: Was sich weiter im Walde begab, nachdem der Magister Tinte fortgejagt worden. Digitalillustration von 2019, doppelseitig: 25 x 42 cm
Dieses beängstigende Naturschauspiel ist aber nur der Auftakt zu Schlimmeren. Hoffmann lässt hier Unheimliches und Phantastisches geschehen: Das Spielzeug aus der Stadt, das die Kinder Felix und Christlieb im Wald und in den Teich weggeworfen haben, entwickelt aus dem Gestrüpp heraus ein unheimliches Leben, starrt die Kinder mit toten Augen an und beschimpft sie krächzend mit menschlicher Stimme. Die Kinder laufen zwar weg, aber am Ufer des großen Teiches erhebt sich die von Felix hineingeworfene große Puppe aus dem Schilf und quäkt … mit häßlicher Stimme, bespritzt sogar die Kinder aus Rache mit ganzen Strömen Wasser, als wollte sie diese ertränken. Alle erweisen sich als gehorsame Zöglinge des Herrn Magister Tinte[12] und es bleibt dem Leser überlassen, ob er diesen unheimlichen Spuk – Felix konnte diesen entsetzlichen Spuk nicht vertragen, die arme Christlieb war halb tot…[13]– als reine Halluzination der geängstigten Kinder wertet oder als reale Präsens des Bösen und Unheimlichen in einer fragilen und bedrohten Welt.
Peevas Darstellung suggeriert letzteres. Sie erinnert, vor allem durch die Farbwahl und angesichts der verkrüppelten, abgestorbenen Bäume, an Caspar David Friedrichs (1774-1840) düsteres Landschaftsgemälde Abtei im Eichwald von 1809/10 und seine Winter- und Nachtgemälde, wahre Tragödien der Landschaft und nicht selten mit dem Todesthema verbunden. Statt der Abteiruine sind es bei Peeva die unheimlichen Gesichter des weggeworfenen Spielzeugs, die aus dem nächtlichen Wald und Gestrüpp des Teiches auftauchen: die des Harfen- und Jägersmannes mit der Flinte, der großen Puppe mit ihren Glotzaugen, dem sprechenden Mund und Rissen im Porzellangesicht, ferner unheimliche Tiere mit denselben starrenden Glasaugen: ein Krokodil, ein Waldkauz, ein Uhu und eine Katze. Selbst der Mond hat ein grimmiges Gesicht mit Glasaugen.
Scheinbar versöhnliches Märchenende
Peeva ‚erlöst‘ den Betrachter zwar mit einem im Stil der kroatischen Naiven (Ivan Stefanek z.B.) gemalten Schlussbild (Abb. 7), das Felix und Christlieb nach der wundersamen Tröstung durch das fremde Kind vor dem Waldstrom und dem süßduftenden Laub zeigt und entspricht damit auch dem eher versöhnlichen Märchenende, das Hoffmann wählte: Sie wurden von dem Verwandten freundlich aufgenommen, dann kam es wie das fremde Kind verheißen. Alles was Felix und Christlieb unternahmen, geriet so überaus wohl, daß sie samt ihrer Mutter froh und glücklich wurden…[14]
Abb. 7 Katina Peeva: Das fremde Kind, letztes Kapitel: Beschluß, Digitalillustration von 2019
Inwieweit Hoffmann selbst solch eine ‚Reparatur‘ der ins seinen Augen nur mit Ironie zu ertragenden disharmonischen Welt für möglich hielt, sei dahingestellt. Er wollte aber ein Kindermärchen schreiben, das frömmer, kindlicher [15] ist als Nussknacker und Mausekönig und insofern ist der Schluss des Kindermärchens Das fremde Kind als versöhnlich zu verstehen. Peeva entspricht ihm hierin, aber die Mehrzahl ihrer digitalen Illustrationen vermittelt eine verstörende Weltsicht – und folgt Hoffmann weitgehend. Etliche ihrer Illustrationen sind tendenziell sogar ‚dunkler‘ als die dichterische Vorlage und fügen noch manches Beunruhigende hinzu, ohne jedoch den Charakter dieses ‚Kindermärchens‘ aus den Augen zu verlieren. Sie sind Resultat einer intensiven Auseinandersetzung mit E.T.A. Hoffmann und künstlerisch beeindruckende Deutungen.
Die Textgestaltung inkl. Vergabe der Zwischenüberschriften erfolgte durch das E.T.A. Hoffmann-Projektteam.
Anmerkungen
[1] Die in Sofia geborene Sängerin Ina Kancheva sang schon als Sechsjährige im Kinderchor des bulgarischen Nationalradios und Fernsehens und tourte mit diesem als Solistin und Balletttänzerin um die Welt. Nach ihrem Studium an der Staatlichen Musikakademie Sofia (Musik und Drama, Operngesang) erhielt sie mehrere Stipendien für die Ausbildung an großen Opernhäusern der Welt: das Europäische Opernzentrum Manchester, die Fundation Arena di Verona, de Accademia Chiggiani in Siena und das Placido Domingo Center of Perfection in Valencia. Sie hat an Meisterkursen von Irina Gavrilovici, Montserrat Caballé (Sie haben z.B. 1999 in Sofia zusammen in einem Konzert das Duo des fleurs aus der Oper Lakmé von Léo Delibes gesungen), Raina Kabaivanska, Leo Nucci und Renato Bruson teilgenommen und gewann viele internationale Preise. Von 2006-2011 war sie Ensemblemitglied der Staatsoper Stuttgart, brillierte dort und in anderen großen Opernhäusern des In-und Auslands in verschiedenen Hauptrollen (Carmen, La Traviata, Figaro, Zauberflöte, La Bohème, Don Giovanni, Le Comte Ory, Lucio Silla etc.). E.T.A. Hoffmanns Das fremde Kind ist das Debütbuch der Künstlerin, die auch als Gastdozentin und Assistenzprofessorin an der Nationalen Akademie für Theater und Filmkunst in Sofia arbeitet und aktuell in Berlin lebt. Sie arbeitet mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin zusammen (z.B. Kammeroper Madame Landru von 1962 von Roberto Hazon in der Rolle der Madame Landrou, Uraufführung mit zwei Klavieren), hat mit dem Pianisten Ludmil Angelov , einem führenden Chopin-Interpreten, ihre CD Pauline Viardot, eine Sammlung klassischer Poesie und neuer Arrangements von Chopins Mazurkas sowie weitere CDs mit Liedern von Modest Mussorgsky veröffentlicht, fördert junge Künstler, engagiert sich in der Früherziehung junger Sänger/innen (hat inzwischen selbst eine Tochter) und hat mehrere Kinderbücher herausgegeben.
[2] In Zusammenarbeit mit einem Fotoshop (aufwändige, zeitintensive Technik).
[3] Die Höllenbilder wurde lange Zeit Pieter Brueghel dem Jüngeren, dem sogenannten Höllenbrueghel, zugeschrieben. Inzwischen ordnet man diese Werke dessen Vater zu.
[4] Katina Peeva wurde 1980 in Sofia, Bulgarien, geboren, wo sie immer noch arbeitet und lebt. 2006 schloss sie ihr Studium der Szenographie am Puppentheater an der Nationalen Akademie für Theater-und Filmkunst in Sofia ab. In den folgenden Jahren arbeitete sie als Arrangeur, Illustrator, Maler und Designer, perfektionierte klassische Techniken wie Tinte, Tempera und Aquarell. Von 2009-2014 war sie als Gastdozentin an der Nationalen Akademie für Theater und Filmkunst in Sofia tätig. Seit 2009 ist sie eine 2D-Künstlerin im Bon Art Studio, Sofia, und arbeitet mit einem Fotoshop zusammen.
[5] Die Serapions-Brüder, S. 570f.
[6] Ebd., S. 573ff.
[7] Blöde hat hier die Bedeutung von ‚schüchtern‘ oder ‚scheu‘. Peevas Darstellung suggeriert die Bedeutung von ‚blöde‘ im heutigen Sinn.
[8] Ebd., S.577.
[9] Die Kinderbilder erinnern an die von Philipp Otto Runge (1777-1810), vor allem an das Gemälde von 1805/6: Die Hülsenbeckschen Kinder. Peeva ‚zitiert‘ vielfach in ihren Illustrationen. Das Tertium comparationis zwischen Runge und Peeva ist, dass sich der Betrachter mit der kindlichen Perspektive identifiziert und sich in deren Erlebniswelt versetzt. Die Kinder wirken deshalb nicht niedlich und ‚kindlich‘, sondern als eigenständige, gleichwertige Persönlichkeiten.
[10] Ebd., S.601.
[11] Ebd., S. 609f.
[12] Ebd., S. 610
[13] Ebd.
[14] Ebd., S. 614f.
[15] Ebd., S. 569